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Bologna-Prozess
"Überbürokratisiertes Monster"

Die Kultusminister und Hochschulrektoren wollen das System der Credit Points flexibler gestalten. In den gemachten Vorschlägen sieht zumindest Mathias Brodkorb, Kultusminister in Mecklenburg-Vorpommern, eher eine weitere Verschlimmerung. Ohnehin seien diese Beschlüsse nicht bindend, sagte er im DLF. Mehr Großzügigkeit in der Abschlussanerkennung könnte eine Lösung sein.

Mathias Brodkorb im Gespräch mit Manfred Götzke | 15.07.2016
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    Eine junge Frau schreibt in einem Seminar an eine Tafel. Die Bologna-Reform mit ihren Bachelor- und Masterstudiengängen wird immer wieder kritisiert. (picture-alliance / dpa / Jens Kalaene)
    Manfred Götzke: Die Bologna-Reform mit ihren Bachelor- und Masterstudiengängen hat man sich mal ausgedacht, um einen europäischen Hochschulraum zu schaffen, damit man problemlos von der Uni Valencia an die Uni Dortmund wechseln kann zum Beispiel. Tatsächlich ist es nicht leichter geworden zu wechseln, sondern fast unmöglich. Die Studiengänge sind zu verschult, das ganze System mit seinen Credit Points sehr bürokratisch. Jetzt haben sich Kultusminister und Hochschulrektoren entschlossen, den Bachelor zu reformieren und die Masterstudiengänge flexibler zu gestalten. Künftig soll nicht mehr das Punktesystem für Vergleichbarkeit sorgen, sondern die einzelnen Kompetenzen der Studierenden. Außerdem sollen Noten in den ersten beiden Semestern keine Rolle mehr spielen.
    Mathias Brodkorb ist Kultusminister in Mecklenburg-Vorpommern. Herr Brodkorb, wird die Bologna-Reform jetzt rückabgewickelt?
    Mathias Brodkorb: Das kann ich überhaupt nicht erkennen, jedenfalls nicht durch den Beschluss, den die KMK jetzt gefasst hat, weil darin aus meiner Sicht eigentlich keinerlei bedeutende Inhalte enthalten sind.
    Götzke: Man kann aus diesem Papier, das ja heute veröffentlicht wurde, zumindest rauslesen, dass die Vergleichbarkeit, das Punktesystem, das ja mal geschaffen wurde, die sogenannten ECTS-Punkte, die sollen in Zukunft nicht mehr entscheidend sein. Stattdessen will man auf Kompetenzen schauen, also man könnte auch sagen, da geht man zurück zur Willkür von Diplom und Magister.
    Brodkorb: Gerade dieser Punkt an dem Beschluss, der von einigen jetzt hervorgehoben wird, ist überhaupt nicht neu, sondern dasselbe befindet sich in Beschlüssen der KMK bereits im Jahr 2010, exakt genau dasselbe, was zwar die Bologna-Konstruktion, auch die ECTS-Konstruktion von Anfang an hochwidersprüchlich gemacht hat, also das ist Teil des Problems. Da sehe ich keinerlei inhaltlichen Fortschritt.
    Götzke: Es gab diese Beschlüsse, sagen Sie, schon vor einigen Jahren. Umgesetzt wurden sie noch nicht. Haben Sie Hoffnung, dass das jetzt passiert?
    Brodkorb: Ehrlich gesagt ist es eine Mischung aus Hoffnung und Befürchtung. Also die Beschlüsse stammen aus dem Jahr 2010, und das Problem, das daraus entsteht, ist Folgendes, wenn ich das kurz sagen darf: Natürlich waren die ECTS immer gedacht als Anerkennungsinstrument, damit man eben Studienleistungen, die zum Beispiel in Spanien erbracht wurden, quantitativ vergleichbar machen kann mit denen, die man in Cambridge oder eben von mir aus in München absolviert. Und indem jetzt gesagt wird, das geht gar nicht mehr um Anerkennung, sondern da stellen wir am Ende die einzelnen Kompetenzen eines Studierenden fest, droht am Ende, dass die Akkreditierung und die Probleme, die wir mit der Akkreditierung haben, noch um Dimensionen überboten werden, denn im Moment müssen ja nur Strukturen akkreditiert werden, also überprüft werden auf inhaltliche Kompatibilität. Wenn man sagt, in Zukunft entscheidet man das nicht mehr anhand von ECTS-Punkten, die studiert wurden, sondern anhand der Kompetenzen, die ein einzelner Student mitbringt, dann wird quasi die Akkreditierung, wenn man so will, von der Struktur, vom Studiengang auf jeden einzelnen Studenten übertragen. Das muss ein Verwaltungsapparat sein, den die Welt noch nicht gesehen hat.
    Götzke: Spielen wir das mal am einzelnen Studierenden durch. Wie soll das denn dann laufen? Soll es dann zusätzlich zu den normalen Prüfungen noch Kompetenzprüfungen geben?
    Brodkorb: Ja, das muss ja so sein. Also Sie müssen dann ja in einem ersten Schritt versuchen, die Module, die ein Student erworben hat oder absolviert hat an der einen Hochschule, vergleichbar zu machen mit Modulen an einer anderen Hochschule. Da aber alle Hochschulen in Deutschland und Europa gleichzeitig dazu aufgerufen werden, einzigartige Studiengangprogramme zu entwickeln, sich zu profilieren, Schwerpunkte zu setzen und so weiter, sind das natürlich völlig widersprüchliche Anforderungen, die auf die Universitäten und Hochschulen niederprasseln. Also ich habe, um ehrlich zu sein, null Vorstellung, wie das ohne völligen Bürokratiewahnsinn funktionieren soll. Auf den Punkt gebracht, man gesteht sich im Prinzip ein, dass das ECTS-System ein völlig überbürokratisches Monster ist. Und anstatt dann dieses ECTS-System zu korrigieren, wird zu einer Hilfshypothese, nämlich dieser Kompetenzanerkennung gegriffen, scheinbar in der Hoffnung, dass es dann besser wird. Also ich fürchte, wenn man das konsequent macht, wird es eher auch schlimmer.
    Götzke: Sie haben es ja schon gesagt, das ECTS-System, das war ja eigentlich geschaffen worden, um Studiengänge europaweit oder auch nur bundesweit vergleichbarer zu machen. Das Gegenteil ist ja angetreten. Also früher war es einfacher, von Diplomstudiengang zu Diplomstudiengang innerhalb von Deutschland zu wechseln. Heute ist das ja fast unmöglich. Was ist denn da eigentlich konkret falsch gelaufen?
    Brodkorb: Man versucht, mit dem ECTS-System die Arbeitsbelastung von Studierenden zu messen. Man muss also für einen Master im Prinzip 300 Punkte sammeln. Und jetzt beginnt schon das Problem, dass wir europaweit, aber auch innerhalb Deutschlands Abweichungen haben dürfen, wie viel Arbeitsaufwand ein ECTS-Punkt denn darstellt, nämlich zwischen 25 und 30 Zeitstunden. Das ist der Bereich, den Sie haben können. Wenn aber die eine Hochschule für einen ECTS-Punkt 25 Arbeitsstunden voraussetzt und die andere 30, dann heißt das Umkehrschluss, dass Sie an der einen Hochschule zwar formal vielleicht sechs Semester studieren für den Bachelor, aber nur einen Zeitaufwand von fünf Semestern haben, während an der anderen Hochschule sechs Semester für einen Bachelor formal da sind und auch studiert werden. Daran sieht man schon, wie absurd das ist. Das ist der erste Punkt. Der Zweite, eine Hochschule muss eine konsekutive Bachelor-Master-Folge in 300 ECTS konstruieren, müssen genau 300 sein, obwohl jeder einzelne ECTS-Punkt eben zwischen 25 und 30 Punkten schwanken kann. Es ist also völlig absurd. Sie können mit einem sechssemestrigen Bachelor aus Hochschule A einen dreisemestrigen Master in Hochschule B machen, haben neun Semester studiert und trotzdem einen Master. Der Hochschule B allerdings ist es verboten, einen neunsemestrigen Master zu machen. Also nur in der Kombination zwei Hochschulen geht das, aber die Hochschule selbst, die den Master anbietet, kann keinen sechssemestrigen Bachelor davorschalten. Daran sieht man schon, wie absurd das System ist und dass wir hier sozusagen mit Notreparaturen versuchen, das am Leben zu halten, es in Wahrheit aber, glaube ich, schlimmer machen.
    Götzke: Sind Sie der einzige Kultusminister, der das für absurd hält?
    Brodkorb: Beschlüsse sind selbstreferenziell und sinnlos
    Brodkorb: Was genau? Ich bin der einzige Kultusminister, der den Beschluss nicht mit gefasst hat, weil ich es in der Tat für selbstreferenziell und sinnlos halte, dass wir Beschlüsse immer wieder fassen, die wir vor sechs Jahren schon mal gefasst haben. Das erinnert mich ein bisschen an frühere Zeiten. Ich komme ja aus der DDR. Da war das auch immer so, dass die Beschlüsse des neunten Parteitages auf dem elften noch mal bestätigt wurden oder so. Das ist sinnlose Arbeit einfach. Es gäbe offenbar eine ganz einfache Lösung, um alle Probleme zu lösen.
    Götzke: Und zwar?
    Brodkorb: Großzügigkeit. Einfach Großzügigkeit, wie das im akademischen Betrieb in Deutschland mal üblich war vor Bologna. Am Ende können Sie doch sagen, Fritz, ich lass dich zum Studium zu, auch wenn du ein Semester weniger hast als vielleicht wir das an unserer Hochschule voraussetzen, und du hast zwei Möglichkeiten: Entweder du bestehst am Ende die Prüfung, bekommst deinen Abschluss oder du bestehst sie nicht. Wo ist eigentlich das Problem?
    Götzke: So ein bisschen mehr Großzügigkeit und Flexibilität steht ja auch in diesen Beschlüssen drin. Noten sollen in den ersten beiden Semestern keine Rolle mehr spielen, es geht nur noch um bestanden oder nicht. Ist das sinnvoll?
    Brodkorb: Was die Benotung angeht, muss ich sagen, da sind wir in Mecklenburg-Vorpommern ohnehin weiter. Bei uns ist das so, dass wir schon vor Jahren unseren Hochschulen ins Gesetz reingeschrieben haben, dass jedes Fach selbst entscheidet, wie viele Module es benotet und wie viele benotete Module in die Endnote eingehen. Wir haben überhaupt nicht diese Starrheit der Interpretation, die es in anderen Ländern gibt, weshalb die HRK jetzt offenbar gerne diesen Beschluss haben möchte. Bei uns legt das jedes Fach in schöner Hochschulautonomie selbst fest. Ich brauche diese Regelung nicht.
    Götzke: Könnten also auch alle anderen Hochschulen in anderen Bundesländern so handhaben, wenn sie wollten?
    Brodkorb: Ja, selbstverständlich. Das geht auch nicht anders als durch Landesgesetz. Sie können so etwas gar nicht durch einen Kultusministerkonferenzbeschluss regeln, weil dieser Beschluss der HRK und KMK ja völlig folgenlos ist. Dieser Beschluss hat keinerlei Konsequenzen für niemanden, weil die Kultusministerkonferenz durch nichts politisch legitimiert ist. Sie kann keine rechtsverbindlichen Beschlüsse fassen. Sie kann Willensbekundungen einzelner Persönlichkeiten, also der Kultusminister auf den Weg bringen, aber dieser Beschluss bindet weder den Landtag von Mecklenburg-Vorpommern oder einem anderen Landtag. Das sind rein symbolische Beschlüsse ohne jede Rechtsfolge. Insofern, wenn Sie mich fragen, welche Konsequenzen hat der Beschluss der HRK und KMK – rechtlich überhaupt keine. Null, nichts.
    Götzke: Es gibt diese Probleme, die Sie beschrieben haben. Haben Sie die Hoffnung, dass sich in anderen Bundesländern was ändert?
    Brodkorb: Also, ich muss gestehen, ich bin ein bisschen skeptisch geworden. Es gibt eine große Mehrheit der Professorenschaft, die die Art und Weise, wie wir Bologna umsetzen, ablehnt und absurd findet. Das kann ich auch total nachvollziehen. Wir geben jedes Jahr große Bildungsstudien in Auftrag mit vielen Millionen Euro über die KMK. Mich würde eigentlich mal interessieren, alle Professoren in Deutschland zu befragen in einer Vollerhebung, was sie von Bologna und der Akkreditierung eigentlich halten. Und dann auch mal zur Politik zu sagen, wenn die breite Mehrheit der Professoren das ablehnt – und da bin ich mir sicher –, dann akzeptieren wir das, weil wir Demokraten sind und verändern das System.
    Götzke: Gibt es irgendwas Gutes an Bologna?
    Brodkorb: Tja, also irgendetwas, was nicht hätte auch im alten System erreicht werden können ohne so großen Aufwand, fällt mir eigentlich dazu nicht ein. Ich habe noch keinen Forscher getroffen aus Mecklenburg-Vorpommern, der gesagt hat, also jetzt, die Studenten sind viel klüger, die Forschung funktioniert viel besser – noch nie. Noch nie ist einer zu mir gekommen und hat gesagt, das ist jetzt richtig super, wir hatten früher folgendes Problem und durch Bologna haben wir folgendes Problem gelöst. Also die Grundsatzideen, einen europäischen Hochschulraum zu schaffen mit Anerkennungsfähigkeit und so weiter, dies ohne Zweifel charmant, aber man hätte das einfach vielleicht undeutsch lösen müssen dadurch, dass man großzügig ist bei Anerkennung, dass man Menschen Chancen gibt, dass sie sich beweisen müssen. Und wenn sie es eben nicht schaffen, fallen sie halt durch, aber diese ganzen überregulierten Verfahren, also die führen am Ende nur dazu, dass sich die Wissenschaftler in einer Art und Weise mit Bürokratie und Verwaltung beschäftigt haben, das, glaube ich, in der gesamten Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch nie der Fall war. Dafür sind die eigentlich nicht eingestellt.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.