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Botschafter der ungarischen Avantgarde

Lajos Kassák war nicht nur eine der wichtigsten Figuren der ungarischen Moderne. Er war ihr Botschafter, wie auch der Titel der Ausstellung in der Berlinischen Galerie und im Collegium Hungaricum Berlin lautet. Die Ausstellung zeigt erstmals Arbeiten aus einer Pariser Privatsammlung.

Von Carsten Probst | 24.07.2011
    "Was André Breton für den französischen Surrealismus ist, das bedeutet der Name Lajos Kassák für die ungarische Avantgarde nach dem Ersten Weltkrieg", schrieb einmal eine Kritikerin, und das ist fast noch eine Untertreibung. Denn Lajos Kassák knüpfte seine Netzwerke über Landesgrenzen hinweg, vor allem nach Deutschland, und zählte zwischen 1910 bis zum Beginn der kommunistischen Revolution in Ungarn zu den führenden Köpfen der Moderne in Mitteleuropa. Warum sein Name dennoch bei uns kaum bekannt ist, im Gegensatz zu denen anderer moderner Vorreiter wie Laszlo Moholy-Nagy oder auch Victor Vasarely? Geht es nach dem Schriftsteller György Dalos, dürfte ein produktives Missverständnis dafür verantwortlich sein.

    Dann nach der Niederschlagung der kurzen ungarischen Räterepublik 1919, die für Kassák so etwas wie Erfüllung seiner politischen Träume dargestellt hatte, war er nach Wien geflohen. Sieben Jahre lang hoffte er dort aber vergeblich darauf, mit seinen Zeitschriften und seiner künstlerischen Arbeit wieder Fuß zu fassen und seinen alten Einfluss auf die Intellektuellen zurückzugewinnen, den er in der Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg gehabt hatte. Kassák fühlte sich zunehmend isoliert und kehrte nach Ungarn zurück, überdauerte dort die faschistische Phase und glaubte dann anscheinend mit der Einnahme Ungarns durch die Rote Armee an eine Rückkehr zur kommunistischen Räterepublik.

    Er schloss sich den jungen Kommunisten an, proklamierte wieder seine avantgardistischen Thesen von der Revolution in der Kunst, und scheiterte damit auf ganzer Linie. Die ungarischen Stalinisten hassten Kassák, sie hielten seine experimentelle Lyrik, sein Manifest und seine konstruktivistischen Bilder, die auch vom Dadaismus beeinflusst waren, für dekadent und letztlich bourgeois. Und so versank Kassáks Name und Werk erneut in der Versenkung, nahezu abgeschnitten von jeder weiteren Außenwirkung, auch wenn in den 80er-Jahren vor allem in der Schweiz und in Westdeutschland in Ausstellungen an sein modernes Frühwerk erinnert wurde.

    Lajos Kassák steht für den frühen, einflussreichen Versuch, die gesellschaftlichen Utopien des russischen Konstruktivismus um El Lissitzky oder Alexandr Rodschenko in Europa zu verbreiten. Über seine aktivistischen Zeitschriften Tett ("Die Tat") oder MA ("HEUTE") kreierte er künstlerische und intellektuelle Netzwerke, die über Lazlo Moholy-Nagy auch Einflüsse auf die Programmatik des frühen Bauhauses nahmen. Moholy-Nagy war es auch, der Kassáks Reise nach Berlin organisierte, wo er 1922 Kontakte zum Kreis um Herwarth Waldens Zeitschrift "Der Sturm" knüpfte, in dessen gleichnamiger Galerie ausstellte und zahlreiche Mitglieder des einstigen "Arbeitsrates für Kunst" traf, dessen chiliastischer Utopismus sich allerdings von dem unterschied, woran Kassák seit seinen frühen Jahren als experimenteller Lyriker und Verfasser von Arbeiterromanen geglaubt hatte. Kassák, so scheint es, glaubte lange an die Möglichkeit einer Koexistenz von revolutionärer Kunst und Politik, also einer Kunst, die nie Parteikunst werden würde.

    Aber durch das Ende der Räterepublik in Ungarn war er während seiner Berliner Zeit bereits desillusioniert. Und auch die Berliner Avantgarde zeigte zu dieser Zeit bereits erste Anzeichen der inneren Auflösung.

    Solche flirrenden, hyperaktiven Netzwerke, in denen jeder mit jedem unter hohen avantgardistischen Zielen zusammenarbeitete, hatte es vor und nach dem Ersten Weltkrieg gegeben. Lajos Kassák steht aus heutiger Sicht dabei für die ideelle Brücke zwischen Ost und West deren Gemeinsamkeit unter dem Ideengut der europäischen Avantgarden später im Kalten Krieg völlig in Vergessenheit geriet.

    Er steht zugleich für das geheime Fortexistieren dieser einstigen modernen Avantgarden unter den sozialistischen Regimen, die diese Tendenzen unterdrückten. Kassák saß nach 1948 im offiziell kommunistischen Ungarn zwischen allen Stühlen. Er war als Künstler isoliert, durfte nicht ausstellen, beteiligte sich andererseits aber auch nicht an neuen Bewegungen wie dem Ungarnaufstand um Imre Nagy. Er hatte keine Optionen mehr und starb fast unbekannt 1967.

    Die jetzige Ausstellung in der Berlinischen Galerie und im Collegium Hungaricum Berlin ist überfällig. Mehr als 20 Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes scheint die Moderne Geschichte Mitteleuropas immer noch geteilt zu sein. Welch Irrtum.
    Mehr Informationen:
    Berlinische Galerie
    Collegium Hungaricum Berlin