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Brasilien
Ein Jahr nach der Giftschlamm-Katastrophe am Rio Doce

Über 50 Milliarden Liter Giftschlamm wälzten sich vor einem Jahr den Rio Doce entlang. Bauern und Fischer, deren Lebensgrundlage durch die Lawine zerstört wurde, warten noch immer auf eine angemessene Entschädigung. Aber dem internationalen Bergbau-Multi Samarco beizukommen, der für das Unglück verantwortlich ist, bleibt schwierig.

Von Anne Herrberg | 04.11.2016
    Ein zerstörtes Haus am 03.11.2016 in Bento Rodrigues, Brasilien. Bei der "Tragödie von Mariana" kam es am 05.11.2015 in einem Eisenerzbergwerk zu einem Dammbruch in einem Rückhaltebecken. Eine riesige Welle mit Schlamm und schädlichen Stoffen ergoss sich in angrenzende Ortschaften und kontaminierte den Fluss Rio Doce.
    Am 05.11.2015 kam es in einem Eisenerzbergwerk zu einem Dammbruch. Eine riesige Welle mit Schlamm und schädlichen Stoffen ergoss sich in angrenzende Ortschaften und kontaminierte den Fluss Rio Doce. (picture alliance / dpa / Isaac Risco)
    Hier war die Einfahrt, dort die Haustür - Tcharle do Carme sucht nach Erinnerungen an sein Elternhaus, eine kleine Farm mit Salatbeeten und Obstbäumen. Heute liegt das alles in Schutt und Ödnis. Nur einzelne Mauern ragen noch aus meterhohem, von der Sonne hartgebackenem Schlamm. Und der Holzrahmen von Tcharles Bett. Die Matratze hat es in die Äste eines Baumes gespült, da hängt sie immer noch.
    "Verwandte von uns arbeiteten beim Bergbauunternehmen Samarco. Und sie riefen sofort an, als dort der Damm des Abraumbeckens gebrochen ist."
    Über 50 Milliarden Liter Schlamm wälzten sich am 5. November vor einem Jahr talabwärts – in Richtung Tcharles Dorf Paracatu de Baixo.
    "Innerhalb von zehn Minuten ging es dann los, es klang wie wenn Dosen auf Steine stoßen, das Wasser stieg an, wie hörten die Hühner schreien. Ich sagte zu meinem Vater: Du, das Hausdach schwimmt. Und innerhalb von 20 Minuten war alles voll Schlamm, alles blieb erstarrt, nichts bewegte sich mehr."
    Mindestens 19 Menschen und Dutzende Dörfer begrub die Lawine unter sich. Dazu hat der Schlamm das Leben in einer ganzen Region vergiftet. Tcharle, seine Nachbarn, 300 Familien aus den zerstörten Dörfern, die meisten Bauern, die vom Ackerbau lebten. Sie alle flüchteten in die Kreisstadt Mariana, in eine Art Asyl: Wohnungen müssen gemietet, Essen teuer im Supermarkt eingekauft werden, eigenes Geld verdient niemand, wo auch? Hauptarbeitgeber in Mariana ist das Unternehmen, von dem Geschädigte wie Luiza Queiroz Schadensersatz fordern.
    Keine ausreichende Entschädigung
    "Hier in der Stadt werden wir nicht gern gesehen, weil Samarco nach dem Unglück Tausende entlassen hat. Jetzt heißt es, wir seien Schuld. Wir seien Faulpelze, die nun von Entschädigungszahlungen leben würden. Es gibt aber immer noch viele, die noch gar nichts bekommen haben. Wir müssen das vor Gericht erkämpfen und dort auch noch Demütigungen über uns ergehen lassen."
    Samarco hat rund 3.000 Euro Soforthilfe gezahlt, dazu kommt ein monatliches Taschengeld und das Versprechen: Die Dörfer werden wieder aufbaut. Es gibt Klageschriften gegen 21 Samarco-Manager und Ingenieure – wegen Mordes sogar. Es gibt auch Klagen auf Schadensersatz in Milliardenhöhe. Der Staat greift durch, so klingt das – doch ob wirklich was passiert, sei fraglich sagt die auf Umweltrecht spezialisierte Juristin Mariangela Matarazzo – umso mehr als Samarco Teil eines internationalen Joint Venture sei. Haupteigner: die britisch-australische BHP und Vale, Brasiliens größter Bergbaukonzern, an dem der Staat große Anteile hält.
    "Das ist ein Hin und Her. Wir dringen nicht zu den wahren Verantwortlichen vor, denn ein transnationales Unternehmen mit einer solchen Macht und dem entsprechenden Team von Anwälten tatsächlich für die Folgen seines Wirtschaftens zu belangen, ist enorm schwierig. Irgendwas wird dabei herauskommen, aber keine wirkliche Entschädigung für das, was passiert ist."
    Wo erhöhte Schwermetallwerte herkommen, ist unklar
    Der Schlamm wälzte sich 650 Kilometer entlang des Flusses Rio Doce bis zum Atlantik, in die Region rund um Regencia. Einst ein Paradies für Surfer. Zê Sabino sorgte dafür, dass auch die Verpflegung stimmte: Frischer Fisch, von Hand hat sie der drahtige von der Sonne gegerbte Fischer aus Fluss und Meer geholt – damals verdiente er umgerechnet fast 1.200 Euro monatlich. Dann brach der Damm und verwandelte die Fischgründe in eine braune Schlammlache – Samarco zahlt Zê zwar Entschädigung, doch es ist nicht mal ein Drittel der Summe, die er vorher zum Leben hatte.
    "Ich verbring meine Zeit seitdem mit Fernsehschauen, furchtbar, lang halte ich das nicht mehr aus. Wir wissen ja selbst nicht, wie die Situation ist, aber wegen der Samarco-Geschichte dürfen wir nicht mehr fischen, es ist verboten, obwohl das Wasser doch wieder klar scheint. Wir haben jetzt keine Arbeit mehr, dabei gibt es noch Fische."
    Wie stark ist die Verschmutzung? Was bedeutet sie für die Region, für die Bewohner, für deren Gesundheit? Auch Nilamon de Oliveira von der Umweltbehörde ICMBIO zuckt mit den Schultern.
    "Wir haben im Meer und rund um die Mündung des Rio Doce erhöhte Schwermetallwerte gemessen, aber ob die mit dem Schlamm kamen oder vorher da waren, kann man nicht sagen. Dazu fehlen umfassende Studien."
    Schlamm auf Grund gesunken, auch in den Institutionen
    Oder sie werden unter Verschluss gehalten. Der Schlamm ist auf den Grund gesunken, sagt Mariangela, die Umweltrechts-Expertin, er habe sich festgesetzt, nicht nur im Boden sondern auch in den Institutionen:
    "Ich gehe davon aus, dass wir mit langwierigen Schäden kämpfen müssen, ohne Lösung. Schäden für die Opfer, für die Gesellschaft, für die Gesundheit und die Umwelt und alle werden sich gegenseitig die Schuld zu schieben."
    Währenddessen bleibt den Betroffenen in der Region nur, weiter zu warten. Zê will wieder fischen dürfen, seine Nachbarn hoffen auf die Rückkehr der Touristen und Tcharle, 560 Kilometer flussaufwärts, wartet auf ein neues Haus. Mit Salatbeeten, Obstbäumen, einem Holzgatter. So wie das früher war, bevor der Schlamm kam.