Ljuba Arnautowic über ihren Roman "Junischnee"

Familiengeschichte von Flucht und Verleugnung

14:32 Minuten
Ljuba Arnautovic steht in einem knallroten Mantel vor einer dunkelblauen Wand
"Das war so ein starker Drang, das irgendwie zu Papier zu bringen", sagt Ljuba Arnautovic über ihren späten Familienroman. © picture alliance / Wolfgang Paterno
Ljuba Anautowic im Gespräch mit Shelly Kupferberg · 08.05.2021
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Der Roman "Junischnee" ist die Geschichte ihres Vaters, der als Kind österreichischer Sozialdemokraten in der Sowjetunion aufgenommen wird und dort wegen seiner Herkunft zum Feind wird. Er bleibt es auch nach dem Krieg zurück in Wien.
Shelly Kupferberg: Die Übersetzerin und Rundfunkjournalistin Ljuba Arnautovic hat bereits mit ihrem Debütroman "Im Verborgenen" einen Teil der Lebensgeschichte ihrer Familie verarbeitet. Darin geht es vor allem um den Lebensweg der Großmutter, einer bemerkenswerten, einer mutigen Frau, Eva, die Gefangenschaft, Folter und die Ausweisung aus Österreich erlebt, später ins nationalsozialistische Wien zurückkehrt und Juden versteckt und später auf ihre beiden Söhne wartet. Diese beiden Söhne werden zunächst in Sicherheit in die Sowjetunion gebracht.
In Arnautovics neuem Buch, "Junischnee", geht es um das Schicksal dieser beiden Jungen. Ljuba Arnautovic, einer davon war Ihr Vater. Sie selbst sind in Kursk geboren, 1954, in der UdSSR, sind nicht durchgehend mit Ihrem Vater aufgewachsen. Wann haben Sie denn angefangen, sich dafür zu interessieren, was Ihr Vater alles durchgemacht hat?
Arnautovic: Eigentlich schon sehr früh. Ich bin nämlich in einer Familie aufgewachsen, wo sehr viel erzählt wurde. Sowohl mein Vater als auch meine Großmutter haben sehr viel über ihr Schicksal und über die Geschichte erzählt, das heißt, ich wurde praktisch hineinerzogen in dieses Geschichtsbewusstsein.

Paramilitärische Organisation der Partei

Kupferberg: Und auch in die Geschichte, denke ich, dass die Großeltern Anhänger des ab 1933 verbotenen republikanischen Schutzbundes sozialdemokratisch geprägt waren. Wofür genau trat dieser republikanische Schutzbund ein?
Arnautovic: Das war eine paramilitärische Organisation der sozialistischen Partei. Es war ja nach dem Kaiserreich die erste Republik, da gab’s das Rote Wien, das heißt, da haben die Sozialdemokraten, die Sozialisten, das Sagen gehabt, und sie haben eine Politik gemacht für die Menschen. Meine Großeltern waren also welche, die da aktiv mitgegangen sind, die aktiv mitgestaltet haben an diesem Roten Wien. Das war ihr ganz eigenes und auch ihr gesellschaftliches Projekt.
Kupferberg: Allerdings gab es dann – es waren politisch unruhige Zeiten – mehrere Wenden. Ihre Großmutter war mehrmals in Haft, hat infolge dessen beschlossen, ihre beiden kleinen Söhne in Sicherheit zu bringen – das war im Jahr 1934. Slavko und Karl wurden als sogenannte Schutzbundkinder auf die Krim in ein Sommerlager geschickt, und anschließend kamen sie dann in ein Heim in Moskau. Ich sagte schon, die Anhänger des republikanischen Schutzbundes, die mussten ab 1933 nur noch im Geheimen agieren, sie waren offiziell verboten, aber sie haben es getan. Diese Söhne also wurden dann in eine Art Sommerlager geschickt, kamen anschließend in ein Heim nach Moskau, gut und schön ausgestattet war ihr Leben. Wer genau stand denn eigentlich hinter dieser Organisation, wer hat diese Kinder aufgenommen und quasi sich um sie gekümmert?
Arnautovic: Das war die Rote Hilfe Wien, und die Rote Hilfe war eine Hilfsorganisation der Kommintern, der Kommunistischen Internationale. Es war nämlich so, dass nach dem Februaraufstand 1934, 12. Februar, viele von diesen Schutzbündlern entweder fliehen mussten, um der standrechtlichen Erschießung zu entgehen, oder sie mussten in den Untergrund gehen. Diese Kinder standen dann oft ohne Eltern oder zumindest ohne Vater da, der meistens für die Familie gesorgt hat. Und dann ist eben diese Rote Hilfe der Kommunisten auf den Plan getreten. Es sind damals auch sehr viele Sozialisten übergetreten zu den Kommunisten aus einer Enttäuschung heraus, dass das Ganze so schiefgelaufen ist. Sie haben sich zum Teil verraten gefühlt. Da stammt auch dieser Spruch her, "Wer hat uns verraten? - Die Sozialdemokraten!" Das wurde damals geprägt. Es gab auch nicht viele Länder in Europa, die sich dieser Kinder oder überhaupt dieser Familien angenommen haben, und die Sowjetunion war, glaube ich, neben Schweden das einzige Land, das die Tore geöffnet hat für diese Politemigranten.

Gelebt wie in einer Blase

Kupferberg: Und die Wirren des Zweiten Weltkrieges und der Bruch des Hitler-Stalin-Paktes bilden dann einen ganz harten Bruch in dieser Geschichte, auch in der persönlichen Geschichte Ihrer Familie. Zunächst wird den beiden Jungen ein gutes Leben zuteil, wenn auch fernab der Familie, in der Sowjetunion, aber plötzlich werden sie als Angehörige des Deutschen Reiches zu möglichen Feinden. Was passierte denn mit diesen Geschwistern ab diesem Zeitpunkt?
Arnautovic: Man muss sagen, die ersten Jahre waren ja – da haben sie gelebt wie in einer Blase. Sie haben also auch von dem wahren Leben in der Sowjetunion überhaupt nichts mitbekommen, und sie wurden natürlich auch für die Propaganda eingesetzt, und es wurde ihnen weisgemacht, dass das die Zukunft ist. Mein Vater hat auch oft die Vermutung geäußert, dass man vielleicht auch Spione oder Menschen halt aus ihnen machen wollte, die dann später eben für die Sowjetunion im Ausland tätig sind. Und dann kam eben dieser Hitler-Stalin-Pakt, das hat alle sehr verunsichert, keiner hat mehr verstanden, warum geht man jetzt mit dem größten Feind zusammen. Das war schon mal eine große Irritation, und als dann Hitler diesen Pakt gebrochen hat und eingefallen ist in die Sowjetunion, da war dann plötzlich alles, was deutsch war, der Volksfeind. Alle Politemigranten, die deutschstämmig waren – Österreich hat ja zu Deutschland gehört, das wurde in einen Topf geworfen –, waren dann plötzlich Volksfeinde und wurden verfolgt und repressiert.

Verhaftung, Verhöre und Folter

Kupferberg: Was hieß das genau für die beiden Jungs?
Arnautovic: Das hieß Verhaftung, Verhöre, Folter. Mein Onkel, also der ältere Bruder meines Vaters, ist mit 21 Jahren in einem Gefängnis verhungert, noch bevor überhaupt ein Urteil gefällt wurde, wobei man wissen muss, dass diese Urteile jetzt nicht vor einem Gericht waren, sondern vor diesen sogenannten Troikas – das waren so eine Art Laienrichter oder irgendwelche Beamte. Mein Vater hat also zehn Jahre Gulag abgefasst und hat diese zehn Jahre überlebt.
Kupferberg: Was genau hatte man Karl denn vorgeworfen, warum geriet er immer und immer wieder in Haft und schließlich ins Gulag?
Arnautovic: Es spielte überhaupt keine Rolle, was ihm vorgeworfen wurde. Es war eine totale Willkür – ich hab’s in den Verhörprotokollen gelesen. Er selbst hatte sie aus dem KGB-Archiv Anfang der 90er-Jahre herausbekommen – beziehungsweise er hatte jemanden bestochen, damit er diese Verhörprotokolle für ihn kopiert. Da gibt’s also Stellen, da wir er japanischer Spion oder deutscher Spion oder auch zum Angehörigen der sogenannten Hitlerjugend in der Sowjetunion – eine Organisation, die nie existiert hat.
Es war aber völlig gleichgültig. Meinem Onkel zum Beispiel wurde vorgeworfen, er hätte in einem Stadtplan von Moskau bestimmte Stellen markiert, in Wahrheit hat sich der junge Mann dort Plätze markiert, wo man gut baden kann, und ihm wurde das aber als Beweis vorgelegt, dass das konspirative Treffpunkte gewesen wären. Das heißt, es spielte überhaupt keine Rolle, was die Leute gemacht oder auch nicht gemacht haben, es wurde einfach eine Anklage erhoben, und das Urteil stand eigentlich vorher schon fest.

Ohnmacht gegenüber den Behörden

Kupferberg: Wir lesen von dieser unerträglichen Ohnmacht gegenüber den Behörden, Sie haben auch Originalprotokolle und Briefe mit eingefügt in Ihr Buch. Ihr Vater lernte dann am Ende seiner Haft im Gulag seine spätere Frau kennen, Nina, Ihre Mutter. Die beiden lebten zunächst in Kursk, aber es drängte Ihren Vater dann doch immer wieder nach Österreich, nach Wien in die alte Heimat, obwohl er doch sicherlich auch sehr entfremdet war. Das schildern Sie auch. Auch die Sprache war ihm erst mal entfleucht, er musste sich sozusagen das Deutsche, das Wienerische wieder aneignen, so viele Jahre, die er nicht dort gewesen ist. Mit welchen Kulturen und Sprachen hat er sich letztlich identifiziert, wie erinnern Sie das?
Arnautovic: Mein Vater war absolut zweisprachig, perfekt zweisprachig. Es war quasi das Einzige, das er aus Sibirien mitgebracht hat, diese Sprachkenntnis. Die hat er dann auch beruflich umsetzen können, denn er hatte weder einen Schulabschluss noch eine Berufsausbildung, das heißt, das war eigentlich der einzige Skill, den er hatte. Warum es ihn nach Österreich gezogen hat, das war wohl irgendeine Art von Sehnsucht, eine Art von Heimweh, eine Art von Sehnsucht nach seiner Familie, nach seinem Ursprung. In den ersten ein, zwei Jahren nach dem Gulag hatte er das nicht vor, da war nämlich noch die Rede davon, dass er seine Mutter in die Sowjetunion holen wollte. Das ist aber dann aus irgendwelchen Gründen gekippt – ich nehme an, meine Großmutter wollte das nicht. Dann war die Rede davon: Wie schafft er es, nach Österreich zu kommen, was auch nicht einfach war, vor allem auch deshalb, weil die Österreicher ihn eigentlich gar nicht wollten. Er hatte keine Staatsbürgerschaft, und als er drauf bestanden hat, dass er ja in Österreich geboren ist und ein österreichischer Staatsbürger ist, hat man gesagt, er hätte das Land willkürlich verlassen und hätte dadurch seine Staatsbürgerschaft aufs Spiel gesetzt, und es war ein ziemlich harter Amtsweg, um wieder die Staatsbürgerschaft zu bekommen.

Zurück gegen die Widerstände der Ämter

Kupferberg: Zumal das Ganze geschehen war, als er noch ein Kind war, also selbst überhaupt nicht mündig in gesetzlichem Sinne. Seine Frau Nina, die fühlte sich ja überhaupt nicht wohl in Österreich, auch davon lesen wir in Ihrem Buch. Sie hatte auch regelmäßig versucht, die Flucht anzutreten, hatte aber dann Karl zuliebe und vor allem, um ihre Töchter nicht zu verlieren – also Sie, Ljuba, und Ihre Schwester –, nachgegeben, sich in Wien niedergelassen. Und wir erfahren auch von der russischen Community, die nach dem Krieg in Wien lebte. Ihr Vater, der trennte sich allerdings von Ihrer Mutter, war mehrfach liiert und verheiratet. Wie ist er mit seiner eigenen Geschichte, den vielen Traumata umgegangen? Wie sehr konnten Sie mit ihm über all dieses Erlittene reden?
Arnautovic: Mein Vater war natürlich ein sehr zerrissener Mensch. Man muss sich vorstellen: dieses Schicksal in der Sowjetunion, dann dieses sich wieder Hineinkämpfen in die österreichische Gesellschaft – das war sicher nicht leicht. Also ein Land, wo man alles Russische ablehnt – es hat der Kalte Krieg noch geherrscht, es war alles suspekt, was aus der Sowjetunion kam oder was Russisch klang –, da hatte man Vorbehalte. Und er musste so schnell wie möglich dieses Russische abstreifen – sprachlich, wie er sich benimmt, wie er geht, wie er spricht –, das heißt, er musste sich zu einem Österreicher machen. Das hat sicher auch viel Kraft gekostet und hat natürlich auch eine Spaltung erzeugt, denn er hatte seine Jugend in der Sowjetunion verbracht. Er war sehr wohl "in der Kultur", aber er hat sich auch in die andere gekämpft. Ich denke mir, das erzeugt auch in einem Menschen eine Spaltung, wenn er nicht sagen kann: Ich habe zwei Heimaten und die bestehen nebeneinander, ich trag sie in mir, so wie ich das für mich heute sagen kann, aber für ihn war das nicht möglich. Und man kann sich vorstellen, dass auch ich ziemlich große Probleme hatte mit so einem Vater, der mit diesem Charakter und ja, mit dieser Härte auch sein Leben leben musste.

Die Geschichten wurden drängend

Kupferberg: Das kann man sich vorstellen, zwischen den Zeilen liest man auch, dass das kein einfacher Mensch war, was nicht weiter wundert, wenn man weiß, was ihm alles widerfahren ist, wie viel Gewalt er auch erleiden musste. Ljuba Arnautovic, Sie selbst haben als Russisch-Übersetzerin gearbeitet und für das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands und als Hörfunkjournalistin. Wann und warum kam für Sie der Punkt, sich mit Ihrer Familiengeschichte, über die Sie ja schon früh viel gewusst haben, wie Sie erzählt haben, literarisch auseinanderzusetzen?
Arnautovic: Ich habe immer schon so kürzere Texte geschrieben über Familienmitglieder, über Ereignisse, die mit meiner Familie zusammenhängen, auch über Menschen in dieser österreichischen Geschichte. Mich literarisch damit auseinanderzusetzen, das konnte ich mir eigentlich erst leisten, als dieses typische Frauenleben, was ich geführt hab, eigentlich erledigt war, also meine Kinder waren erwachsen, ich musste nicht mehr für deren und für meine Existenz arbeiten. Dazu kommt, dass die Personen, um die es in meinen Romanen geht, also sowohl die Großeltern als auch die Eltern, schon verstorben waren – das macht es auch leichter, es literarisch zu bearbeiten. Und ich hab gespürt, dass diese Geschichten so drängend werden, immer drängender und einfach erzählt werden wollen.
Das klingt jetzt ein bisschen esoterisch, aber das war so ein starker Drang, das irgendwie zu Papier zu bringen. Vielleicht war es auch der Wunsch - also speziell jetzt mit dem "Junischnee", mich einer Auseinandersetzung mit meinem Vater zu stellen, der zwar nicht mehr lebt, aber den ich mir da doch hergeholt hab und einfach auch seine verschiedenen Facetten beleuchten konnte und mir vornehmen konnte. Ich konnte ihn als Opfer sehen zum ersten Mal, ich konnte ihn als Täter wahrnehmen und das auch aussprechen, und ich konnte letztlich sehen, dass er genauso ein komplexer Mensch ist wie wir alle, und aus diesem Opfertäter dann doch eine Figur erschaffen, die man als Mensch bezeichnen kann.

Ljuba Arnautovic "Junischnee"
Zsolnay 2021
192 Seiten, 22 Euro

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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