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Catherine Millet: "Traumhafte Kindheit"
Von kleinen Fluchten einer zersplitterten Familie

Catherine Millet ist gar nicht in erster Linie Schriftstellerin, sondern Kunstkritikerin. Ihr jüngstes Buch "Traumhafte Kindheit" erzählt weniger von Träumen als von einer durchaus herben Realität: einer zersplitterten Familie, beengten Verhältnissen, aber auch von den zahlreichen kleinen Fluchten, die dieses Leben lebenswert machen.

Von Martin Krumbholz | 20.11.2017
    Catherine Millet sitzt auf einem Stuhl, Kopf leicht geneigt, in ihrem Wohnzimmer in Paris
    Catherine Millet ist in erster Linie Kunstkritikerin, hat aber nun mit "Traumhafte Kindheit" einen weiteren ihrer autobiografischen Romane vorgelegt – und einen bemerkenswert erzählten. (imago stock&people)
    Dass es sich bei der Ich-Erzählerin dieses zweifellos autobiografischen Buchs mit dem sonderbar unerklärlichen Titel "Traumhafte Kindheit" - denn welche Kindheit ist schon traumhaft, bestenfalls ist sie doch verträumt – dass es sich also bei dieser Catherine Millet um eine sinnliche Person handelt, entdeckt man schon auf der allerersten Seite, wenn sie die Babyfingerchen ihres frisch geborenen Bruders auseinanderfaltet. Es ist das Jahr 1951, die kleine Familie lebt mit der Großmutter mütterlicherseits in einer Zweizimmerwohnung in Bois-Colombes, einer Kleinstadt in der Nähe von Paris. Das erste Kapitel handelt von der Vorschulzeit, aber strikt chronologisch verfährt die Erzählerin nicht. Und dann teilt sie über ihre erste Klassenlehrerin mit, die sei eine hübsche junge Frau gewesen, jünger als ihre Mutter und auf die gleiche Art frisiert ...
    "Einmal nutzte ich den Tumult am Ende des Unterrichts und hängte mich in einem Anflug fröhlicher Zuneigung an ihren Rock, hielt das Gesicht hin, forderte mit einer solchen Inbrunst Küsse ein, dass sie sich einigermaßen fassungslos, doch freundlich zu mir neigte und fragte, ob ich denn zu Hause keine bekäme."
    Offensive Sinnlichkeit der Erzählerin als roter Faden
    Doch, Catherine wird auch zu Hause geküsst, und die Zweite, die einigermaßen fassungslos auf die Episode reagiert, ist die Mutter, die prompt darüber informiert wurde. Man wird sogar zur Direktorin zitiert. So schlägt kindliches Begehren hohe Wellen, und der Leser ahnt, dass die offensive Sinnlichkeit der Erzählerin einen roten Faden ausmachen wird, der sich durch die Geschichte zieht – eine Geschichte, die von der Herkunft handelt, von sozialer Verortung, erwachender Sexualität und schließlich von der Liebe zur Literatur, die vielleicht die größte Liebe dieses Lebens sein wird.
    Catherines Mutter Simone ist Sekretärin, der Vater Louis zunächst Autohändler, später Fahrlehrer: Es sind kleinbürgerliche Verhältnisse, in denen das Kind seinen Lebensfaden aufnimmt, aber keine sogenannten geordneten Verhältnisse; es gibt hier viel Raum für detektivischen Ehrgeiz. Zum Beispiel ist Louis nicht der Vater des Brüderchens Philippe. Die Eltern haben 1939 geheiratet, wenige Tage vor dem Stahlpakt zwischen Deutschland und Italien, wie die Erzählerin anmerkt. Dann kam der Krieg, Louis geriet für fünf Jahre in Kriegsgefangenschaft, bis zum 1. Mai 1945.
    Beinahe-Verwandlung einer "fast linkischen jungen Frau"
    Anhand von Fotografien rekonstruiert die Erzählerin das gar nicht so traurige Leben ihrer Mutter während der Besatzungszeit:
    Bei einem Spaziergang in Paris, durch einen Park oder am Ufer der Seine, posiert sie allein in der Bildmitte, stehend oder sitzend, immer gut gekleidet, besonders stilvoll sogar. Es ist Frühling oder Sommer, ein sehr schöner Tag. Die Fotografien bilden bestimmte Sequenzen: Fünf oder sechs wurden eindeutig am selben Tag am selben Ort aufgenommen; auf allen ist der gleiche Parkstuhl mit arabesk verzierten Armlehnen zu erkennen (…). Es ist ein Spiel, sie hat mehrere Parkstühle ausprobiert, sich auf den Rasen gesetzt, ist nähergekommen, bis der Fotograf "Stopp!" gesagt hat; an ihrer Mimik kann man vielleicht nicht das Hin und Her der Ausrufe ablesen, zumindest aber ihre Erwiderungen: "Hier?", "So?"
    Die Erzählerin zieht ihre Schlüsse, doch es ist nicht etwa nachgetragener Moralismus, der sie steuert; vielmehr dienen ihr die rekonstruierten Erlebnisse der Mutter als Projektionsfläche für sich selbst: Da verwandelt sich eine "zunächst fast linkische junge Frau", die langsam lernt, ihre Beine übereinander zu schlagen, beinahe in eine "romantische Heldin".
    Auf einem Foto vom August 1944 trägt sie eine weiße Bluse, einen Blumenrock und riesige Ohrclips, das Haar ist helmartig hochgesteckt, aus dem Glanz und der Festigkeit ihres Blicks spricht die Erregung.
    Beziehung zur Mutter bleibt ambivalent - oder auch spannend
    Die Ehe der Eltern bleibt unglücklich, nach 35 Jahren wird sie geschieden. Catherines Verhältnis zu ihrem Vater ist nicht unzärtlich, das zu ihrem Halbbruder Philippe von Streit und auch von körperlicher Gewalt geprägt; die Beziehung zur Mutter Simone aber bleibt ambivalent, man könnte ein wenig salopp auch sagen: bleibt spannend. Simone, die durch Selbstmord enden wird, ist eine eigenwillige Person, liebevoll und sinnlich, wie gezeigt, aber auch schroff. Einmal nennt sie ihre halbwüchsige Tochter, die bei einer Freundin übernachtet hat, wenn auch nur murmelnd eine "sale petite gousse", eine kleine Dreckslesbe.
    Simone ist offenbar in eigenen moralischen Widersprüchen verhaftet. Catherine, die den Liebhaber ihrer Mutter für einen Klempner hält, weil er gelegentlich einen Wasserhahn repariert, lernt aus alldem, und sie lässt den Leser in diesem großartigen Buch an ihren Lernprozessen teilhaben. Wie solche Lernprozesse in der Regel nicht einsinnig, nicht monokausal verlaufen, ist auch ihr Text in Zirkelstrukturen organisiert, einschließlich eines wunderbaren Gespürs für das "Theatralische" bestimmter scheinbar eindeutiger Zuschreibungen:
    "Im Roman des eigenen Lebens, an dem jeder in seiner Jugend feilt und der weitgehend die ersten Entscheidungen als autonomer Mensch bestimmt, hatte ich die Rolle des Kindes mit zerstrittenen Eltern. Folglich war meine Kindheit unglücklich beziehungsweise unglücklich gewesen. Sie war mein Markenzeichen. Ich akzeptierte diesen mir zugewiesenen Platz nicht nur, ich hielt mich auch daran fest und führte mich auf wie ein Schauspieler, der seine Rolle übertreibt."
    Faden der Fiktion mit eigenem Leben verflechten
    Das letzte Drittel des Buchs handelt von den Wechselwirkungen zwischen Leben und Schreiben, von ersten Lektüren und davon, dass man "den Faden der Fiktion", in die man eingetreten ist, weiterspinnen und mit den Fasern des eigenen Lebens verflechten will. Es ist möglich, dass das Drama des Lebens durch die Verarbeitung zu einer eigenen Erzählung seine "Schicksalhaftigkeit" verliert. Genau das ist hier exemplarisch gelungen.
    Catherine Millet: "Traumhafte Kindheit"
    Aus dem Französischen von Paul Sourzac
    Secession Verlag, Berlin 2017. 238 Seiten, 24 Euro