Freitag, 19. April 2024

Archiv

Erinnerungen einer Ärztin an Tschernobyl (4/5)
Lebensmittel auf dem Prüfstand

Nach der Reaktor-Katastrophe signalisierte die sowjetische Staatsführung, dass sie die Lage in Tschernobyl im Griff habe. Doch bald machte sich das Misstrauen breit: Besonders Lebensmittel waren verdächtig. Bis heute lassen sich etwa in Pilzen und Wildfleisch erhöhte Cäsiumwerte nachweisen.

Von Frederik Rother | 16.11.2017
    Paulina Zerluk und Tatjana Grabarova in der Koblenzer Fußgängerzone
    Paulina Zerluk und Tatjana Grabarova in der Koblenzer Fußgängerzone (Deutschlandfunk / Frederik Rother)
    "300 Gramm diese, und diese. – Hiervon 300 Gramm, von den Zwetschgen? Gern!"
    Paulina Zerluk stützt sich auf ihren Gehstock, sie steht vor einem Verkaufswagen in der Koblenzer Innenstadt. Es ist Markttag. Obst und Gemüse aus der Region werden hier angeboten. Bei dem jungen Mann hinter der Theke bestellt sie: Zwetschgen, Trauben, Tomaten.
    "Das war's für Sie? Dann haben wir zusammen 6,10 Euro. Soll ich Ihnen das in eine Tasche packen?" – "Ja, danke. Wieviel haben Sie gesagt kostet?" – "6,10 EUR." – "Das ist nicht so teuer. Danke. Ich habe gedacht, dass das teurer ..."
    Paulina Zerluk geht selten auf den Markt – wegen der Preise. Sie lebt von der Grundsicherung, einige Hundert Euro hat sie im Monat zur Verfügung.
    Aber in der Ukraine, erzählt sie mit einem Blick auf die reiche Auslage, hat sie gerne frisches Obst und Gemüse auf dem Markt gekauft.
    "In der Ukraine auch sehr gute, gute Gemüse. Ukraine reich an Lebensmitteln, Gemüse, Früchte – an allem."
    Die Ukraine wurde nicht umsonst als "Kornkammer der Sowjetunion" bezeichnet:
    "Weil in Ukraine hat Umgebung Dnipr, Schwarzes Meer und Erde ist schwarz. Und sehr gute Klimat."
    Radioaktive Elemente in Lebensmitteln
    Das änderte sich durch den Atomunfall in Tschernobyl. Große Mengen an Cäsium und Strontium wurden freigesetzt. Wind und Regen transportierten die radioaktiven Elemente auch in entferntere Regionen, die Stoffe gelangten in den Erdboden – und damit in Lebensmittel. In der Ukraine, wie auch in Teilen Europas.
    Paulina Zerluk erinnert sich noch gut daran, wie sich die Menschen in der Ukraine nach der Katastrophe schützen wollten.
    "Erste Zeit, wir versuchen nur im Geschäft zu kaufen. Nicht auf dem Markt. Wir waren nicht sicher, dass diese Lebensmittel, besonders Pilze, nicht aus der Zone, wo Radiatsja war. Nur im Geschäft das sicher."
    Eine der Vorsichtsmaßnahmen: in den Geschäften nach der Herkunft der Waren fragen:
    "Immer wieder wir fragten, woher kommen sie? Sie sagen: Andere Richtung, andere Seite von Tschernobyl. Aber die Verkäufer versuchten zu verkaufen. Und darum waren wir nicht sicher ..."
    Veranstaltungen fanden normal statt
    Auch von offizieller Seite gab es kaum Informationen in den Wochen nach dem Unfall. Im Gegenteil: Veranstaltungen wie ein internationales Fahrradturnier oder die 1. Mai-Parade in Kiew fanden normal statt – nur gut 100 Kilometer vom Kraftwerk entfernt. Ein Verbrechen, meint Paulina Zerluk.
    Auf dem kleinen Wochenmarkt in der Koblenzer Fußgängerzone gibt es nur wenige Stände. Brot, Käse und Wurst werden verkauft. Eine Kaffeebar und einen Pizzabäcker gibt es noch.
    Paulina Zerluk fällt auf, mit ihrer türkisfarbenen Sportjacke und der schwarzen Gymnastikhose. Kein typisches Seniorenoutfit. Sie steht noch immer am Obst- und Gemüsestand. Und schaut auf die prall gefüllten Plastikkisten:
    "Äpfel, Birnen, Tomaten, Orangen und Paprika, Zucchini."
    Das Obst und Gemüse hier kommt aus der Region, sagt der Verkäufer.
    Nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl 1986 protestierten bayerische Bauern gegen Maßnahmen zur Schadensverhütung
    Reaktorunfall in Tschernobyl: Proteste bayerischer Bauern (picture alliance/ dpa/ Martina Hellmann)
    Cäsium-Werte über dem Limit
    Trotzdem: Die Folgen von Tschernobyl sind auch in Deutschland noch immer nachweisbar: Bis heute werden Cäsium-Werte gemessen, die über dem offiziellen Limit liegen. Das betrifft Pilze und vor allem Wildfleisch. Das gleiche gilt für Russland, Weißrussland und die Ukraine. Etwa 150.000 Quadratkilometer sind hier radioaktiv verstrahlt – eine Fläche knapp halb so groß wie Deutschland.
    Dagegen könne man nicht viel machen, meint Paulina Zerluk achselzuckend. Irgendwas müsse man ja schließlich essen. Die Menschen in der Ukraine haben sich damals mit dem Unglück arrangiert, erzählt sie. Und nach einiger Zeit wieder überall eingekauft:
    "Die Menschen müssen sich abfinden, für immer. Das nicht nur für ein, zwei Jahre. Und darum man muss leben."
    Paulina Zerluk hat sich auf einen Stuhl neben dem Obst- und Gemüsestand gesetzt. Dann steht zufällig Tatjana Grabarova vor ihr. Eine ukrainische Freundin. 83 Jahre alt, feuerrote Haare, pinker Lippenstift.
    Tatjana Grabarova kommt aus Odessa, im Süden der Ukraine am Schwarzen Meer. Auch sie erinnert sich gut an den Atomunfall, sie war an dem Tag in Kiew auf Dienstreise.
    "Natürlich hatten wir Angst. Ich war aber auch gekränkt und empört. Weil das keiner vorhergesehen hat. Mich schmerzt das in der Seele, wenn ich daran denke, dass wir gezwungen waren, Odessa und das Schwarze Meer zu verlassen. Das ist meine Heimat."
    Wut auf die Behörden
    Sie hat die Ukraine nicht wegen des Atomunfalls verlassen. Wie Paulina kam sie mit ihrem Mann als jüdischer Kontingentflüchtling. Es waren die Lebensumstände und die Wut auf die Behörden, die sie hierher geführt haben. Genau die Behörden, die kaum Informationen zum Unfall im Kernkraftwerk herausgegeben haben.
    Inzwischen kauft sie wieder unbefangen ein, erzählt Tatjana Grabarova: Jetzt gehe ja keine Gefahr mehr von den Lebensmitteln aus. Das hoffe sie zumindest, schiebt sie noch hinterher.
    "Ich denke nicht, das will ich zumindest hoffen."
    Und auch Paulina Zerluk verdrängt beim Essen die Gedanken an Tschernobyl:
    "Mein Liebling bis heute Kartoffel. Kartoffel, schwarzes Brot und Knoblauch. Und vielleicht Hering, das ist Seledka."