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Yaa Gyasi "Heimkehren"
"Es geht um das Erbe der Sklaverei"

Das immer wieder aufflammende Thema Rassismus in den USA schlägt sich verstärkt auch in der Gegenwartsliteratur nieder. So auch in Yaa Gyasis Roman "Heimkehren". Die Autorin erzählt sorgfältig recherchiert eine Geschichte der Sklaverei, die zwar größtenteils in der Vergangenheit spielt, aber eigentlich von der Gegenwart handelt.

Von Antje Deistler | 29.11.2017
    Der Roman der US-amerikanischen Schriftstellerin Yaa Gyasi ist keine autobiografische Spurensuche
    Der Roman der US-amerikanischen Schriftstellerin Yaa Gyasi ist keine autobiografische Spurensuche (imago/LeonardoxCendamo/Leemage)
    "Die Idee zu 'Heimkehren' kam mir, als ich das Cape Coast Castle in Ghana besichtigte. Der Fremdenführer erzählte, dass die britischen Soldaten, die dort stationiert waren, oft die einheimischen Frauen heirateten. Davon hatte ich noch nie gehört. Und dann zeigte er uns die Verliese, in denen andere Afrikanerinnen eingesperrt wurden. Dieser Gegensatz von freien Frauen oben und Sklavinnen unten hat mich zu der Geschichte inspiriert.
    Die Festung Cape Coast Castle, von der Yaa Gyasi erzählt, liegt an der Küste von Ghana. Von hier aus regierten die britischen Kolonialherren im 17. und 18. Jahrhundert die Goldküste, wie die Region damals hieß, und von hier aus verkauften sie auch Menschen in die Sklaverei nach Amerika. Der Roman der in Ghana geborenen und in Amerika aufgewachsenen Schriftstellerin Yaa Gyasi beginnt vor 250 Jahren mit den beiden Halbschwestern Effia und Esi. Effia wird an den Gouverneur verheiratet und führt ein bequemes Leben als offizielle Zweitfrau. Esi dagegen landet zuerst im Kerker, dann in der Sklaverei in Amerika.
    "Die Soldaten ließen sie zu einem offenen Tor marschieren, das auf Sand und Wasser hinausführte, und dorthin gingen sie. Als Esi an ihm vorbeikam, sah sie der Gouverneur an und lächelte. Es war ein freundliches Lächeln, mitleidig, aber ungeheuchelt. Doch wenn Esi ein Lächeln auf einem weißen Gesicht sah, dachte sie für den Rest ihres Lebens daran, wie der Soldat sie angelächelt hatte, bevor er sie in sein Quartier geführt hatte. Lächelnde weiße Männer bedeuteten nur, dass mit der nächsten Woge mehr Böses über sie hinwegrollen würde."
    Nicht die eigene Familiengeschichte
    Yaa Gyasi verfolgt das Schicksal der Nachkommen dieser zwei Frauen auf beiden Seiten des Atlantiks über die verschiedenen Generationen bis heute. Die Geschichte erinnert an "Roots" von Alex Haley. Doch anders als Haley betreibt Yaa Gyasi hier keine autobiografische Spurensuche, wie sie versichert.
    "Nein, 'Heimkehren' beruht nicht auf meiner eigenen Familiengeschichte. Ich wusste von Anfang an, dass das Buch dann etwas ganz anderes geworden wäre, eine anthropologische oder ethnologische Studie vielleicht. Ich wollte aber fiktional schreiben."
    Obwohl der Roman zum größten Teil in der Vergangenheit spielt, handelt er eigentlich von der Gegenwart. 250 Jahre - das wird klar - sind gar nicht so lang. Nur sechs Generationen liegen zwischen der Vorfahrin Esi, die in die US-amerikanischen Südstaaten verschleppt wurde, und den jungen schwarzen Amerikanerinnen und Amerikanern in Gyasis Alter.
    "Für mich war es wichtig, dass mein Buch in der Gegenwart endet, ich wollte, dass es um das Erbe der Sklaverei geht, nicht um Sklaverei an sich. Die hat uns etwas hinterlassen, das ist nicht nur passiert und war dann vorbei. Es beeinflusst alles, was danach kam. Der Zeitrahmen von 'Heimkehren' erlaubt mir, hoffe ich, auf besondere Weise über Sklaverei zu sprechen und zu zeigen: Wir sind noch mittendrin in diesem Befreiungskampf."
    Sechs Generationen, sechs Stationen in der amerikanischen Geschichte, die von Gefangenschaft und Folter handeln, von Flucht, erneuter Unterwerfung und Zwangsarbeit, später von Armut, Verelendung und Kriminalisierung in den modernen Großstädten, und schließlich von sozialem Aufstieg durch Bildung. Jedes Kapitel beleuchtet nur einen bestimmten Lebensabschnitt der jeweiligen Charaktere. Yaa Gyasi zeichnet Momentaufnahmen. Und macht damit die Geschichte in ihrer Gesamtheit umso greifbarer. Jede ihrer Figuren ist vielschichtig und glaubwürdig. Wie Kojo, genannt Jo, der als Sohn entlaufener Sklaven in Freiheit lebt, dessen kleine Tochter aber von den vergangenen Qualen zu wissen scheint.
    "Im anderen Zimmer begann Beulah, im Schlaf zu wimmern. Das Kind litt unter Albträumen. An diesem Abend schaute Jo nach ihr und sah, dass sich die Beine des kleinen Mädchens bewegten: Es zog immer wieder die Knie an und schlug aus. Beulah rannte. Vielleicht fing es hier an, dachte Jo. Vielleicht sah Beulah in den Nächten, in denen sie träumte, bestimmte Dinge klarer, ein kleines schwarzes Kind, das im Schlaf gegen einen Gegner kämpfte, den es am nächsten Morgen nicht benennen konnte, denn am helllichten Tag sah dieser Gegner aus wie alle anderen Menschen. Das nicht fassbare Böse. Unaussprechliche Ungerechtigkeit. Beulah rannte im Schlaf, rannte, als hätte sie etwas gestohlen. Ja, dachte Jo, hier fing es an, aber wann und wo endete es?"
    "Ein schreckliches, brutales, beängstigendes Thema"
    Das Trauma vererbt sich bei Yaa Gyasi durch die Generationen. Auch auf der afrikanischen Seite der Familie, auf der ein Fluch zu lasten scheint. In diesen, den anderen Teil von "Heimkehren", lässt Gyasi einiges an magischem Realismus einfließen – ein Erzählmittel, mit dem sie mitunter puren Aberglauben beschreibt. Auch bleibt es der Interpretation überlassen, ob die Geister, die unter anderem Effias Enkelin Akua plagen, real sind, oder ob sie doch eher unter geistiger Verwirrung leidet.
    "Anderen Menschen gegenüber war Akua misstrauisch, und die einzigen, die ihr Freude machten, waren ihre Kinder. Niemand verhöhnte sie, wenn sie lange Spaziergänge mit ihren Kindern machte. Sie stritten nicht mit ihr, wenn sie einen Stock für eine Schlange hielt oder Essen verbrannte. Wenn sie ,verrückte Frau' flüsterten, dann nur hinter Nana Serwahs Rücken, denn wenn die Frau sie hörte, dann hielt sie ihnen einen Standpauke, die fast so schmerzte wie Schläge."
    Das alles klingt tieftraurig. Doch Yaa Gyasi gelingt mit "Heimkehren" das Kunststück, über ein schreckliches, brutales, beängstigendes Thema zu schreiben, aber so, dass man sich glänzend unterhalten fühlt. Was beim Lesen beinahe ein schlechtes Gewissen erzeugt. Die junge Literaturwissenschaftlerin und Stanford-Absolventin kann daran nichts Verwerfliches finden.
    "Man liest doch jedes Buch aus Vergnügen. Manche Menschen, weil sie einen schönen, lyrischen Satz zu schätzen wissen, andere, weil ihnen der Plot Spaß macht und wieder andere, weil sie beim Lesen etwas lernen. Ich wollte all das in meinem Buch ausbalancieren. Ich wollte etwas schreiben, das leicht und unterhaltend zu lesen ist, aber auch schön, obwohl man dabei auch etwas über die Geschichte lernt, die nun mal schrecklich war."
    Das ist Yaa Gyasi mit ihrem zu Recht gefeierten Debüt gelungen. "Heimkehren" ist ein tief beeindruckendes und gleichzeitig federleichtes Stück Literatur geworden. Am Ende gibt es zwar keine Versöhnung, aber trotz allem einen Funken Hoffnung.
    Yaa Gyasi: "Heimkehren".
    Aus dem Amerikanischen Englisch von Anette Grube.
    Dumont Verlag, Köln. 416 Seiten, 22 Euro.