Alles wissen, nichts ändern

Flugscham und andere Doppelmoralprobleme

Ein Flugzeug fliegt bei strahlendem Sonnenschein tief über einem Strand mit Reihen voller Liegen und Touristen auf Zypern.
Rekordverdächtig: Über 200.000 Flüge wurden an einem Tag im Juli 2018 insgesamt auf der Welt gezählt. © imago/Eibner Europa
Ein Kommentar von Timo Rieg · 30.11.2018
In Schweden kennt das Wort bereits jeder: Flugscham. Die ökologisch motivierte Scham ein Flugzeug zu benutzen. Jetzt ist die Flugscham auch bei uns gelandet. Der Publizist Timo Rieg findet das großartig – und hat noch andere Wort-Ideen.
Liebe auf den ersten Blick ist mir schon lange nicht mehr passiert. Aber hier hat es zoom gemacht, so bezaubernd ist sie, so zart und gewaltig in einem, so tiefgründig und zugleich für jede Zote zu haben: die Flugscham.
Als ich die Flugscham vor wenigen Tagen das erste Mal traf, am Telefon, mit einem ganz leichten Juchzen vorgetragen, da stand sie schon nach einem kurzen Augenblick der gedanklichen Wortenthüllung in vielerlei Menschengestalt vor mir.

Flugscham – eine fantastische Wortgeburt

"Das Flugticket hat nur 25 Euro gekostet. Also da kann wirklich niemand Nein sagen", klang es noch in meinen Ohren, erst wenige Stunden zuvor in der überfüllten S-Bahn aufgeschnappt. Und die Flugscham tanzte mir durchs Hirn, in all ihrer koketten Akrobatik: "Dafür habe ich aber auch kein Auto", "Fleischessen ist viel schlimmer", "Wer nicht in ferne Länder reist, bleibt der Blödi vom Land".
In meiner Kindheit war es noch ein Hingucker, wenn am Himmel eine Kreidespur gezeichnet wurde, die langsam breiter und unscheinbarer wurde, bis sie sich vollständig ins Himmelblau verdünnisiert hatte.
Heute sehe ich bei gutem Wetter mindestens ein Dutzend dieser Flugzeugspuren gleichzeitig. Und selbst in tiefster Nacht sausen blinkende Punkte durch die Sternbilder. Im Juli wurde der Rekord gemeldet, dass knapp 20.000 Flugzeuge gleichzeitig den Himmel pflügten. Über 200.000 Flüge wurden an jenem Tag insgesamt auf der Welt gezählt.
Natürlich weiß jeder Flugmeilensammler, dass seine Jetlag-Sucht eine ökologische Katastrophe ist. Und jeder Student weiß, dass sein Wochenendtrip nach London keine Bildungsreise, sondern simpler Freizeitspaß ist, mit dem er Zehntausenden Anwohnern um die Flughäfen Schlaf, Nerven und Gesundheit raubt.

Manchmal überkommt uns ein Anflug von Scham

Aber wir wissen auch, dass hinter jeder Hähnchenbrust aus dem Supermarkt ein gemästetes Elend liegt, dass für unsere Handys Kriege geführt und Kinder unter die Erde geschickt werden, um die Zutaten für unseren hippen Lebensstil hervorzubuddeln. Und weil wir alles wissen, unser Leben aber nicht ändern wollen, gibt es manchmal einen Anflug von Scham.
An dieser Scham wiederum labt sich längst ein eigenes Business, das unseren Konsum schönzureden versucht. Mit Internet-Suchanfragen kann ich Bäume pflanzen, statt wie früher Strom und seltene Erden zu verbrauchen. Für jedes noch so überflüssige, dekadente Produkt gibt es Ablass-Siegel: fair, nachhaltig, verantwortungsbewusst ist doch inzwischen alles, egal ob Luxus oder Nippes. Selbst der Discounter bietet Zehn-Cent-Extra für den vom jahrzehntelangen Güllefahren hämorrhoidal gewordenen Bauern.
Flugscham. Wer zwei plus zweieinhalb im Kopf addieren kann weiß, dass ein Leben auf dem Level der deutschen Mittelschicht nicht global funktioniert. Völlig undenkbar, dass acht Milliarden Menschen durch die Welt fliegen, um fremde Kulturen zu studieren oder als Kurzzeit-Migrant die Seele baumeln zu lassen.

Unser Lebensstil ist weltweit nicht möglich

Keine noch so ausgefuchste Technik wird unseren Lebensstil weltweit möglich machen. Noch funktioniert es, weil der sogenannte Westen Kolonialherr der Welt ist. Wir fliegen, wohin wir wollen. Andere haben uns zu dienen – und unsere Flugorgien im Übrigen zu ertragen, das Absaufen unserer Urlaubsinseln eingeschlossen.
Der moderne Mensch lebt nicht nachhaltig. Er gibt sich nie zufrieden mit dem, was ist und was er hat. Überall muss erneuert, erweitert, verändert werden. Es gibt nie genug Vorschriften, Straßen, Internetgeschwindigkeit. Und Urlaubsorte sind nie weit genug weg von zu Hause.
Wenn die Flugscham keine impotente Eintagsfliege ist, wird es sicherlich bald Angebote für verschämtes Fliegen geben. "The Guilty Flyer - Wir bringen Sie unauffällig und diskret ins Paradies." Dort ist man dann je nach Destination auch eingerichtet auf All-inclusive-Scham, Golf-Scham, Ski-Scham, Hummer-Scham... Man kann ja schließlich nicht auf alles verzichten.

Timo Rieg ist Diplom-Biologe, Buchautor und Journalist. Er beschäftigt sich beruflich wie privat mit "Nachhaltigkeit". Sein aktuelles Buch: "Demokratie für Deutschland".

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