Aus den Feuilletons

Vom Bewusstsein über die Brennnessel

04:20 Minuten
Ein großes Beet mit Brennnesseln
Über den Schmerz ins Bewusstsein: Durch das Brennen auf der Haut wüssten wir schon seit Urzeiten von der Brennnessel, schreibt die FAZ. © imago images / Martina Raedlein
Von Tobias Wenzel · 24.06.2021
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In den Feuilletons gibt es diesmal kein Lob: weder Freudiges über Ausstellungen noch über das neueste Buch von Sebastião Salgado. Auch die Brennnessel bereite Schmerzen, schreibt die FAZ. Ihre Wehrhaftigkeit habe sich in unser Bewusstsein eingebrannt.
"Kommt nach dem Kampf gegen das Virus der kalte Bürgerkrieg?" fragt in großen Lettern das Feuilleton der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG.
Ach, nee! Lieber gar nicht erst den Artikel lesen. Der macht bestimmt schlechte Laune. Nach dem Kampf gegen das Virus kommen sicher tolle Kunst und Kultur. Und am 20. Juli bereits die Ausstellung "Berlin Global" im Humboldt Forum. Journalisten durften schon jetzt einen Blick hineinwerfen.

Kunstwerk für das Gemeinschaftsgefühl

"Höhepunkt" sei ein "interaktives 'Rad der Geschichte'", das erst dann Bilder an die Wände werfe, wenn mindestens vier Besucher gleichzeitig an ihm drehten, berichtet Christian Schröder im TAGESSPIEGEL.
"So soll für einen kurzen Moment ein Gefühl von Gemeinschaft und Solidarität entstehen. So simpel kann Didaktik sein."
Vielleicht hat der Kollege Nikolaus Bernau ja dieselbe Ausstellung viel positiver gesehen. Der Rundgang mache "fun", schreibt Bernau tatsächlich in der BERLINER ZEITUNG. Allerdings zitiert der Kritiker mit dem Wort "fun" angewidert Paul Spiess, den Direktor des Stadtmuseums Berlin. Der hat Bernau zufolge gesagt, zu viel "Differenziertheit" schade der "Erzählung". Man solle doch als Besucher der Ausstellung auch "fun" haben.
Dem Kritiker vergeht aber der Spaß bei so viel Undifferenziertheit: "Wir lernen Berlin als heitere Stadt des Volksvergnügens, der jüdischen Schriftsteller und Regisseure kennen – aber wo ist das Gegenbild, das Nazi-Berlin der großartigen Theater von Gustav Gründgens, der Filme von Marika Rökk, Zarah Leander, des seinerzeit sehr erfolgreichen Hetzers Veit Harlan?", fragt Nikolaus Bernau und ergänzt:
"Bei der Vorstellung des Projekts wurde ungeheuer viel Wert gelegt auf geschlechterneutralisierende Sprachformen. Aber im wirklich tollen Saal über die Modegeschichte bricht diese Neutralität vollständig in sich zusammen, wird Mode als rein weibliche Angelegenheit vorgestellt. Das ist einfach nur peinlich."
Nicht nur Genderideologie kann einer Ausstellung schaden. Auch "der postkoloniale Diskurs", erfährt man aus dem Artikel, den Andreas Platthaus für die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG über die Dresdner Ausstellung "Sprachlosigkeit" geschrieben hat.

Leere Vitrinen gegen koloniale Traumata

Es geht um Traumata, die historische Menschheitsverbrechen ausgelöst haben. Dass es unter den Ausstellungsmachern interne Kämpfe gegeben hat, liest Platthaus aus der Mitteilung heraus, die er "in einer Vitrine mit zugeklappten Fotoalben des in Namibia eingesetzten, entsetzlichen deutschen Kolonialoffiziers Georg Maercker" entdeckt hat:
"Nach intensiven Auseinandersetzungen mit unterschiedlichen Akteur*innen haben sich die Initiator*innen der Ausstellung dagegen entschieden, die Darstellungen der kolonialen Gewalt in den Fotoalben offen zu zeigen." Und weiter: "Neben den an den Menschen verübten Grausamkeiten zeigen sie die Leerstellen, die die deutsche Kolonialherrschaft der (Erinnerungs-) Landschaft Namibias hinterlassen hat."
"Wie die aussehen, wird jedoch gerade nicht gezeigt", verzweifelt Andreas Platthaus.
Und noch ein Verriss!

Die Bedeutung des Amazonas

Bernhard Malkmus hat sich für die WELT "Amazônia" angesehen, das neue Buch des brasilianischen Fotografen Sebastião Salgado.
Der Amazonas werde hier zum "Fetisch für eine verlorene Welt", schreibt der Kritiker. Sein vernichtendes Urteil in der Ein-Wort-Überschrift: "Unterbelichtet". Wer sich für Details interessiert, lese bitte selbst in der WELT nach.
Denn irgendwann reicht es auch mal mit den vielen Berichten vom Scheitern. Drum zum Schluss wie immer an dieser Stelle noch etwas Heiteres.
Wie? Gab es nichts Heiteres in den Feuilletons vom Freitag?
Na ja, dann halt noch etwas, das weh tut. Claudia Schülke schreibt in der FAZ über die Große Brennnessel: "Die wehrhafte Urtica dioica hat sich mit ihrer Ameisen- und Kieselsäure, ihrem Histamin und Acetylcholin seit Urzeiten über unsere Haut in unser Bewusstsein gebrannt."
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