Donnerstag, 28. März 2024

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Böhmermann-Klage stattgegeben
"Merkel hat ein falsches Signal gesetzt"

Mit der Entscheidung, Ermittlungen auf Basis des umstrittenen Paragrafen 103 zu erlauben, sei Bundeskanzlerin Angela Merkel vor dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan eingeknickt, sagte der SPD-Politiker und Jurist Johannes Kahrs im DLF. In der Sache halte er dieses Vorgehen für "schlichtweg falsch". Damit würde das mögliche Strafmaß um das drei- oder vierfache in die Höhe geschraubt.

Johannes Kahrs im Gespräch mit Martin Zagatta | 16.04.2016
    Johannes Kahrs, Sprecher des Seeheimer Kreises in der SPD, spricht am 25.09.2013 im Reichstag in Berlin nach einer Sitzung der SPD-Bundestagsfraktion mit Journalisten.
    Johannes Kahrs, Sprecher des Seeheimer Kreises in der SPD, spricht am 25.09.2013 im Reichstag in Berlin nach einer Sitzung der SPD-Bundestagsfraktion mit Journalisten. (dpa / picture alliance / Maurizio Gambarini)
    Eine inhaltliche strafrechtliche Ermittlung gegen den ZDF-Satiriker Jan Böhmermann hätte es auch ohne die Entscheidung Merkels gegeben, da Erdogan bereits einen persönlichen Strafantrag gestellt hatte, sagte Kahrs. Durch die Aktivierung des Spezialparagrafen 103 verstärke Merkel die Position Erdogans. Er als Sozialdemokrat halte die Aktivierung eines Paragrafen über die Beleidigung von ausländischen Staatsorganen für falsch, da damit eine Wertung verbunden sei.

    Der Rechtsstaat wäre sowieso zum Zuge gekommen, erläuterte Kahrs. Jetzt aber seien "politische Erwägungen über die Meinungsfreiheit in Deutschland gestellt" worden.
    Für Kahrs ist das Vorgehen "das falsche Signal in die Türkei rein" und nach Deutschland. Mit Blick auf eine EU-Beitrittsperspektive sagte der SPD-Politiker: "Niemand will die Türkei mit so einem Präsidenten in der EU haben."

    Das Interview in voller Länge:
    Martin Zagatta: Die Entscheidung der Bundesregierung auf Wunsch der Türkei, ein Ermittlungsverfahren gegen den TV-Moderator Jan Böhmermann zuzulassen, wird heftig kritisiert. Die Meinungen gehen da weit auseinander, auch in der Bevölkerung.
    O-Ton Menschen: Ich glaube, es hätte die frühere Entscheidung besser getan zu sagen, wir stehen hinter dem Mann und sagen dem Erdogan, wo der Wind herweht.
    Ich finde, dass sie da den falschen Weg jetzt gewählt hat. Dann wird ja demnächst jeder angeklagt, der irgendwie was sagt. Beziehungsweise ist ja auch Merkel schon des Öfteren in der internationalen Presse irgendwie zerrissen worden.
    An dieser Stelle hätte sie sagen müssen meiner Meinung nach, dass Satire frei ist, dass das eine Kunstform ist und dass eine Strafverfolgung aus ihrer Sicht nicht erfolgen sollte.
    Und dass es diesen Paragrafen halt gibt, heißt ja nicht, dass er hier angewendet werden muss. Andererseits, finde ich, ist es auch typisch politischer blinder Aktionismus, jetzt zu sagen, gut, 2018 schaffen wir ihn ab. Das ist auch so ein bisschen Schachzug von Frau Merkel zu sagen, wir lassen es zu, aber auf der anderen Seite wir schaffen ihn ab. Das ist halt so ein bisschen milde stimmen, damit nicht alle jetzt die Spitzhacke rausholen und Frau Merkel angreifen möchten.
    Ich würde jetzt Erdogan auch nicht als einen Monarchen bezeichnen. Und da finde ich definitiv Artikel fünf des Grundgesetztes wichtiger, der die Meinungsfreiheit und auch Pressefreiheit sagt.
    Andererseits, wir haben halt eine klassische Gewaltentrennung. Und man muss halt sagen, die Politik hat da eigentlich sich nicht einzumischen.
    Ich finde, das ist eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, der Erdogan, und er muss das abkönnen, das ist in unserem Land gang und gäbe, dass Satire auch teilweise unter der Gürtellinie ist.
    Ich hoffe, dass sie es einstellen. Weil ich finde, dass die Pressefreiheit da drüberstehen muss, trotz der Schmähkritik.
    Er hat mit Sicherheit auch ein bisschen überzogen, das muss man auch dazu sagen. Aber ich denke mal, dass die Flamme doch ein bisschen hochgekocht wird.
    Zagatta: Sie hören es bei unserer Straßenumfrage, relativ wenig Verständnis für die Entscheidung der Kanzlerin. In den Zeitungen finden sich aber durchaus auch Stimmen, die die Entscheidung von Angela Merkel richtig finden. Am Telefon ist jetzt Johannes Kahrs, Sprecher des Seeheimer Kreises, des konservativen Flügels der SPD-Bundestagsabgeordneten. Guten Morgen, Herr Kahrs!
    Johannes Kahrs: Guten Morgen, Herr Zagatta!
    Zagatta: Herr Kahrs, Sie sind ja auch noch Jurist, muss ich dazu sagen. Muss man da einräumen, dass Angela Merkel eigentlich gar keine andere Wahl hatte, als sich an das Gesetz und damit an diesen ominösen Paragrafen 103 zur Majestätsbeleidigung zu halten?
    Kahrs: Also, das glaube ich nicht. Deswegen haben ja sich der Bundesaußenminister und der Bundesjustizminister gemeinsam geäußert und haben sowohl außenpolitisch als auch juristisch klargestellt, wie da die Sachlage ist. Man kann sich äußern, man muss sich nicht äußern. Das heißt, die Strafverfolgung ist ja sowieso gewährleistet. Herr Erdogan hat ja selber in Deutschland Anzeige erstattet, das heißt, zu dem Prozess kommt es sowieso. Die Frage ist halt eben nur, ob man als Bundesregierung die Position von Erdogan verstärken möchte oder ob man auch ein Signal aussenden möchte, dass einem die Meinungs-, die Kunstfreiheit wichtiger ist?
    "Merkel stellt politische Erwägungen über die Meinungsfreiheit"
    Zagatta: Aber solange es diesen ominösen Paragrafen 103 im Strafgesetzbuch gibt, im Strafrecht gibt, muss sich doch die Bundeskanzlerin, die Bundesregierung auch daran halten?
    Kahrs: Ja, sie muss sich damit beschäftigen. Und dann muss sie selber eine Abwägung treffen, ob sie den aktivieren will, also ob sie dem Verlangen von Erdogan nachgeben wollen oder nicht. Das ist ja nicht zwangsläufig. Dann müsste man ja gar nicht darüber reden. Sondern es ist eine Entscheidung der Bundesregierung, ob sie es inhaltlich für richtig hält, für gegeben hält, ob das in diesem Fall zutrifft oder nicht. Und da kann man auch Nein sagen.
    Zagatta: Man kann aber auch Ja sagen.
    Kahrs: Man kann auch Ja sagen, wenn man der Meinung ist, dass das zutrifft und dass man das für richtig hält. Wir als Sozialdemokraten glauben … und deswegen ist ja der Außenminister wegen der außenpolitischen Brisanz und der Justizminister wegen der fachlichen Beurteilung nach vorne gekommen bei uns und die haben sehr klar gesagt: Man muss nicht, wenn man es tut, wird auch gleichzeitig eine Wertung verbunden. Und ich glaube, das hat Frau Merkel verrissen.
    Zagatta: Frau Merkel betont aber jetzt, und die Union, dass es ihr da um die Gewaltenteilung gegangen ist, dass man in einem Rechtsstaat eben darauf achtet, hier keine politischen Entscheidungen zu treffen, sondern das dann letztendlich der Justiz überlässt. Ist das nicht das richtige Vorgehen auch?
    Kahrs: Ich glaube, dass das Wortgeplänksel sind, mit denen sie die eigentliche Entscheidung überdecken wollen, dass sie hier eingeknickt sind vor Erdogan. In der Sache ist es so, dass der Rechtsstaat ja sowieso zum Zuge kommt. Der Prozess ist anhängig. Das heißt, Herr Erdogan klagt ja gegen Herrn Böhmermann. Das findet ja sowieso statt. Die Frage ist nur, ob man das, was Herr Erdogan macht, noch mit einer Unterstützung der Bundesregierung adeln sollte. Ich glaube, dass das hier alles Nebelkerzen sind, die zeigen nur auf, dass sie eingeknickt ist, und das ist ein Fehler.
    Zagatta: Sie gehen also davon aus, Frau Merkel hat da nicht in der Sache entschieden, sondern sie kuscht vor der Türkei?
    Kahrs: Ich gehe davon aus, dass sie hier, sagen wir es mal ganz freundlich, politische Erwägungen über die Meinungsfreiheit in Deutschland stellt.
    Zagatta: Kann man es nicht auch so sagen: Also, Frau Merkel reagiert da ziemlich unabhängig? Also, was Horst Seehofer in der Flüchtlingspolitik will, das ist ihr ziemlich egal, den lässt sie auch abblitzen, warum sollte sie da jetzt Rücksicht nehmen auf politische Ansichten von Herrn Gabriel oder Frank-Walter Steinmeier?
    "Girlanden und Nebelkerzen"
    Kahrs: Wir müssen ja die Flüchtlingsfrage nicht rauf- und runterdiskutieren, aber in der Sache, glaube ich, ist es offensichtlich: Hier ist es nicht so, dass die Bundesregierung es der Justiz erst ermöglicht, gegen Herrn Böhmermann zu verhandeln, sondern hier wird nur noch das Strafmaß um das Drei- und Vierfache nach oben geschoben. In der Sache ist die Justiz selbstverständlich unabhängig und selbstverständlich kann sie ermitteln. Sie ermittelt, es gibt einen Prozess, es gibt damit nichts Neues. Das Einzige, was Frau Merkel geschafft hat, ist, das Strafmaß um das Drei- oder Vierfache nach oben zu schieben. Und ehrlicherweise, das verstehe ich nicht, ich glaube, das ist das falsche Signal. Und ich halte es in der Sache für schlichtweg falsch und all die Girlanden, die sie jetzt darum schmückt, um zu zeigen, dass es vielleicht doch nicht das nackte Einknicken war, sind eben nur das, Girlanden und Nebelkerzen.
    Zagatta: Sie sagen unterschiedliches Strafmaß. Das kommt aber auch daher, dass das ja jetzt unterschiedliche Verfahren sind, die unterschiedlichen Paragrafen. Und solange dieser Paragraf 103, den man ja jetzt abschaffen will, nicht abgeschafft ist, kann man sich doch über den auch nicht hinwegsetzen einfach? Oder sind Sie dieser Meinung?
    Kahrs: Na ja, der Paragraf 103/104, über den setzen sie sich ja nicht hinweg. Sondern der sagt, dass das nur aktiviert wird, wenn die Bundesregierung dies genehmigt. Das tut sie nicht, das ist eine Ermessenserscheinung der Bundesregierung. Und der Prozess läuft ja trotzdem. Das heißt, es gibt hier kein Jota weniger Rechtsstaat. Es gibt natürlich auch die Überprüfung und die Gewaltenteilung gilt natürlich auch. Das Einzige, was hier nicht passiert, ist, dass die Bundesregierung dann gesagt hätte, dass dieser Paragraf 103/104 zum Tragen kommt. Das ist eine Abwägungsentscheidung, da kann man zu diesem oder zu jenem Ergebnis kommen. Wir als SPD sind zu dem Ergebnis gekommen, dass er nicht zutrifft. Die CDU sagt, er trifft zu. Für beide Seiten kann man Argumente finden, Frau Merkel tut das ja. Ich halte es aber im Ergebnis für das falsche Signal in die Türkei rein. Ich halte es für das falsche Signal nach Deutschland rein, was auch die ganze Frage Unabhängigkeit von Kunst, Satirefreiheit angeht.
    Zagatta: Was bedeutet das jetzt für die Koalition? Sie sagen, es ist eine Abwägungsfrage, das heißt, das belastet dann das Koalitionsklima auch nicht sonderlich?
    Kahrs: Na ja, wir haben hier eine unterschiedliche Auffassung. Die SPD hat klar gesagt, warum sie es fachlich – das war der Justizminister –, also rechtlich und einmal politisch für falsch findet, das war der Bundesaußenminister. Am Ende in der Koalition, die so ist wie die unsere, entscheidet dann die Bundeskanzlerin. Wenn sie das denn tut, dann tut sie das gegen den Koalitionspartner. Ich glaube nicht, dass das jetzt ein Grund ist für eine Regierungskrise. Aber ich glaube, dass man so was nicht allzu häufig machen sollte.
    Zagatta: Herr Kahrs, Sie sind in der Vergangenheit häufig auch dafür eingetreten, der Türkei eine Beitrittsperspektive zur EU zu eröffnen. Sie haben sich da für die Türkei stark gemacht. Wenn Sie diese Entwicklung jetzt anschauen in diesen Tagen, in diesen Wochen: Macht Erdogan mit seiner Politik diese Tür wieder zu?
    "Wenn Sicherheitskräfte auf Flüchtlinge schießen, das ist nicht diskutabel"
    Kahrs: Na ja, Frau Merkel hat die Tür ja zugemacht, indem sie gesagt hat, sie will keinen Beitritt der Türkei, sie will eine privilegierte Partnerschaft. Ich glaube, dass niemand eine Türkei so, wie sie jetzt ist, mit diesem Präsidenten in der Europäischen Union haben möchte. Wenn man aber will, dass man auf die Vorkommnisse in der Türkei einen Einfluss hat, dann geht das nur über ein Beitrittsverfahren. Und es gibt klare Spielregeln in der Europäischen Union, Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Demonstrationsfreiheit, Gleichstellung der Frauen, alles, was dazugehört. Das wiederum kriegen Sie nur durchgesetzt über dieses Beitrittsverfahren. Und wenn die Türkei diese Bedingungen dann erfüllt wie andere Länder auch vorher – also Spanien, Portugal oder entsprechend –, dann kann man in zehn, 15 Jahren dazu kommen, dass die Türkei Mitglied der Europäischen Union wird. Dann ist es aber nicht mehr die jetzige Türkei und dann ist auch Erdogan nicht mehr dabei.
    Zagatta: Erdogan, Stichwort Bedingungen in der Türkei: Als die AfD einen Waffeneinsatz und Schüsse auf Flüchtlinge ins Spiel gebracht hat, da war die Aufregung hier riesengroß. Jetzt haben wir heute Morgen berichtet, dass die türkischen Sicherheitskräfte genau das machen, dass sie an der Grenze zu Syrien auf Flüchtlinge schießen, die diese Grenze überqueren wollen. Das hat uns der Deutschlanddirektor der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch heute Morgen hier in unserem Programm berichtet. Herr Kahrs, kann die Bundesregierung dazu schweigen?
    Kahrs: Also, wenn es so ist, dass die türkische Regierung auf Flüchtlinge schießt, dann ist das erbärmlich.
    Zagatta: Also die Sicherheitskräfte.
    Kahrs: Wenn die Sicherheitskräfte auf Flüchtlinge schießen, das ist nicht diskutabel, das geht gar nicht. Und natürlich muss man dann was dazu sagen.
    Zagatta: Johannes Kahrs, SPD-Politiker, Sprecher des Seeheimer Kreises heute Morgen im Deutschlandfunk. Herr Kahrs, ich bedanke mich für das Gespräch!
    Kahrs: Frohes Schaffen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.