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Blut
Manuskript: Vom richtigen Maß bei Transfusionen

Blutkonserven werden von Medizinern nicht mehr immer und überall positiv bewertet. Eine Bluttransfusion, so die aktuelle Statistik, verlängert den Krankenhausaufenthalt eines Patienten im Durchschnitt um einen halben Tag und verursacht zusätzliche Kosten von knapp 700 Euro. Und häufig erhalten Patienten mehr als nur eine Bluttransfusion. Verschiedene Studien belegen außerdem, dass es in vier Prozent der Fälle zu unnötigen Komplikationen wie Nierenversagen kommen kann, bis hin zum Tod. Obwohl die schädlichen Auswirkungen von Bluttransfusionen durch internationale Studien gut belegt sind, zählt Deutschland im europäischen Vergleich zu den Spitzenreitern beim Verbrauch von Blutkonserven.

Von Kristin Raabe | 25.05.2014
    Im Haema Blutspendedienst in Frankfurt (Oder) (Brandenburg) hängt eine Blutkonserve, aufgenommen am 26.03.2014
    Blutkonserven schaden in vielen Fällen mehr als sie nützen. ( dpa-Zentralbild / Patrick Pleul)
    Im Operationsaal ist alles grün und rot. Grün die OP-Kleidung, die hier alle tragen müssen; rot das viele Blut. Es klebt an den Händen des Chirurgen, fließt durch Schläuche, sickert aus den Schnittwunden. Gerade werden hier zwei Bypässe gelegt. Während der Herzchirurg konzentriert an den Gefäßen rund um das von gelbem Fettgewebe bewachsene Herz arbeitet, hält nur die Herz-Lungen-Maschine den Patienten noch am Leben.
    Komplizierte Eingriffe wie eine Bypass-Operation erfordern mehr als nur einen geschickten Chirurgen. Ein ganzes Team muss die dabei unweigerlich auftretenden Blutungen kontrollieren und gleichzeitig den Blutkreislauf des Patienten über die Herz-Lungen-Maschine am Laufen halten.
    "Das Herz, was frisch operiert ist, je kränker, verträgt es nicht so gut viel Blutvolumen zu pumpen. Und wenn Sie dann das Problem haben, dass Sie eine starke Blutung haben, dass Sie drei Liter, vier Liter Fremdblut bekommen müssen, um überhaupt Ihren Hämoglobingehalt zu halten, da muss dieses Herz drei, vier Liter Blut mehr umsetzen und das ist immer sehr schädlich und das kann dann stellenweise auch dazu führen, dass der Patient es dann nicht schafft, die Blutung so groß ist und dann irgendwann der rechte Ventrikel aussteigt, dann kann man zwar noch viel Therapie machen, aber am langen Ende heißt es dann, dass der Patient stirbt."
    Stephan Sixt leitet die Anästhesie an der herzchirurgischen Abteilung der Universitätsklinik Düsseldorf. Er konnte nicht mehr mit ansehen, wie immer mal wieder Patienten nach eigentlich gelungenen Operationen starben – bloß weil ihr schwaches Herz mit den zusätzlichen Bluttransfusionen nicht klar kam. Aber wie sollte er das Problem lösen? Damit das Blut des Patienten in der Herz-Lungen-Maschine nicht verklumpt, erhält der Patient Heparin. Die Substanz blockiert die Blutgerinnung. Ohne Gerinnung aber blutet ein Patient stärker. Diesen Blutverlust auszugleichen gebietet eigentlich schon der gesunde Menschenverstand.
    Gert Antes: "Also ganz grundsätzlich ist dem gesunden Menschenverstand in der Medizin nicht zu trauen. Das, was nach gesundem Menschenverstand plausibel ist, also das, was man meint eigentlich sofort machen zu können, ohne es zu prüfen, ist oft tatsächlich schädlich."
    "Die Epileptiker trinken das Blut der Gladiatoren, wie aus lebenden Bechern, in dem sie aus dem Kuss der Wunden die lebendige Seele aussaugen." Dieser Bericht des römischen Schriftstellers Plinius beschreibt eine gängige Therapie gegen Epilepsie. Weil die Ärzte die Ursache der Krankheit in einer Blutarmut des Gehirns sahen, schien Ihnen das Trinken von Blut eine geeignete Heilmethode zu sein. Waren keine Gladiatoren verfügbar, kam auch das Blut von frisch getöteten Lämmern und Tauben zum Einsatz.
    "Blut ist komplexestes Behandlungsmittel"
    Zu jeder Zeit agieren Ärzte auf Basis des verfügbaren Wissens. Wenn es neue Erkenntnisse gibt, dauert es meist viel zu lange, bis der Fortschritt in der Praxis ankommt. Dafür ist gerade der Umgang mit Blut- und Blutprodukten in deutschen Krankenhäusern ein gutes Beispiel. In den letzten Jahren haben vor allem Studien aus Australien gezeigt, dass Blutkonserven schädlich und unerwartet teuer sein können. In Zahlen: Eine Bluttransfusion verlängert im Durchschnitt den Krankenhausaufenthalt eines Patienten um einen halben Tag und verursacht zusätzliche Kosten von knapp 700 Euro. Und häufig erhalten Patienten mehr als nur eine Bluttransfusion. Die australischen Studien belegen außerdem, dass es in vier Prozent der Fälle zu unnötigen Komplikationen wie Nierenversagen kommen kann, bis hin zum Tod.
    "Der Ausgangspunkt ist, dass Blut als Therapeutikum das komplexeste Behandlungsmittel ist, was man sich überhaupt vorstellen kann. Eigentlich ist es eine unangemessene Therapie. Wir kommen hier schon in die Nähe einer Transplantation, mit allen Implikationen, die dahinter sind. Es gibt allergische Reaktionsmöglichkeiten, Unverträglichkeitsreaktionen und es gibt auch noch andere Möglichkeiten von, wenn man so möchte, Unverträglichkeiten, die wir heute noch gar nicht kennen."
    Till Hoffmann ist Gerinnungsphysiologe und arbeitet an der Universitätsklinik Düsseldorf eng mit dem Anästhesisten Stephan Sixt zusammen. Gemeinsam haben die beiden etliche Studien zum Thema Bluttransfusionen durchgearbeitet. Die Ergebnisse waren eindeutig: Eine Bluttransfusion kann wie eine Organtransplantation wirken und das Immunsystem des Empfängers mobilisieren. Und das gilt nicht nur für sogenannte Vollkonserven, die sämtliche Blutbestandteile enthalten. Sie werden heute sowieso nur noch sehr selten verabreicht. Aus dem Blut der Spender entstehen vielmehr Blutprodukte. Meistens sind Erythrozytenkonzentrate gemeint, wenn heute von "Blutkonserven" die Rede ist. Sie enthalten die roten Blutkörperchen, die unter anderem für den Sauerstofftransport verantwortlich sind. Die "Thrombozytenkonzentrate" bestehen aus Blutplättchen. Und dann gibt es noch das "Blutplasma", das gar keine Blutzellen mehr enthält, sondern lediglich den flüssigen Anteil des Blutes und die darin gelösten Proteine. Um die Risiken zu reduzieren, haben die Düsseldorfer Ärzte zunächst mit dem Kardiotechniker Gerrit Paprotny einige Änderungen an der Herz-Lungen Maschine besprochen
    "Das ist jetzt unsere Maschine im Einsatz. Das ist gerade eine KHK – also eine koronare Herzerkrankung."
    Nicht ohne Stolz zeigt Paprotny seine Herz-Lungen-Maschine: Ein Gewirr aus Schläuchen fällt zuerst auf, nur durch einige fließt Blut. Manche führen zu einem Reservoir in dem sich Blut sammelt. Der untere Teil besteht aus vier metallenen Kästen mit digitalen Anzeigen, in einem dieser Kästen ist von oben eine sich drehende Pumpe zu erkennen.
    "Die Maschine ist soweit konzipiert, dass man das auf ein Minimum an Schlauchlänge reduziert hat. Damit man ein sehr geringes Priming der Herz-, Lungen- Maschine erreicht."
    Mit Priming ist die Befüllung der Herz-Lungen-Maschine gemeint. Weil das Blut des Patienten einen Umweg über die Herz-Lungen-Maschine nehmen muss, wird es normalerweise mit Kochsalzlösung und verschiedenen anderen Substanzen aufgefüllt. Derart verdünnt muss das Blut dann durch Erythrozytenkonzentrate angereichert werden. Wenn die Schläuche aber kürzer sind, ist der Umweg für das Blut nicht so groß und die Maschine kann mit dem Blut des Patienten befüllt werden.
    Paprotny: "Hier war früher auch ein dickerer Schlauch dran. Den haben wir auch vom Volumen vom Durchmesser her reduziert, so dass das Volumen dadurch schon mal reduziert worden ist, wir erreichen aber dieselbe Geschwindigkeit des Blutes, indem wir hier ein Vakuum auf dem Reservoir drauf haben und dadurch ist das schon mal reduziert worden."
    "Blutet die Wunde nach der Verletzung, so ist es gut, etwas Blut abfließen zu lassen, um den Körper und das betroffene Glied zu entlasten, und wenn nicht genügend ausgeflossen ist, so ist es zweckmäßig am anderen Tag, je nach der Vollblütigkeit und dem Kräftezustand der Patienten, einen Aderlass vorzunehmen", heißt es in einem Text aus dem 16. Jahrhundert. Noch 300 Jahre später praktizierten Ärzte den Aderlass aus dem Glauben heraus, "schlechtes Blut" könne sich in den Gliedern stauen und dort "verderben".
    "Also damit hat man vermutlich Hunderttausende umgebracht und zwar im gesellschaftlichen Konsens, auch im Konsens zwischen Arzt und Patient, jahrzehntelang hat niemand daran gezweifelt."
    Gert Antes leitet das deutsche Cochrane Zentrum, es vertritt im deutschsprachigen Raum die sogenannte Cochrane Collaboration, einen internationalen Zusammenschluss von Ärzten und Wissenschaftlern, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, vorhandene medizinische Studien auszuwerten und gebündelt zur Verfügung zu stellen. Was Antes bei seiner Arbeit am meisten behindert: Nicht wenige Mediziner veröffentlichen ihre Studienergebnisse erst gar nicht, und auch das sei extrem gefährlich:
    "Eine der ganz großen Katastrophen, wo ein Mittel gegen Herzrhythmusstörungen dann auch gegen akuten Herzinfarkt eingesetzt wurde, und dann hat es – und auch das ist leider typisch – es circa 15 Jahre gedauert, bis der erste Verdacht, dass man damit Unheil anrichtet, so gut belegt wurde, dass man damit endlich aufhören konnte. Da gibt es ein geflügeltes Wort dazu in den USA, dass durch den Einsatz dieses Medikaments nach akutem Herzinfarkt pro Jahr mehr Patienten getötet worden sind als im Vietnamkrieg."
    Der Nachweis, dass dieses Mittel für Herzinfarktpatienten gefährlich ist, wurde bereits 1980 geführt, aber jahrelang nicht veröffentlicht.
    Stephan Sixt: "Es gibt ganz viele Studien, die schon gemacht worden sind. Es gibt ganz viele kluge Köpfe, die sich schon Gedanken gemacht haben, wie können wir Patientenversorgung optimieren."
    Dennoch ist es nicht immer einfach, wissenschaftliche Erkenntnisse in einem Großklinikum umzusetzen.
    "Unsere Aufgabe und unser Ziel ist es, die bestmögliche Behandlung für jeden Patienten, und die bestmögliche Behandlung auch in der Herzchirurgie heißt, kein Fremdblut, also dass der Patient normal in die OP reingeht und genauso oder sogar besser aus der OP rausgeht."
    Verbesserungen im OP brauchen viel Zeit
    Mit den Änderungen an der Herz-Lungen-Maschine sind Stephan Sixt und die anderen im Team ihrem Ziel schon ein Stück näher gekommen. Der Kern ihres Programms aber ist ein anderer. Mit neuen modernen Geräten messen sie vor, während und nach der Operation die Gerinnungsfähigkeit des Blutes. Denn davon ist wesentlich abhängig, wie stark ein Patient blutet und ob er mit einem der verfügbaren Blutprodukte oder einem Gerinnungsfaktor behandelt werden muss. Verantwortlich für die Messung ist der Gerinnungsphysiologe Till Hoffmann:
    "Wir haben in Deutschland die fantastische Situation, dass wir sehr viele Einzeltherapeutika haben. Das heißt wir haben von den Blutspendern, die roten Blutkörperchen als Konzentrate, die Erythrozytenkonzentrate, aus einer Blutspende wird aber auch Blutplasma gewonnen. Aus einer Blutspende, werden auch Thrombozyten, die Blutplättchen, gewonnen. Darüber hinaus, haben wir Konzentrate, die dann von der Pharmazeutischen Industrie aus Blutplasma hergestellt werden, wo dann in konzentrierter Form nur einzelne Eiweiß-, Gerinnungskomponenten enthalten sind. Das heißt, wir können auf die Fibrinogenfunktion gucken, auf die Blutplättchenfunktion gucken und danach einzeln entscheiden: Muss therapiert werden, ja oder nein."
    Im OP hat die Schwester gerade eine Blutprobe per Rohrpost ins Labor geschickt. Vorher haben sie die diensthabende MTA Susanne Rehder informiert und sie hat die Geräte vorbereitet. In einem Fach der Maschine befinden sich farblich markierte Gläschen mit verschiedenen Reagenzien. Auf dem Display erscheinen Angaben, die ihr genau vorgeben, welches Reagenz sie als nächstes in die Blutprobe pipettieren soll.
    "Also er sagt, ich soll zuerst das rote Reagenz pipettieren. Das ist sogar eine elektronische Pipette, die weiß genau welche Volumina sie aufziehen muss."
    Dann das braune Reagenz und dann die gemischte Blutprobe, und es ist unzentrifugiert - also Vollblut. Müssten die MTAs das Blut vor der Analyse erst zentrifugieren, würde viel zu viel Zeit vergehen. Die neuen Geräte hat die Uniklinik extra für das Projekt angeschafft. Schon nach wenigen Minuten erscheint eine Grafik auf dem Display, die ein wenig aussieht wie ein Wurstzipfel.
    Hoffmann: "Das kann man hier jetzt schon sagen, dass dieser Patient sicher kein Fibrinogen, das ist eines dieser x, dass er jetzt hier kein Problem hat, und insofern würde man, wenn jetzt hier keine speziellen anderen Umstände hinzu kommen, würde er sicherlich keine Substitution, also keine Therapie mit Fibrinogenkonzentrat benötigen. Das können wir hier jetzt schon nach vier Minuten und zehn Sekunden mit Sicherheit sagen."
    Die Geräte, die es erlauben, die Gerinnungsfunktionen im Blut zu testen, sind erst seit wenigen Jahren auf dem Markt. Sie sind bislang nur in wenigen von den Herstellern finanzierten Studien getestet worden. Deswegen trauen manche Mediziner ihren Analysen noch nicht. In dem Projekt von Till Hoffmann und Stephan Sixt soll sich auch zeigen, wie gut diese Geräte tatsächlich sind. Viele Kollegen warten mit Spannung auf ihre Ergebnisse, denn industriefinanzierte Studien haben sich immer wieder als trügerisch erwiesen.
    Der Anästhesist Joachim Boldt galt lange als einer der erfolgreichsten Ärzte seiner Zunft. Er führte weltweit die meisten Studien zum künstlichen Plasmaersatz HES durch. Dafür erhielt er von den Herstellerfirmen eine großzügige Unterstützung. HES wird Schwerverletzten oder bei Operationen als Blutersatz gegeben. Allein mit dem HES-Produkt der Firma Fresenius Kabi wurden bereits mehr als 30 Millionen Menschen in 70 Ländern behandelt. In den industriefinanzierten Studien von Joachim Boldt kamen die HES-Produkte erstaunlich gut weg. Dass all dies auf einem gewaltigen Betrug beruhte kam erst 2010 heraus. Eine unabhängige dänische Studie lieferte den Beweis: HES schadet mehr als dass es nützt. Den Patienten ist mit einer einfachen und kostengünstigen Salzlösung viel besser geholfen.
    Gert Antes: "Wenn die Studien eigentlich die Handlungsanleitung geben, dann müsste ja alles in Alarmstimmung sein, wenn ich jetzt sehe, dass die Handlungsanleitung gefälscht ist. Und im Fach war die Reaktion auf diesen speziellen Fall eher lau. Das heißt, die empörte Situation war überhaupt nicht da und an vielen Stellen wurde versucht den echten Skandal herunterzureden.
    Die Bypass-Operation nähert sich nach gut drei Stunden ihrem Ende. Die OP-Schwester hat mehrfach über die Rohrpost Blutproben ins Gerinnungslabor geschickt. Gerade nimmt sie die letzte Blutprobe ab.
    "Darf ich die Lunge schon wieder rannehmen"
    "Ist ein bisschen zuviel, 70 nicht 90, ich habe die Aorta ja noch nicht rausgeklemmt."
    Stephan Sixt: "Man macht sich jetzt so einen Eindruck, wie so die Pumpfunktion von dem Patienten ist. Das Gute an der Herzchirurgie ist, wenn Sie über das Tuch gucken, Sie können eigentlich schon sehen, wie sich das Herz macht, wie die Pumpfunktion ist."
    "Maschine steht."
    "Maschine steht."
    "Zwei oder drei"
    "So, jetzt können wir auswerfen lassen, auswerfen lassen."
    Stephan Sixt: "Jetzt wird dem Herz ein bisschen Blut angeboten und dann können sie sehen, wie die Pumpfunktion ist. Sie sehen das dann an der roten Kurve. 71 zu 52."
    Stephan Sixt deutet auf einen Monitor, der den Blutdruck anzeigt.
    "An der Maschine sind das gute Werte. Er kontrolliert jetzt die Bypässe, ob da Flüsse drauf sind. Macht Flusssensor drauf und misst mal wieviel Blut geht in die Bypässe rein."
    Im OP-Saal richten jetzt alle den Blick auf die Anästhesistin, die den Monitor fixiert, auf dem gemessen wird, wieviel Blut durch die vom Chirurgen operierten Gefäße hindurchfließt.
    "33, 40, 46, 47."
    "Das sieht doch gut aus."
    "Sieht gut aus."
    "So jetzt kommt die Vena Marginalis ein."
    "Vena Marginalis ein"
    "38, 46, 52"
    Stephan Sixt: "Das heißt, er ist mit dem Operationsergebnis zufrieden."
    Chirurg: "Sehr zufrieden!"
    Sixt: "Da wird jetzt kein Problem mehr sein. In dem Bereich, wo das Gefäß den Herzmuskel versorgt, werden wir kein Problem mehr haben, weil da jetzt genügend Blut über den Bypass fließt. Jetzt reduziert sie, die Herz-Lungen-Maschine."
    Ein Rest von Anspannung ist Stephan Sixt anzumerken. Immer wieder kontrolliert er sein Telefon: Er wartet auf einen Anruf aus dem Gerinnungslabor.
    "So jetzt sind wir von der Herz-Lungen Maschine ab. Das restliche Volumen, was jetzt noch in der Maschine ist, wird jetzt in den Patienten gefahren. Gleich wird dieser geriffelte Schlauch abgenommen und dann kann das Volumen, was da noch drin ist. Von da aus geht es in den Patienten, dass wir also jeden einzelnen Milliliter, den wir noch rausholen können, in den Patienten kriegen."
    Sixt, telefonierend: "Letzter HB ist 9, also piano. Perfekt, machen wir. Der braucht nix, Mario. Die Analyse ist fertig, Herr Hoffmann hat das Blut jetzt analysiert, wir brauchen keine Blutgerinnung machen."
    Bei dieser OP hat das Team sein Ziel erreicht: Der Patient benötigte keine fremden Blutprodukte. Der Anästhesist hat im Verlauf des letzten Jahres viel Überzeugungsarbeit bei seinen Kollegen leisten müssen. Aber vor allem musste er sich selbst zum Umdenken zwingen:
    Paradigmenwechsel bei Transfusionen
    "Das ist der Paradigmenwechsel, dass wir in die Funktion gehen bei unseren Gerinnungsanalysen, also auch im Kopf eine Umstellung machen, dass wir sagen: 'Ein HB von 8 reicht aus.' Wenn Sie Anästhesist sind, glaube ich, ist das vielleicht eher nachvollziehbar, wie schwierig das manchmal ist. Wenn Sie die ganze Zeit die Zielgröße 10 haben und jetzt ist sie 8, das sind Welten."
    Gerd Antes: "Die Stabilisierung, dass man an dem Bekannten festhält... Es gibt auch, glaube ich, sehr starke psychische Faktoren... Das ist ein Grund dafür, warum Änderungen, die eigentlich sofort erfolgen müssten, im Mittel zehn bis 15 Jahre brauchen."
    Gerd Antes hat es sich zur Aufgabe gemacht, diesen Zeitraum zu verkürzen. Allerdings sind seine Möglichkeiten begrenzt. Schließlich ist es in erster Linie die Aufgabe der Bundesärztekammer, Leitlinien zu verfassen, an denen sich das ärztliche Handeln orientieren sollte:
    "Da ist das nächste Krisengebiet, weil die Finanzierung von klinischen Leitlinien in Deutschland äußerst schlecht geregelt ist. Das heißt, es gibt keinerlei bereitstehende Etats oder Budgets. Das ist eher ein spontanistisches Prinzip, dass sich Ärzte aus diesem Fachgebiet finden, die auch ein wissenschaftliches Interesse haben, und dann diese Leitlinien formulieren, aber es gibt keinen geregelten Ablauf dabei."
    Letztlich hängt es in Deutschland meistens an dem Engagement einzelner Ärzte. Sie müssen sich über neue Entwicklungen in ihrem Fachgebiet informieren und diese Erkenntnisse in ihrer klinischen Praxis anwenden. Die Leitlinien können dabei helfen. In ihnen sind übrigens bereits seit 2008 neue Grenzwerte für den sogenannten HB-Wert angegeben. Dieser Wert gibt den Gehalt des roten Blutfarbstoffs Hämoglobin an. Ist er zu niedrig, kann das Blut nicht genug Sauerstoff transportieren. Dass nun niedrigere Grenzwerte für den HB-Wert in den Leitlinien stehen, heißt aber noch lange nicht, dass sich alle Ärzte an diese neuen Werte halten. Am Universitätsklinikum Bonn hat der Anästhesist Georg Baumgarten gerade eine Schulung zu genau diesen Leitlinien für das Klinikpersonal organisiert.
    "Leitlinien sind nicht hundertprozentig verpflichtend. Da gibt es Empfehlungsgrade, die eine relativ starke Empfehlung ausspricht und dann gibt es Empfehlungsgrade, die sagen: 'Naja , es kann sein, dass das hilft.' So sieht das bei diesen Leitlinien eben aus. Schlussendlich ist es von der Qualifikation des Arztes abhängig, seinen Patienten so zu untersuchen und nachher einzuschätzen und dann zu sagen: Na, der passt auf die Leitlinie oder nicht. Patienten sind ja alle sehr unterschiedlich."
    "Die Transfusion wird ein Segen werden in der Hand des Arztes und manches Leben wird er hoffentlich zu kräftigen, zu erhalten im Stande sein. Vielleicht ist die Zeit nicht mehr fern, in welcher wir der Tuberkulose, dem Krebs, der Syphilis werden ein gebietendes Halt zurufen können." Dieser Text, der 1874 in der "Wiener Medizinischen Wochenschrift" erschien, behandelt nicht die Bluttransfusion von einem Menschen zum anderen. Hier geht es um die Transfusion von Lämmern auf den Menschen. Das Verfahren war zeitweise sehr in Mode - auch wenn es dabei immer wieder zu Todesfällen kam. Erst vor rund 100 Jahren, am 27. März 1914 führte der belgische Arzt Albert Hustin die erste Bluttransfusion aus einer Flasche durch. Durch Zugabe von Citrat war es ihm gelungen das Blut haltbar zu machen. Seine Entdeckung hat ohne Zweifel schon viele Leben gerettet. Jeder, der kann, sollte auch in Zukunft den Aufrufen der Blutspendedienste folgen. Denn es ist bereits absehbar, dass Blut in Zukunft noch kostbarer werden wird, als es heute bereits ist. Georg Baumgarten:
    Demographie diktiert Umdenken
    "Das ist sicherlich, dass wir mit einer wandelnden Demographie wahrscheinlich weniger Spender in der Zukunft haben werden und möglicherweise mehr Empfänger. Man muss schon davon ausgehen – und diesen Effekt sehen wir auch aktuell schon, dass wir immer mehr Schwierigkeiten haben Blutprodukte zu bekommen und diese Blutprodukte dann entsprechend auch teurer werden. Das heißt es ist auch gesundheitsökonomisch und gesellschaftlich von Interesse, die Anzahl von Transfusionen zu reduzieren."
    Georg Baumgarten ist mit der Universitätsklinik Bonn Teil eines größeren Projekts, bei dem an vier deutschen Universitätskliniken Bluttransfusionen eingespart werden sollen. Er will Kontakt mit den Düsseldorfern aufnehmen, um möglicherweise von ihren Erfahrungen zu lernen. Die haben durch das ständige Kontrollieren der Gerinnungsfunktion bei ihren Patienten nicht nur Blutprodukte eingespart, durch ihre Messungen lernen sie ständig etwas Neues über die Fähigkeit des menschlichen Organismus, seine Blutgerinnung der jeweiligen Situation anzupassen.
    "Wir haben riesige Lerneffekte gehabt, dass wir sehen, dass selbst Patienten mit einer schlechten Thrombozytenzahl an der Herz-Lungen-Maschine plötzlich Thrombozyten ausschwemmen und nach der OP wesentlich besser sind als vor der OP, was ja eigentlich ein Paradoxon ist, weil eine Herz-Lungen-Maschine für die Gerinnung per se erst einmal schlecht ist. Mit diesen Lernkurven, die wir selbst gemacht haben, die gehen natürlich auch in die Therapie, in die Therapieempfehlungen ein."
    Solche Beobachtungen standen bislang noch in keiner Studie. Die Düsseldorfer wollen das Phänomen in einer Kooperation mit Grundlagenforschern näher untersuchen.
    "Das ist nicht selbstverständlich. In vielen Fachdisziplinen, gerade an der Uni, das ist so: Mein Körbchen, das ist dein Körbchen, und keiner guckt so über den Tellerrand. Und dieses Projekt hat dazu geführt, dass man eigentlich eine schöne interdisziplinäre Zusammenarbeit hat."
    Dieser Auffassung ist auch der Chef der Abteilung, der Herzchirurg Artur Lichtenberg:
    "Wenn ich von Dr. Hoffmann erfahre über Dr. Sixt, dass da mit der Gerinnung alles OK ist, labortechnisch, dann fange ich natürlich an zu überlegen, wo kann es noch bluten rein chirurgisch, da ist man schon sensibilisiert. Wo man sonst sagen würde: 'Ah, das liegt an der Gerinnung.'"
    Till Hoffmann: "Das dritte Eck ist außerhalb des OPs. Ich kriege alle Eure Sorgen und Troubles, die kriege ich nicht mit. Mir spritzt das Blut nicht ins Gesicht. Und ich erschrecke auch nicht davor. Ich würde fürchterlich erschrecken, aber das tue ich nicht. Das muss ich auch nicht. Ich nehme einen ganz kühlen Standpunkt ein."
    Spannend wird es im Team vor allem dann, wenn sich der Chirurg sicher ist, dass er alle Blutgefäße dicht verschlossen hat und die Laborwerte anzeigen, dass die Gerinnung in Ordnung ist, trotzdem aber immer wieder Blut in das Operationsgebiet eindringt.
    Hoffmann: "Wir haben sehr viel gelernt aus diesen konkurrierenden Situationen. Die Welt ist nicht so schwarz-weiß. Wir glauben inzwischen, dass, wenn tatsächlich nach optimaler chirurgischer Blutstillung und nach ausreichender Hämotherapie eine Blutung immer noch anhält, dass das ein Hinweis sein kann darauf, dass es noch einen dritten Blutungstyp gibt."
    Till Hoffmann vermutet, dass diese Blutung auf eine bislang kaum erforschte Komponente des Gerinnungssystems zurückzuführen ist: das sogenannte Endothel. Damit bezeichnen Mediziner die innere Auskleidung der Blutgefäße. Die Endothelzellen beeinflussen ebenfalls die Blutgerinnung.
    Neuer Ansatz spart Blutkonserven
    Schon jetzt haben die Düsseldorfer mehr erreicht, als einfach nur ein paar Blutkonserven weniger zu transfundieren. Allerdings kann sich auch diese Bilanz sehen lassen: Bei ihren 1350 Patienten konnten sie erhebliche Mengen einsparen: 40 Prozent Erythrozytenkonzentrate, fast 60 Prozent Frischplasma und fast 30 Prozent Thrombozytenkonzentrate. Aufs Jahr gerechnet ergeben sich da finanzielle Einsparungen im Bereich von etwa 1,2 Millionen Euro. Auch bei der Gabe von Gerinnungsfaktoren haben die Düsseldorfer Einsparungen im siebenstelligen Bereich vorzuweisen. Bei einem Vergleich von acht europäischen Ländern ist Deutschland unrühmlicher Spitzenreiter. 2012 wurden im Mittel etwa 50 Prozent mehr Erythrozytenkonzentrate als in Großbritannien verabreicht, wobei auch den Briten noch Einsparpotenzial bescheinigt wird. Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass in deutschen Krankenhäusern etwa doppelt soviel Blut verabreicht wird, wie für Patienten gut ist. Denn auch diese Beobachtung haben die Düsseldorfer Ärzte gemacht: Ihre Patienten erholen sich jetzt nach herzchirurgischen Eingriffen schneller, sie benötigen weniger Beatmungszeit und haben seltener Komplikationen.
    Stephan Sixt: "Es ist durchaus vorstellbar, dass die Erlöse dadurch weniger werden. Also, dass man Dinge einspart auf der einen Seite, dass die Patientenversorgung viel, viel besser wird, aber man am anderen Ende dasteht und sogar Miese macht. Das ist ein System, das schon Fragen aufwirft."
    Weil die Patienten weniger lange im Krankenhaus bleiben und ihre Genesung mit weniger Komplikationen verläuft, gelten andere Fallpauschalen. Und das reduziert die Einnahmen. Deshalb mussten Stephan Sixt und seine Kollegen auch einen harten Konflikt mit der Verwaltung des Uniklinikums durchstehen, die aus finanziellen Gründen das Projekt zeitweise nicht fortführen wollte.
    "Das hat so einen Einfluss auf so viele Arbeitsabläufe. All diese Leute, meine eigenen Leuten, mich selbst überzeugen, das war ein Riesenaufwand."