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"Bloß ein blödes Buch"

Shalom Auslander hat einen drastischen Titel gewählt, um seine drastische Lebensgeschichte zu erzählen. Es handelt sich bei "Eine Vorhaut klagt an" um einen autofiktionalen Roman, der die Wesenszüge aller Protagonisten - allen voran die eigenen Eltern - spöttisch konturiert.

Von Sigrid Brinkmann | 02.10.2008
    " In Woodstock wohnen 'ne Menge Vorhäute. Die Leute, die ich kenne, sind entweder von ihrer Familie verstoßen worden oder selber rechtzeitig abgehauen. Sie finden keinen Platz in der Gesellschaft, weil man sie nicht will oder weil sie nicht wollen. So langsam wird Woodstock aber zu einem Ort, an dem sich immer mehr wohlhabende Leute aus Manhattan tummeln, und das sind nun wirklich keine Vorhäute, sondern richtig phallische Typen. Die Leute, mit denen ich mich umgebe, fotografieren, sie schreiben, machen Musik und versuchen irgendwie, wieder auf die Beine zu kommen."

    Vorhäute, das sind für Shalom Auslander all jene, die nicht bereit sind, sich dem Joch einer fordernden und strafenden Religion oder innerfamiliären Zwängen zu beugen; die dem Druck, zu den wirtschaftlich Erfolgreichen zu gehören, nicht standhalten und es vorziehen, im Abseits zu leben. Shalom Auslander hat einen autofiktionalen Roman geschrieben, der die Wesenszüge aller Protagonisten - voran die eigenen Eltern - spöttisch konturiert. Selbstironie gehört zu den Stärken des Ich-Erzählers Shalom. Der Ton ist drastisch, ungemein witzig, obszön und blasphemisch. Und Angstphantasien werden blühend ausgeschmückt. Der Erzählstrom hat etwas Manisches. Man spürt, dass der Autor auf dünnem Grund lebt. Gefestigt in einer Ehe, doch befangen in dem Gefühl, ein verkommenes Leben zu führen - und darin keine größere existenzielle Botschaft zu entdecken. Der Schrecken lauert überall. Beim Einkaufen, auf der Tankstelle, beim Telefonieren: Immerfort drängen sich todbringende Bilder auf. Der Grund dafür ist schnell enthüllt: Schalom hat schon als Kind begonnen, Gott herauszufordern. Die Angst vor seiner Rache aber bleibt eine lebenslange Strafe.

    "Meine Beziehung zu Gott ist ein endloser Kreislauf nicht des berühmten "Glaube, gefolgt von Revolte; Besänftigung gefolgt von Gleichgültigkeit; bitte, bitte, bitte, gefolgt von scheiß drauf, fick dich, verpiss dich. Ich halte zwar die Regeln nicht ein. Aber ich bin quälend, lähmend, unrettbar, elend religiös.

    Der Vater war gewalttätig. Shalom nennt ihn einen Bastard, hat aber Mitleid, denn der Vater ist ein Außenseiter in der frommen Gemeinde. Ein jiddisch sprechender Handwerker, der keinen Rabbi als Verwandten vorweisen kann, muss sich ducken. In einer wunderbaren Szene offenbart sich das Talent des Erzählers, wesentliche Fragen zu stellen. Er schildert, wie er als Kind den Vater, der für die Synagoge einen neuen Thoraschrein fertigen sollte, zum Baumarkt begleitete, um bestelltes Holz abzuholen.

    "Wenn wir nur zehn Minuten später gekommen wären und jemand anderes diese Bretter genommen hätte? Wenn der nun eine Hundehütte daraus gebaut hätte, ein Baumhaus, ein Klohäuschen?"

    Mit derlei Fragen kappte das Kind in sich alle Ehrfurcht vor einer behaupteten Heiligkeit, die Objekten anhaften soll. Wenn auch heimlich, so beging er doch systematisch Regelbrüche. Er wehrt sich gegen die religiöse Bevormundung, in dem er in "rabbifreien Rechtecken" wie dem Freibad "Slim-Jims" Schweinefleisch aß. Die Sekunde, in der er das Geld dafür auf den Tresen legte, reichte, um mit dem Gesetz und sechstausend Jahren Tradition zu brechen. Als Jugendlicher fing er an, zu klauen. Nach einem Beutezug wurde er erwischt und zu gemeinnütziger Arbeit verurteilt. Abkürzen ließ sich die Strafe nur durch die Verpflichtung, eine religiöse Einrichtung zu besuchen.

    "Ich kam nach Hause und sagte: Mama, ich gehe nach Israel. Sie war überglücklich und suchte gleich eine spezielle Einrichtung aus, in der amerikanische Kids zu fundamentalistischen Geistesgestörten umerzogen werden. Es hat funktioniert! Nach sechs Monaten musste ich mich entscheiden, ob ich zu meiner irrsinnigen Familie zurückkehren wollte oder weiter bei denen blieb, die schon dankbar auf die Knie fielen, wenn ich nur die Kippa trug. Ich habe mir gesagt: Das ist doch ein guter Deal! Nach all den Kämpfen habe ich aufgegeben und begonnen, koscher zu essen, am Schabbat aufs Auto zu verzichten, keine Pornos mehr zu lesen - alles, damit Gott mich am Leben ließ. Das ging fast zwei Jahre lang gut. Plötzlich aber sah ich mich mit schwarzem Hut und Gebetsschal in Mea Shearim herumlaufen. Ich dachte: Was zum Teufel machst du hier? Nachts saß ich schon im Flugzeug nach New York. Und dann? Eine Hure und einen Cheeseburger - keine 24 Stunden später."

    Die "suhtun", die "böse Neigung" hatte den Autor wieder ganz in der Hand. Das begriff er sofort, als er sah, dass die Hure beim Sex seinen Jeshiva-Hut völlig zerknittert hatte. Auslanders Roman sprudelt vor grotesken Begebenheiten, die seine Versuche begleiteten, alle Gebote frommen Lebens endgültig über Bord zu werfen. Den Höhepunkt des Romans bildet die Geburt seines ersten Kindes: eines Sohnes, der unter dramatischen Umständen zur Welt kam.

    "So ist Gott. Genauso ist er mit Moses umgesprungen: Er lässt ihn das Gelobte Land sehen, und dann bringt er ihn um. Als die vier, fünf Krankenschwestern und Ärzte unseren Sohn endlich herausgeholt hatten und dann fragten, ob er beschnitten werden solle, dachte ich bloß: Wenn ich jetzt "nein" sage, dann stirbt er. Ich konnte nicht rational damit umgehen. Meine Frau war total erschöpft. So habe ich ein persönliches Arrangement getroffen. Beschneidung ja, aber ohne Rabbi und Segenssprüche. Nur ein medizinischer Eingriff, es war eine Art Lösegeld, damit Gott uns die nächsten fünfzehn Jahre in Ruhe lässt.

    "Der Augenblick, in dem mein Sohn Jude wurde”, notiert Shalom Auslander, "war der, als ich, mehr denn je in meinem Leben spürte, dass ich keiner war.” Die im Krankenhaus vollzogene, für fromme Juden nicht akzeptable Beschneidung besiegelte den Bruch des Autors mit seiner Familie. Shalom Auslander bändigt die Wut über das religiöse Beharren auf der, wie er sagt, "richtigen Verstümmelung", indem er lapidar festhält: "Die Vorhaut brachte das Fass zum Überlaufen". Sein Roman gewährt Nicht-Juden tiefe Einblicke in die lebenslange Not von Abtrünnigen. Auslander hält seinen Zorn auf die nicht abzuschüttelnde Anwesenheit des einen "Dreckskerls" - wie er Gott nennt - im Zaum durch Humor und kräftige Flüche. Ein Witz ist es nicht, wenn er am Ende des Romans darum bittet, dass Gott seine Frau, seinen Sohn und ihn selbst nicht mit dem Tod bestrafe für das, was "doch bloß ein blödes Buch" ist.

    Shalom Auslander: "Eine Vorhaut klagt an". Roman
    Aus dem Amerikanischen von Eike Schönfeld
    352 Seiten., 19,90 Euro
    Berlin Verlag