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Boko Haram in Nigeria
"Fast täglich werden Dörfer überfallen"

Am Wochenende soll es im Nordosten Nigerias ein Massaker gegeben haben. Von bis zu 2.000 Opfern berichtet ein Augenzeuge. Die Situation sei schon seit Langem verheerend, sagte Adrian Kriesch, freier Journalist in Lagos, im DLF. Umso schrecklicher sei es, dass die zahlreichen Flüchtlinge keinerlei staatliche Unterstützung bekämen.

Adrian Kriesch im Gespräch mit Christine Heuer | 15.01.2015
    Unzählige Menschen sind auf der Flucht vor Boko Haram
    Unzählige Menschen sind auf der Flucht vor Boko Haram (dpa / picture alliance / EPA)
    Christine Heuer: Boko Haram - das sind die nigerianischen Islamisten, das ist eine besonders grausame Terrormiliz -, Boko Haram also hat einen ganzen Ort dem Erdboden gleichgemacht und die Menschen dort massakriert. Gemeldet wurde das zuerst am Wochenende, doch es blieb lange unklar, was genau da geschehen ist und in welchem Ausmaß im nordnigerianischen Baga. Seit heute wissen wir mehr. Amnesty International hat einen Bericht vorgelegt. Adrian Kriesch, freier Journalist in Lagos - dort erreichen wir ihn -, was steht in diesem Bericht drin?
    Adrian Kriesch: Das Wichtigste in dem Bericht, das sind eigentlich die Luftaufnahmen, die Amnesty International dort veröffentlicht. Und zwar sind das Luftaufnahmen, die zum einen vor dem Angriff gemacht wurden und zum anderen danach, und dort kann man erkennen, dass in Baga und vielen Dörfern ringsherum extreme Zerstörung vorzufinden ist. In einem Nachbarort sind mehr als 3000 Gebäude niedergebrannt und das zeigt ein bisschen die Dimension dieses Übergriffes. Trotzdem muss man sagen, vieles ist noch unklar. Es gab ja Opferzahlen, bis zu 2.000 Personen wurden angeblich umgebracht. Da gibt es allerdings kaum Bestätigung für. Eine Quelle war ein Augenzeuge, der das geschätzt hat. Das Militär in Nigeria hingegen hat gesagt, nein, es sind maximal 150 Tote. Und da aktuell auch noch gekämpft wird - das Militär versucht, den Ort wieder einzunehmen -, kommt keiner dorthin und kann keiner unabhängige Informationen über die tatsächliche Lage vor Ort rausbekommen.
    Heuer: Wem glauben Sie denn mehr, dem Augenzeugen oder dem Militär?
    Kriesch: Das ist schwer zu sagen. Das Militär hat sich in letzter Zeit als nicht sehr glaubhafte Quelle erwiesen. Die haben mehrfach Falschmeldungen rausgegeben und versucht, sie noch mal nach unten zu korrigieren. Auf der anderen Seite wie gesagt: Die Zahl 2.000 wurde nur von einem einzigen Menschen in den Raum geworfen. Die ist möglicherweise auch zu hoch. Aber wie gesagt, das sind alles reine Spekulationen. Vielleicht weiß man es in ein paar Wochen, vielleicht wird man es aber sogar nie rausbekommen, weil die Situation im Nordosten des Landes ist ja schon katastrophal seit mehreren Jahren.
    Heuer: Die Opferzahlen sind das eine, die Schicksale der Menschen etwas anderes. Was berichten die Augenzeugen über die Opfer in Baga?
    Kriesch: Die Opfer in Baga berichten gruseliges, die es geschafft haben, in sichere Städte zu kommen. Die berichten von Massakrierungen von Boko Haram-Kämpfern, die in den Ort gezogen sind und ohne Rücksicht auf Verluste einfach auf alle geschossen haben und versucht haben, alle möglichen Leute umzubringen. Die Leute berichten von Leichenbergen, die sie auf ihrer Flucht gesehen haben. Das sind wirklich sehr, sehr schreckliche Bilder. Aber man muss auch hier noch mal klar machen: Baga ist jetzt nur ein Beispielfall. Das passiert seit Monaten im Nordosten Nigerias, und das fast täglich, dass Dörfer überfallen werden, dass es Anschläge gibt. Ich war selbst häufiger im Nordosten unterwegs und habe dort mit Flüchtlingen gesprochen, die diese Sachen live gesehen haben, und das sind wirklich die gruseligsten Geschichten, die man da hört. Am schockierendsten finde ich eigentlich, dass die Leute nie irgendwelche staatliche Unterstützung bekommen auf ihrer Flucht. Viele Leute erzählen, dass sie komplett auf sich selbstgestellt sind, um in den nächsten größeren sicheren Ort zu kommen, und selbst da gibt es dann noch Probleme bei der Versorgung, dass sie zum Beispiel eine Unterkunft oder auch Verpflegung bekommen.
    "Diese Attacken gibt es seit 2009"

    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Mitglieder von Boko Haram (Bild: AFP) (AFP)
    Heuer: Danach wollte ich Sie fragen. Wie geht die Regierung in Lagos mit den Geschehnissen im Norden des Landes um? Kümmern die sich genug? Ist das eine Unfähigkeit? Kommen die nicht heran? Oder interessieren sie sich nicht genug für die Menschen im Norden Nigerias?
    Kriesch: Mittlerweile muss man ganz klar sagen, dass es eine Unfähigkeit ist, dass die Regierung und auch das Militär das nicht hinbekommen, die Situation unter Kontrolle zu kriegen. Seit 2009 gibt es diese Attacken von Boko Haram und die Regierung überbietet sich seitdem immer mit flotten Sprüchen und Ankündigungen, dass bald alles unter Kontrolle gebracht wird. Es gibt natürlich immer wieder diese Korruptionsvorwürfe, die allerdings sehr, sehr schwer zu belegen sind, aber meines Erachtens zumindest sehr glaubwürdig sind. 20 Prozent des Budgets von Nigeria geht in den Militärhaushalt, trotzdem sehen wir keine klaren Erfolge im Nordosten des Landes, und das ist natürlich ein Indiz dafür, dass das Geld wohl nicht an den richtigen Stellen ankommt.
    "Für die Regierung ist des Nordosten weit weg"
    Heuer: Und woran liegt das? Ich frage das noch mal: Ist das Unfähigkeit, oder ist das so eine Kaltblütigkeit auch der Regierung, die sagt, na ja, das betrifft uns nicht, wir kümmern uns lieber um den Süden des Landes?
    Kriesch: Ich finde, die Unfähigkeit ist schon der stärkste Punkt. Auf der anderen Seite sieht man auch ganz klar, dass die Regierung das Problem nicht ernst genug nimmt. Wir sind hier momentan im Wahlkampf, nächsten Monat sind Wahlen in Nigeria und der Präsident, Goodluck Jonathan, ist eigentlich sehr, sehr stark damit beschäftigt, die Thematik im Nordosten des Landes totzuschweigen. Bei seiner Auftakt-Wahlveranstaltung in Lagos letzte Woche hat er Boko Haram quasi in einem Nebensatz nur erwähnt. Da war es ihm fast schon wichtiger, auf die Geschehnisse in Paris einzugehen. Und das zeigt ein bisschen, wie sehr die Regierung versucht, dieses Thema wegzudrücken und für die Bürger irgendwie nicht existent zu machen. Da kann man im selben Atemzug natürlich auch sagen, dass Nigeria ein riesiges Land ist, 170 Millionen Menschen, und der Nordosten, der betroffen ist, ist nur ein Teil davon. Für Menschen in Lagos beispielsweise ist Boko Haram keine direkte Bedrohung und für sie ist das Problem im Nordosten des Landes auch weit weg.
    Heuer: Herr Kriesch, Boko Haram und der Islamische Staat, der sogenannte, das sind ja ähnliche Phänomene. Der Westen reagiert auf den Islamischen Staat, er bombardiert IS-Kämpfer in Syrien, es gab auch einen Militäreinsatz in Mali. Wo ist der Westen, wenn es um Nigeria geht? Wird er vermisst?
    "Nigerianische Regierung versagt"

    Ein maskierter Mann hält ein Schild mit der Aufschrift "Bring back our girls", in dem Hintergrund der Eiffelturm.
    Gemeinsam gegen die Terroristen von Boko Harman, mit Frankreich an vorderster Front. (dpa/picture alliance/©francois Lafite/Wostok Press)
    Kriesch: Ja offensichtlich nicht seitens der nigerianischen Regierung, denn es gab ja sehr, sehr viele Angebote, als in den Medien die Entführungen sehr stark hochkamen, als diese 200 Mädchen entführt wurden, die jetzt ja schon seit neun Monaten in den Händen von Boko Haram sind, und es gibt immer noch keine Neuigkeiten. Damals gab es viele Länder, die Nigeria Unterstützung angeboten haben und teilweise das auch getan haben, beispielsweise die Amerikaner. Die haben gesagt, okay, wir unterstützen euch dabei, eine Eliteeinheit an Soldaten auszubilden, die dann im Nordosten des Landes agieren kann. Jetzt hat der amerikanische Botschafter mehrfach in der Öffentlichkeit gesagt in den letzten Wochen, das ganze Projekt war ein großer Reinfall, denn die nigerianische Seite hat sich nicht an Absprachen gehalten. Das heißt, die Idee war, dass die Amerikaner Elitesoldaten zur Ausbildung hier herbringen, aber die Nigerianer das Equipment stellen, und das ist bis heute nicht geschehen und das zeigt ein bisschen, dass das ganze Problem letztendlich auf das Versagen der nigerianischen Regierung zurückgeht. Klar kann man sagen, der Westen sollte da proaktiver sein, sollte die Regierung mehr dazu drängen, aber letztendlich muss sich endlich die nigerianische Regierung bewegen.
    Heuer: Adrian Kriesch in Lagos und die Leitung dorthin hatte viele Aussetzer. Ich bin froh, Herr Kriesch, dass sie bis zum Ende gehalten hat. Danke schön.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.