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Boykott zum eigenen Schaden

Vor 200 Jahren ordnete Napoleon in Berlin ein Handelsembargo gegen England an. Mit dieser Kontinentalsperre sollte die Macht, die dem französischen Eroberer bislang hartnäckig Widerstand geleistet hatte, in die Knie gezwungen werden. Doch die Rechnung ging nicht auf.

Von Volker Ullrich | 21.11.2006
    Ende Oktober 1806, nach der preußischen Niederlage in der Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt, zog der französische Kaiser Napoleon Bonaparte in Berlin ein. Drei Wochen später, am 21. November, erließ er von hier aus ein Dekret, das eine totale Wirtschaftsblockade gegen England verhängte, die so genannte Kontinentalsperre.

    "Der Handel mit englischen Waren ist verboten. Jede aus England kommende
    oder aus seinen Fabriken und seinen Kolonien stammende Ware wird als Beute erklärt. (...) Kein direkt aus England oder aus den Kolonien kommendes Schiff wird in einem unserer Häfen aufgenommen."

    Napoleon hoffte, auf diese Weise Englands Handel und Industrie so stark in Mitleidenschaft ziehen zu können, dass die erste Seemacht unter den Nationen sich gezwungen sehen würde, klein beizugeben. Bis Ende 1807 waren alle europäischen Staaten mit Ausnahme von Schweden der Kontinentalsperre beigetreten. Die Folgen des Embargos machten sich in England rasch bemerkbar. Der Export britischer Waren ging stark zurück, ebenso der Handel mit Produkten aus den Kolonien. Besonders die Textilindustrie lag danieder; in Lancashire brachen im Sommer 1808 Unruhen aus. Napoleon glaubte sich bereits am Ziel seiner Wünsche.

    "England muss zusehen, wie seine Waren von ganz Europa zurückgewiesen werden und seine mit nutzlosen Reichtümern beladenen Schiffe durch weite Meere irren, die sie zu beherrschen glauben; sie suchen zwischen dem Öresund und Hellespont vergeblich einen Hafen, der sie aufnimmt."

    Doch der Eroberer triumphierte zu früh. Es gelang der englischen Wirtschaft, sich neue Märkte vor allem in Süd- und Nordamerika zu erschließen. Überdies funktionierte die Kontinentalsperre nie lückenlos. Trotz rigoroser Kontrollen entwickelte sich ein schwunghafter Schmuggel. Britische Waren wurden über die Türkei und den Balkan nach Wien gebracht und von hier aus zu den Messeplätzen in Leipzig und Frankfurt am Main. Zu einem Eldorado des Schleichhandels wurde die kleine Insel Helgoland, die die Engländer 1807 den Dänen abgenommen hatten. Im Herbst 1808 lagerten hier Kolonialwaren im Wert von über einer Million Pfund Sterling: Kaffee, Kakao, Zucker, Pfeffer, Indigo, Baumwolle. Mit Hilfe Hunderter kleiner Schiffe gelangten die Waren aufs Festland. Wie sich der Schmuggel vom dänischen Altona ins von Frankreich besetzte Hamburg vollzog, schildert ein zeitgenössischer Bericht:

    "Da schürzten sich die Weiber, um Kaffeebohnen in ihre Strümpfe zu schüttten und kleine Beutelchen mit dieser Ware überall unter den Kleidern zu befestigen; da füllte ein Knabe die löcherigen Hosen mit Pfeffer, andere gossen Sirup in ihre Stiefel, ja man will Weiber in ihr schwarzes Zottelhaar, unter der Mütze, Puderzucker haben verbergen sehen. (…) Es sind auf diese Weise ungeheure Quantitäten hineingeschafft worden."

    Um die Küsten wirksamer zu kontrollieren, sah sich Napoleon zu einer weiteren Ausdehnung seines Herrschaftsbereichs gezwungen. 1810 wurde Holland annektiert; 1811 folgte die Angliederung Norddeutschlands mit den Hansestädten Bremen, Hamburg und Lübeck. Doch immer deutlicher bekam nun auch Frankreich die Auswirkungen der Kontinentalsperre zu spüren. Während einige Industriezweige vom Wegfall der englischen Konkurrenz profitierten, litten vor allem die Hafenstädte unter dem Niedergang des Handels.

    "Jetzt herrscht hier Totenstille,"

    heißt es in einem Bericht aus La Rochelle 1809.

    "Man geht durch die Straßen, ohne eine Menschenseele zu treffen.(...) Die auf die Hälfte zusammengeschrumpfte Bevölkerung bleibt in ihren Häusern, weil es außerhalb nichts zu tun gibt."

    Napoleon versuchte die Folgen zu mildern, indem er 1810 Ausnahmeregelungen einführte. Danach war es französischen Schiffseignern gegen Lizenzgebühren erlaubt, Getreide, Wein und Spirituosen nach England auszuführen unter der Bedingung, dass sie in der Höhe des gleichen Werts Kolonialwaren und andere benötigte Güter einführten. Auf diese Weise hielt Frankreich einen, wenn auch bescheidenen Warenaustausch mit England aufrecht, während es gleichzeitig den Vasallenstaaten eben diesen Handel untersagte.

    Für das endgültige Scheitern der Kontinentalsperre sorgte jedoch Russlands Zar Alexander I., als er Ende 1810 aus der Boykottfront ausscherte und die russischen Häfen für Schiffe mit englischen Waren öffnete. Napoleons Antwort lautete: Krieg. Doch das Desaster seiner Grande Armée in den Weiten Russlands 1812 beendete alle Träume von einer vollkommenen Beherrschung des Kontinents. So hatte der Versuch, durch einen Wirtschaftskrieg bislang unbekannten Ausmaßes England in die Knie zu zwingen, sich am Ende gegen Napoleon selbst gekehrt und seinen Untergang beschleunigt.