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Brasilien
Aufarbeitung der Militärdiktatur

Um die Verbrechen der Junta aufzuklären, wurde in Brasilien eine Wahrheitskommission ins Leben gerufen. In diesem Zusammenhang steht auch die Exhumierung des 1964 von den Militärs gestürzten Präsidenten João Goulart.

Von Kersten Knipp | 07.12.2013
    Militärs tragen eine Sarg mit einer brasilianischen Flagge
    Militärische Ehre für den 1964 von den Militärs gestürzten Präsidenten Joao Goulart (picture-alliance/dpa/Fernando Bizerra Jr)
    Staatspräsidentin Dilma Rousseff, ihr Vorgänger Luiz Inácio Lula da Silva, dessen Vorgänger Henrique Cardoso und andere Repräsentanten der brasilianischen Staats: Sie alle hatten sich versammelt, als im November die sterblichen Überreste João Goularts exhumiert wurden, des letzten demokratisch legitimierten Präsidenten des Landes vor dem Militärputsch im Jahr 1964. Eine forensische Untersuchung soll klären, wie der am 6. Dezember 1976 verstorbene Goulart zu Tode kam: durch Herzversagen – oder durch einen Giftanschlag, ausgeführt von den Agenten der "Operation Condor“, eines Zusammenschlusses der Geheimdienste von Argentinien, Chile, Bolivien, Brasilien, Paraguay und Uruguay. Alle Länder standen damals unter der Herrschaft von Militärdiktaturen. Manches spricht dafür, dass Goulart ermordet wurde. Bewiesen ist es aber nicht.
    Bei der nun anstehenden Obduktion, erklärt João Vicente Goulart, der Sohn des verstorbenen Präsidenten, gehe es nicht allein um das Schicksal seines Vaters. Ebenso so wichtig sei noch etwas.
    "Es ist von größter Bedeutung, dass Brasilien sich mit seiner Vergangenheit auseinandersetzt. Wir wollen nicht, dass die Erinnerung an die Diktatur durch die Perspektive der damaligen Militärs präsentiert wird. So verstehen wir die Exhumierung meines Vaters João auch als Beitrag zur Auseinandersetzung mit jener Zeit ganz allgemein."
    Erst im letzten Jahr wurde die "Commissão Nacional da Verdade", die "Nationale Wahrheitskommission", gegründet, die die Diktatur in den kommenden Jahren umfassend aufarbeiten soll.
    Dass es so lange dauerte, die Verbrechen aufzuarbeiten, hat konkrete Gründe, erläutert Maurice Politi, Direktor von Núcleo Memória, einem Zusammenschluss ehemaliger politischer Häftlinge und politisch Verfolgter.
    "Das Anliegen des Militärs war es, das Land zu befrieden und zugleich die alte Macht zu erhalten. Darum breitete es den Mantel des Schweigens über die Epoche. Man hörte sehr wenig über diese Zeit, und es wurde auch wenig getan, um sie bekannter zu machen."
    Die zögerliche Aufarbeitung habe Folgen, erklärt Politi.
    "In Deutschland offenbarten die Nürnberger Prozesse der ganzen Welt das Ausmaß der Verbrechen des NS-Regimes. In Brasilien gab es eine solche Aufarbeitung nicht. Darum gibt es bis heute Fälle spurlos verschwundener Menschen. Das hat keine politischen Gründe mehr - heute verschwinden Obdachlose, Menschen aus den Favelas oder aus dem Umkreis des Drogenhandels. Das hat auch damit zu tun, dass die während der Diktatur begangenen Verbrechen nicht gesühnt wurden. So sind sich viele Menschen des Unrechtscharakters der Diktatur immer noch nicht bewusst."
    Inzwischen hat sich die brasilianische Zivilgesellschaft aber formiert. Sie schaut zurück, aber auch nach vorn. Für João Vicente Goulart hängen Vergangenheit und Zukunft eng miteinander zusammen.
    "Bald beginnt in Brasilien die Fußballweltmeisterschaft. In ihrem Vorfeld erlebten wir große Demonstrationen und Proteste. Es ging um soziale Reformen, etwa im Bereich von Gesundheit und Erziehung. Die Brasilianer wollen, dass die sozialen Fragen genauso ernsthaft angegangen werden wie die Vorbereitungen der WM. Zeitlich fällt die WM mit dem 50. Jahrestag des Militärputsches zusammen. Beides ist Anlass, den Staat zu reformieren."
    Symbolisch hat Brasilien die Regierung Goulart nun wieder ins Recht gesetzt: Ende November beschloss der Nationalkongress, jene Sitzung des Jahres 1964, in der Goulart abgesetzt wurde, für ungültig zu erklären. An den politischen Folgen dieses Tages ändere dieser Entschluss zwar nichts, erklärte der 1930 geborene Kongressabgeordnete Pedro Simon, der bereits die Sitzung 1964 persönlich miterlebt hatte. Aber er gebe ihnen eine neue Deutung. Klar sei nun: An jenem Tag, an dem der Kongress sich herausnahm, den Präsidenten zu stürzen, missachtete er dreist den Willen der Bevölkerung.