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Böses Denken
Der Mensch ist mit der Radikalität des Bösen geschlagen

Jeder Mensch verfügt über ein untrügliches Gespür, ob seine Handlungen im moralischen Sinne gut oder böse sind. Aber warum denken und handeln Menschen dann böse? Dieser Frage geht die Philosophin Bettina Stagneth in ihrem Buch "Böses Denken" nach - und erschüttert dabei den Glauben an die Unschuld des Denkens.

Von Matthias Eckoldt | 12.08.2016
    Erinnerung an den Völkermord in Ruanda: Gebeine von Genozidopfern in der Gruft hinter der Kirche von Nyamata in Ruanda
    Erinnerung an den Völkermord in Ruanda: Warum tun Menschen das? (picture alliance / dpa / Jesko Johannsen)
    Das Buch "Böses Denken" ist bereits vom äußeren Erscheinungsbild her ein Statement. Ein Hardcover ohne Schutzumschlag mit Grautönen, die sich von oben nach unten immer mehr eindunkeln. Darauf der in weiß gehaltene Titel, der den Blick in die Tiefe saugt: in den Abgrund des Denkens. Und genau dorthin nimmt Bettina Stagneth ihre Leser mit.
    Sie hat sich intensiv mit dem Bösen auseinandergesetzt. So in ihrem Buch "Eichmann vor Jerusalem", das weltweit Aufmerksamkeit erregte. Doch als Philosophin setzt sich Stagneth nicht nur mit dem praktizierten Bösen auseinander, sondern vor allem mit dem theoretischen - dem bösen Denken und dem Denken des Bösen. Sie beginnt ihre Studie bei Immanuel Kant. Es ist faszinierend zu lesen, wie sie mit analytisch scharfem Besteck Kants Begriff der Vernunft seziert, bis er frei von allen historischen Belastungen und ideologischen Vereinnahmungsversuchen dasteht. Immanuel Kant verstand nämlich unter Vernunft nicht mehr als den Sinn für die Stimmigkeit im Verhältnis zu sich selbst:
    "Das einzig Eindeutige, das alle Menschen jederzeit in sich vorfinden und auf das wir uns deshalb auch einigen können, ist unser Sinn für Stimmigkeit und Widerspruch unserer Vorstellung, also die Vernunft als Bewusstsein, das einfach immer da ist. Und weil wir eben diesem Sinn für Stimmigkeit im Selbstverhältnis nicht ausweichen können, können wir auch zwischen Gut und Böse unterscheiden."
    Handeln gegen die Vernunft
    Bettina Stagneth lässt die Problemstellung in gläserner Klarheit erstehen: Jeder Mensch verfügt über ein untrügliches Gefühl für seine Handlungen. Das Bewusstsein begleitet jede Option, die man erwägt, und man weiß, sobald man sich zu einer Handlung entschließt, ob sie im moralischen Sinne gut oder böse ist. Ob sie einem selbst und anderen hilft oder ob man Schaden anrichtet. Jener Sinn für Stimmigkeit ist gemeint, der sich bereits meldet, wenn man aus Bequemlichkeit eine Plastikverpackung doch in den Restmüll wirft, obwohl man genau weiß, dass Mülltrennung ökologisch sinnvoller wäre. Da es also diese Stimme der Vernunft offensichtlich gibt, warum handeln Menschen dann gegen sie?
    Kant führte das dazu, den Menschen als radikal böse zu klassifizieren. Wer in der Lage ist, wissentlich Böses zu tun, ist in einer grundsätzlichen, eben radikalen Weise böse. Das wird in der Differenz besonders deutlich. Stagneth schreibt:
    "Ein radikal gutes Lebewesen würde jederzeit genau so handeln, wie es der eigenen Überzeugung und dem Wissensstand entspricht."
    Der Mensch ist durch seine Fähigkeit, wider die eigene Einsicht handeln zu können, mit der Radikalität des Bösen geschlagen. Dieser Gedanke beseelt das Buch "Böses Denken". Stagneth untersucht im folgenden die Facetten des Bösen. Der von Hannah Arendt in der Analyse der Nazi-Diktatur geprägte Begriff der Banalität des Bösen spielt dabei eine Rolle. Er beschreibt, wie sich Täter als unschuldige Opfer – allenfalls als Mitläufer – inszenieren, um ihrer gerechten Strafe zu entgehen.
    Die Philosophin Stagneth macht an dieser Stelle deutlich, dass Kants Begriff der Vernunft als Gefühl für die Stimmigkeit der eigenen Handlung vom bewussten Denken abhängt. Sobald man sich die Einsichtsfähigkeit durch geeignete Maßnahmen vernebeln lässt, wird auch die Stimme der Vernunft leiser, die uns zwischen Gut und Böse zu unterscheiden ermöglicht. Deshalb war die Idee der Aufklärung für Kant auch so zentral.
    Empörung über die aufklärungsferne Gegenwart
    Doch Stagneth bilanziert, was aus dem Projekt, sich seines eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen, geworden ist: In Zeiten der allgemeinen Verfügbarkeit von Informationen im Internet wird die Trennung von Wissen, Halbwissen und Meinung immer schwerer, womit der Impuls der Vernunft ebenfalls Gefahr läuft, verschüttet zu werden. Beim Thema Digitale Kommunikation gerät die ansonsten so ruhig argumentierende Autorin in hitzigen Furor:
    "Unsere Kinder reden vom ersten getippten Emoticon an mit der ganzen Welt. Und das in einem Alter, in dem wir sie noch nicht einmal allein in die Stadt lassen würden. Sie sind dabei mit Psychopathen konfrontiert, die als Ihresgleichen maskiert Selbstbefriedigungsspiele treiben, von denen die meisten Erwachsenen nichts ahnen."
    Es ist nicht nur der andere Ton, der den Fluss der Lektüre unterbricht, sondern auch der damit verbundene Wechsel der Reflektionsebene. Stagneth durchschießt ihre erhellende philosophische Analyse des Bösen gegen Ende des Buches zunehmend mit polemischen Passagen mit kulturkritischen Impetus. Das wirkt irritierend. Möglicherweise hat sich die Philosophin von ihrer Empörung über die aufklärungsferne Gegenwart fortragen lassen. Nicht auszuschließen aber ist, dass dieser Wechsel im Sound von Gedanken und Sprache durchaus Sinn und Methode hat. Denn Stagneth erreicht dadurch, dass sich der Leser zu seiner Lektüre ins Verhältnis setzt und sich in der Praxis übt, eine kritische Distanz einzunehmen. Und die ist letztlich Grundlage des Gebrauchs der Vernunft. So überrascht es auch nicht, wenn "Böses Denken" nicht mit einer Handlungsanweisung endet, sondern mit einem Plädoyer für eine neue Art der Aufklärung:
    "So schön die Vorstellung einer Anhöhe des Denkens als heiliger Boden auch ist, auf dem sich alle in friedlicher Absicht zum Gesprächsaustausch treffen, um gestärkt und gereinigt aus der Begegnung hervorzugehen: Philosophie in unserem Jahrhundert ist Aufklärung ohne den Glauben an die Unschuld des Denkens."
    Diesen Glauben gründlich erschüttert zu haben, ist das unbedingte Verdienst von Bettina Stagneth.
    Bettina Stagneth: "Böses Denken", Rowohlt Verlag, 256 Seiten, 19,95 Euro