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Brasilien
Ein Protestcamp neben dem WM-Stadion

Momentan vergeht kaum ein Tag in Brasilien, an dem nicht gestreikt oder demonstriert wird. Auch rund 5.000 Familien in Sao Paulo wollen vor der Fußball-Weltmeisterschaft auf ihre Nöte aufmerksam machen. Sie konnten sich die Miete nicht mehr leisten und haben ein Feld besetzt. Das liegt in unmittelbarer Nähe zum WM-Stadion, wo das Eröffnungsspiel stattfinden soll.

Von Jonas Reese | 15.05.2014
    Blick auf ein Zeltlager von Menschen in Sao Paolo, die dort gegen die wegen der Fußball-Weltmeisterschaft gestiegenen Mieten und Hauspreise demonstrieren.
    Blick auf ein Zeltlager von Menschen in Sao Paolo, die dort gegen die wegen der Fußball-Weltmeisterschaft gestiegenen Mieten und Hauspreise demonstrieren. (Deutschlandfunk/Jonas Reese)
    In der prallen Mittagssonne rammen Samuel und seine zwei Freunde ihre Spitzhacken in den trocknen Boden. Der Hügel hier ist so steil, dass sie einiges an Erde wegschaffen müssen, um später zumindest annähernd in der Waagerechten schlafen zu können. Sie gehören zu den Neuankömmlingen bei der Copa de Povo. Der WM für das Volk, wie sie das hier nennen: Die Besetzung eines 150.000 Quadratmeter großen privaten Waldgrundstücks in Sichtweite des neuen WM-Stadions. Mehr als 10.000 Menschen sind schon hier. Ständig kommen weitere dazu.
    "Warum wir hier sind? Weil wir die Miete nicht mehr bezahlen können. Ich verdiene 1.200 Reais im Monat. Davon kann ich die Miete nicht mehr bezahlen. Nachdem sie das neue Stadion gebaut haben, kostet ein Haus, was 100.000 Reais gekostet hat, jetzt 300.000. Die Miete lag vorher bei 350 und liegt jetzt bei 600 Reais. Alles geht zum Teufel hier."
    Samuels weißes Hemd ist schon durchgeschwitzt und von der Erde hellbraun gefärbt. Als Maler verdient er umgerechnet rund 400 Euro im Monat. Die Hälfte davon geht nun für die Miete drauf, sagt er. Und alles wegen der WM?
    "Die Regierung hat alles Geld in die Stadien gesteckt. Aber eigentlich brauchen wir Wohnhäuser. Und deshalb sind wir hier. Deshalb bauen wir hier unsere Baracken. Wir wollen auf uns aufmerksam zu machen. Viele haben hier Familien. Müssen arbeiten und das in diesen Verhältnissen. Es ist nicht einfach."
    Im gesamten Stadtgebiet Sao Paulo fehlen 230.000 Wohnungen. Fast eine Million Familien leben unter prekären Bedingungen mit ungewissen Wohnverhältnissen. So die offiziellen Angaben.
    Land soll vom Staat gekauft werden
    Mittagessenszeit. In einer langen Schlange stehen die Besetzer vor der improvisierten Küche. Eine Zeltkonstruktion, die die Bewegung "Arbeiter ohne Dach" für die Bewohner hier betreibt. Die Vereinigung ist sozusagen der Organisator der Copa de Povo. Im vergangenen Jahr hat sie bereits vier Mal so eine Invasion durchgeführt. Der Zweck: Brachliegendes Bauland in Privatbesitz soll zu öffentlichem Bauland werden.
    Auch Lucia steht in der Schlange und wartet mit einem grünen Plastikteller auf ihre Portion Reis, Bohnen und Fleisch. Alles Spenden. Ihre weiß-grauen Haare sind zu einem Dutt zurückgebunden. Freundliches Gesicht, schlichte Brille. Ihr hellblaues Kleid ist ihre Uniform als Putzfrau. Die 60-Jährige ist seit drei Tagen hier - zusammen mit ihrer Familie. Seit 30 Jahren wohnt sie in einer Zwei-Zimmer-Wohnung im angrenzenden Stadtteil Villa Chucra. Auch ihre Miete ist zu viel geworden, findet sie.
    "Wir wollen ein Haus hier bauen. Ganz legal. Das müssen wir verhandeln. Wir wollen nichts umsonst. Wir wollen nichts besetzen, was uns nicht gehört. Wir wollen, dass der Bürgermeister auf uns aufmerksam wird. Dass Präsidentin Dilma auf uns aufmerksam wird."
    Mit dem gefüllten Teller balanciert Lucia durch die engen Trampelpfade des Camps. Wo vorher dichter Wald stand, reiht sich nun eine schwarze Plastikplane an die andere. Sie will ihren Schlafplatz zeigen.
    "Die WM wird stattfinden. Wir wollen die WM", sagt Lucia im Laufen. "Aber das Volk dieses wunderbaren Landes glaubt, dass wir eigentlich noch nicht bereit sind, um so ein Großereignis auszutragen. Alles ist deswegen teurer geworden. Essen, Wasser, Miete, Strom. Alles, alles, alles."
    In der Tat sind die Preise gewaltig gestiegen. Im gesamten Stadtgebiet haben sich die Mieten in den vergangenen sechs Jahren vervierfacht. Mit 160 Prozent liegt Itaquera, das Viertel hier, jedoch noch weit unter dem Durchschnitt. Die Mieten hier sind halb so hoch wie im Zentrum - trotz unmittelbarer Nähe zum neuen Stadion.
    Die WM muss einiges aushalten derzeit. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht gegen das Turnier oder seine Investitionen demonstriert wird. Während die Regierung versucht, alle Errungenschaften der WM zu betonen: Größere Flughäfen, Wirtschaftswachstum, mehr öffentliche Sicherheit; betonen die Protestierenden wie hier auf dem Feld, dass das Geld doch besser in andere Dinge hätte investiert werden sollen.
    Präsidentin will sich mit Organisatoren treffen
    "Oh, Jonas. Nossa casa."
    Wir sind da. Lucia präsentiert ihre kleine Baracke drei Holzbalken im Boden über denen eine schwarze Plane liegt. Darunter wartet die Familie. Es gibt Kaffee aus der Thermoskanne. Aus einem Handy scheppert Musik.
    Mit 15 Leuten schlafen sie hier auf Matratzen und Isomatten. Sie wechseln sich ab, um den Platz zu reservieren. Die Kinder sind gerade in der Schule. Nachts ist es manchmal gefährlich. Zwei Cobraschlangen haben sie schon gefangen, sagt ein Familienmitglied.
    "Es ist ein Abenteuer. Das gehört ja alles nicht uns. Aber wir glauben daran, dass es das bald so sein wird."
    Zurück im Küchenzelt. In einer Ecke sitzt und isst Zesito. Ein bärtiger Mann mit sonnengegerbter Haut. Er ist der Pressesprecher der Organisation "Arbeiter ohne Dach". Sobald er aufgegessen hat, steht er für ein Interview bereit.
    "Wir wollen allen zeigen, dass Brasilien nicht so wunderbar ist, wie viele denken und wie unsere Politiker dauernd behaupten."
    Und das scheint zu klappen. Am nächsten Tag wird sich Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff mit den Organisatoren treffen. 20 Minuten wird sie sich Zeit nehmen und versprechen, Möglichkeiten auszuloten, um das besetzte Terrain vom Besitzer abzukaufen. Die WM galt als große Chance für Brasilien. Wie viele andere wollen auch die Arbeiter ohne Dach ihre Chance nutzen.