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"Bombay Maximum City"

Mit Indien, dem Schwerpunktland der Buchmesse, gerät dieses Jahr eins der zentralen Phänomene unserer Gesellschaftsentwicklung in den Blick: die Megacity, jenes faszinierende und furchterregende Gebilde, das die Zukunft des menschlichen Zusammenlebens darstellt. Unter den fünf indischen Riesenmetropolen ist Bombay mit 16 Millionen Einwohnern im Stadtbereich die "Maximum City" der Welt.

Von Dorothea Dieckmann | 09.11.2006
    Nirgendwo lassen sich die Kräfte der geballten Masse besser studieren als in der Inselstadt am Arabischen Meer, und keiner scheint dazu berufener als ein Einheimischer und zugleich Fremder wie Suketu Mehta. Der heute 43-Jährige verließ die Stadt als Jugendlicher, lebte in verschiedenen westlichen Großstädten und kehrte schließlich mit seiner Familie nach Bombay zurück. Was er vorfand, glich einer Vorhölle:

    "Die Stadt verhält sich feindselig gegenüber Außenseitern und nostalgisch verträumten Heimkehrern. Wir können uns mit unseren Dollars zwar Eintritt verschaffen, aber auch wenn die Stadt nachgibt, verübelt sie uns, dass wir sie dazu gezwungen haben. Die Stadt ächzt unter der Last der vierhundert Menschen pro Quadratkilometer. Sie will mich genauso wenig wie den ärmlichen Migranten aus Bihar, aber sie kann keinen von uns hinauswerfen. Daher macht sie uns das Leben schwer durch eine Art von Guerillakrieg, durch ständige Nadelstiche, durch die tägliche Erzeugung kleiner Krisen. All diese Ärgernisse schwellen in uns zu einer mörderischen Wut."
    Suketu Mehta hat der Stadt, die ihr Gesicht in den 22 Jahren seiner Abwesenheit bis zur Unkenntlichkeit verändert und gleichwohl mannigfache Erinnerungen gespeichert hat, den Spiegel vorgehalten und ein umfassendes Stadtporträt verfasst. Die Mischung aus persönlichem Bericht, Reportage und essayistischer Analyse erinnert der Form nach an die traditionellen Reisepanoramen, in denen sich das subjektive Erleben mit dem Interesse des Soziologen zu einem so mitreißenden wie instruktiven Gesamteindruck verbindet. Nachdem sich der Rückkehrer mit seiner Familie in den hindernisreichen Alltag eingefädelt hat, wird allerdings schnell klar, dass sich Mehta der Stadt über ihre Extreme annähert: Kriminalität und Polizei, Sexbusiness und Filmwelt. Mit Laptop und Rucksack bewaffnet, dringt er in diese klandestinen Milieus ein und bewegt ihre großen und kleinen Protagonisten mit so viel Einfühlsamkeit wie Dreistigkeit zum Sprechen:

    "Ich habe eine einfache Methode, die Jungs aus den Banden zum Erzählen ihrer Geschichten zu bringen: Ich werde ihr Leben in Spielfilmen verarbeiten. Das ist keine Lüge; ich stehe in Kontakt mit Regisseuren, die mit mir Filme über die Unterwelt machen wollen. Es liegt an mir, an die Geschichten zu kommen. Aber lässt sich das Leben eines Gesetzlosen überhaupt zur Kunst erheben?"
    Mehta begleitet seine Gesprächspartner als teilnehmender Beobachter, als Kunde und Kollege, Freund und Interessent, und arbeitet sich bis zu den großen Männern im Hintergrund vor, sei es Bel Thackeray, der Führer der faschistischen Hindupartei Shiv Sena, seien es die Bosse der großen hinduistischen und muslimischen Mafiabanden, deren untere Chargen unbefangen von ihren zahlreichen Morden erzählen. Er freundet sich mit einer Diva des Rotlichtmilieus an und lernt die gefeierte Tänzerin Honey kennen, die im Privatleben ein verheirateter Mann ist. Er verfolgt den Aufstieg eines Slumbewohners und erlebt die Verwandlung eines Jaina-Diamantenhändlers in einen wandernden Bettelasketen. Er arbeitet mit Hindi-Filmregisseuren zusammen und pflegt die Bekanntschaft mit dem Polizisten Ajay, der nach den verheerenden Bombenanschlägen von 1993 zum Ermittler wurde. Mehta selbst wird Zeuge, wie Verdächtige gedemütigt und misshandelt werden.
    "Was soll ich von Ajay halten? Er ist ein brutaler Verhörspezialist; das habe ich selbst erlebt. Aber Ajay ist mir auch zum Freund geworden. Unklar bleibt, wie weit er bei der Folter von Menschen geht. Man könnte sich dabei beruhigen, dass er nur Männer schlägt, von denen er weiß, dass sie Kriminelle sind, und dass er sie nur mit einem Lederriemen schlägt oder ihnen von seinen Leuten Elektroschocks verabreichen lässt - dass er ihnen also Schmerzen zufügt, die sie nicht dauerhaft schädigen. Es ist offenkundig, dass Ajay die Folterungen, die Teil seiner Arbeit sind, nicht genießt. Ich habe nie erlebt, dass er selbst jemanden geschlagen hätte, er hat immer nur anderen befohlen, zuzuschlagen."
    Zwar geht aus den Recherchen eindeutig hervor, dass Bombays Polizei kaum anders operiert als die Mörderbanden, die sie verfolgt, doch solche Passagen zeigen, dass die Sympathie des Autors zu seinen Figuren das kritische Vermögen behindert. Auch ertappt man ihn bei mancher Eitelkeit, wenn er sich seiner Nähe zu Bollywood oder den Edel-Bardamen der Stadt rühmt; zudem wünschte man sich oft eine weniger redundante Darstellung. Am eindrücklichsten an diesem eindrucksvollen Buch bleiben die Berichte aus dem "normalen" Alltag, der für hiesige Begriffe extremer ist als die erwartbare Exotik der Extreme selbst. Diese Normalität ist es, die den Schriftsteller nach zweieinhalb Jahren zurück in die USA treibt - auch wenn er den Abschiednehmenden zustimmt:

    "Wie kannst du nach alldem wieder nach New York zurückkehren?" fragen mich die Schauspielerinnen, Buchhalter, Huren und Auftragskiller. "New York wird dich langweilen."

    Suketu Mehta: Bombay Maximum City.
    Aus dem Englischen von Anne Emmert, Heike Schlatterer und Hans Freundl. Suhrkamp Verlag 2006, 782 S.