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Brasiliens politische Führung
"Michel Temer hat mehr Dreck am Stecken als Dilma Rousseff"

Brasilien steht aus Sicht des Linken-Politikers Alexander Ulrich vor unruhigen Zeiten. Das Land werde auch nach einer Suspendierung von Präsidentin Dilma Rousseff politik- und regierungsunfähig bleiben, sagte er im DLF. Rousseffs möglicher Nachfolger, Vizepräsident Michel Temer, sei nicht besser als die Präsidentin.

Alexander Ulrich im Gespräch mit Jasper Barenberg | 12.05.2016
    Alexander Ulrich (Die Linke) spricht im Bundestag
    Der Linken-Abgeordnete Alexander Ulrich hält die Entwicklungen in Brasilien für bedenklich. (dpa / picture-alliance / Michael Kappeler)
    Brasilien steht aus Sicht des Linken-Politikers Alexander Ulrich vor unruhigen Zeiten. Das Land bleibe wohl auch nach der Suspendierung von Präsidentin Dilma Rousseff politik- und regierungsunfähig. Ihr möglicher Nachfolger, Vizepräsident Temer, habe wohl "mehr Dreck am Stecken" als die Präsidentin, sagte Ulrich im DLF. Und eine Suspendierung Rousseffs komme einem Staatstreich gleich.
    Ihm bereite das Vorgehen gegen Präsidentin Dilma Rousseff Sorge, so der Linken-Politiker, der Mitglied der deutsch-brasilianischen Parlamentariergruppe ist. Die Vorwürfe gegen die Politikerin seien nicht belegt. Doch gebe es Kräfte, die die Staatschefin unbedingt aus dem Amt haben wollten - da sei offenbar jedes Mittel recht. "Man kann schon davon reden, dass das, was in Brasilien passiert, einem Staatsstreich gleichkommt", sagte Ulrich.
    Er hält es für möglich, dass es in Brasilien in der nahen Zukunft zu Unruhen kommt. Das Land und die politischen Parteien seien gespalten, eine ordentliche Regierung kaum möglich. Und Vizepräsident Michel Temer, der nach einer Suspendierung Rousseffs das Präsidentenamt übernehmen würde, habe "mehr Dreck am Stecken" als die Staatschefin. Er sei genauso in Vorwürfe von Korruption verwickelt. Was Brasilien eigentlich brauchte, sei eine "komplette Neuordnung".

    Jasper Barenberg: Eine Entscheidung ist noch nicht gefallen im brasilianischen Senat, aber alles andere als eine klare Mehrheit für eine vorläufige Suspendierung von Präsidentin Dilma Rousseff wäre eine große Überraschung. Spätestens in 180 Tagen müsste der Senat dann ein weiteres Mal entscheiden. Brasilien am Scheideweg? Wir wollen darüber in den nächsten Minuten mit Alexander Ulrich von der Linkspartei sprechen. Er ist Mitglied der deutsch-brasilianischen Parlamentariergruppe im Bundestag. Schönen guten Morgen.
    Alexander Ulrich: Guten Morgen!
    Barenberg: Herr Ulrich, mit der Entscheidung im Senat, mit der absehbaren Mehrheit für ein Amtsenthebungsverfahren, ist da das politische Schicksal von Dilma Rousseff besiegelt?
    Ulrich: Man hat ja in den letzten Tagen einiges an Wendungen erfahren, aber natürlich ist so was ja schon ein Vorgang, der einige Auswirkungen hat, denn es würde ja dann auch sofort eine neue Regierung gebildet werden, wo auch die Partei der Präsidentin nicht mehr drin vorgesehen ist. Das würde das Land ja schon ein Stück weit verändern. Ich glaube, es bleibt weiterhin sehr unruhig in Brasilien, oder es wird jetzt noch unruhiger. Aber für Rousseff ist natürlich das schon eine schicksalhafte Nacht.
    Barenberg: Kaum ein Beobachter rechnet ja mit einer Rückkehr nach diesen spätestens 180 Tagen, in denen geprüft wird, was an den Vorwürfen dran ist. Die Chancen werden eigentlich allgemein als sehr gering beurteilt. Sehen Sie das auch so?
    "Die politischen Lager sind unversöhnlich"
    Ulrich: Ja klar. Ich meine, es kommen ja mehrere Sachen hinzu. Es gibt diese Vorwürfe, die aber eigentlich ja noch nicht bestätigt worden sind. Es ist aber auch eine große Unzufriedenheit im Volk, was ihre Amtsführung angeht, und die Lager sind unversöhnlich in Brasilien, die politischen Lager. Deshalb glaube ich schon, dass es für Rousseff schwierig wird, noch mal zurückzukehren.
    Barenberg: Welche Verantwortung trägt sie denn selbst für diesen enormen Vertrauensverlust, auch bei den Wählerinnen und Wählern und ihren Anhängern?
    Ulrich: Ich glaube, sie hat eine schwierige Amtsführung. Sie hat Präsident Lula ja beerbt und der war natürlich sehr erfolgreich mit seiner Politik, hatte auch eine Art und Weise, das Volk für sich zu gewinnen, hat ja auch große Erfolge gehabt insbesondere bei der Armutsbekämpfung, und Rousseff konnte da nicht anschließen. Die Wirtschaft kam in eine Rezession, die Arbeitslosigkeit stieg und sie war so ein Stück weit das Aushängeschild, an dem man sich abarbeitete, für die riesige Korruption, die im politischen System in Brasilien weiterhin vorherrscht.
    Barenberg: Da gibt es ja den großen Petrobras-Skandal, es gab auch schon einen früheren Skandal um Stimmenkauf. Können Sie sich vorstellen, kann man sich allgemein vorstellen, dass sie von all dem tatsächlich nichts gewusst hat? Sie haben ja selber darauf hingewiesen: eine direkte Verwicklung ist ihr noch gar nicht bewiesen worden.
    Ulrich: Wissen Sie, es ist ein bisschen schwierig, und man kann ja auch schon davon reden, dass das, was in Brasilien zurzeit passiert, schon einem Staatsstreich gleichkommt. Denn das Amtsenthebungsverfahren bei einer Politikerin durchzuführen, der man nichts nachweisen kann, zeigt mir einfach eher, dass man sich immer noch nicht damit abgefunden hatte, dass Rousseff die letzte Präsidentschaftswahl gewonnen hatte, und seitdem man sie zu Fall bringen wollte. Und wenn ich jetzt auch die Opposition sehe, ob das jetzt Cunha oder Temer ist, der möglicherweise ja dann nach der Amtsenthebung oder Suspendierung Präsident werden soll, der ist ja genauso verwickelt in diese Vorwürfe wie Rousseff selbst. Daher ist es ein bisschen schwierig zu sagen, da wäre möglicherweise jemand frei von solchen Vorwürfen. Im Gegenteil: Temer, der möglicherweise jetzt Rousseff nachfolgen wird, hat meines Erachtens mehr Dreck am Stecken als Rousseff selbst.
    Barenberg: Sie würden also sagen, was auch die Präsidentin ja selber sagt, sie sei Opfer eines Putsches der überkommen rechten Oligarchie geworden?
    Ulrich: Ja, das kann man schon sagen. Weil Sie müssen sich das mal unter unseren demokratischen Vorstellungen vor Augen führen, dass man hier eine Präsidentin jetzt ihres Amtes enthebt, eine gewählte Präsidentin, eine vom Volk gewählte Präsidentin, ohne dass Vorwürfe bestätigt worden sind, und das zeigt mir, dass man hier ein Rollback machen will, dass die Wirtschaftseliten auch im Einklang mit den führenden Medien in Brasilien eine andere Politik in Brasilien durchsetzen wollen, und da scheint jedes Mittel recht zu sein.
    "60 Prozent der Abgeordneten und Senatoren sind selbst in Korruptionsvorwürfe verwickelt"
    Barenberg: Die Gegenthese lautet ja, dass Rousseff zu Fall kommt, weil sie und ihr Vorgänger Lula das politische Klüngelsystem nach der Machtübernahme 2003 für eigene Zwecke benutzt hat, für sich selbst nutzbar gemacht hat, statt Korruption und Klüngel wirklich zu bekämpfen.
    Ulrich: Ich glaube, dass diese immer noch junge Demokratie in Brasilien große Schwierigkeiten hat. Das liegt auf der Hand. Aber die Frage ist ja auch: Das komplette politische System in Brasilien ist leider sehr korruptionsanfällig. Wenn man mitbekommt, dass rund 60 Prozent der Abgeordneten und Senatoren selbst verwickelt sind in Korruptionsvorwürfe, oder diese sogar bewiesen sind, dann zeigt das, dass das ein Problem ist, das die ganze politische Klasse Brasiliens belegt. Da ist Rousseff nicht weit genug vorangekommen, das ist richtig, aber ich glaube, da hätte auch jede Regierung es schwierig, weil alle Parteien irgendwie darin verwickelt sind. Nur auch da mal eine Zahl: Im Abgeordnetenhaus in Brasilien gibt es 25 Parteien. Das zeigt schon, wie schwierig das alles ist. Aber noch einmal: Der bisherige Koalitionspartner, die PMDP, die ja mit ihrem Ausstieg aus der Koalition diese Krise jetzt noch mal verschärft hat, die ist eigentlich noch mehr verwickelt in Korruptionsskandale als die Arbeiterpartei der Präsidentin.
    "Temer ist sehr sehr unbeliebt"
    Barenberg: Man könnte ja meinen, in einer solchen schweren politischen Krise könnte auch so etwas wie eine Chance für das Land liegen. Das sehen Sie aber ganz anders, entnehme ich Ihren Worten?
    Ulrich: Meines Erachtens haben wir zurzeit eine große Gefahr, dass auch jetzt in den nächsten Monaten Brasilien weiterhin politikunfähig ist und auch nicht regiert werden kann. Und ich befürchte auch, dass es in diesem gespaltenen Land, wo auch die politischen Lager fast unversöhnlich aufeinander treffen, eher jetzt zu Unruhen kommt. Ich sehe mit großen Gefahren, was da in den nächsten Wochen und Monaten passiert. Der Temer, der jetzt möglicherweise ja für Rousseff als Ersatzpräsident einspringt, ist sehr, sehr unbeliebt in der Bevölkerung und hätte bei einer Wahl überhaupt keine Chance. Und inwieweit Brasilien tatsächlich bereit ist, die Bevölkerung, sich von jemandem regieren zu lassen, den man eigentlich noch weniger will als die bisherige Präsidentin, das werden die nächsten Wochen und Monate zeigen. Eine Hoffnung gibt es sicherlich: Es gibt einige junge Juristen, die ja der Korruption den Kampf angesagt haben, mit zum Teil auch jetzt schon beachtlichen Erfolgen. Vielleicht liegt darin eine Chance. Aber das Land bräuchte eigentlich eine komplette Neuordnung ihrer Politik und ihrer Verfassung.
    "Brasilien bräuchte eine neue Verfassung"
    Barenberg: Wie könnte dieser Neuanfang, wie könnte diese Neuordnung aussehen?
    Ulrich: Ich glaube, sie bräuchten ein Stück weit tatsächlich eine neue Verfassung, die klarer trennt zwischen Justiz und politischen Entscheidungen. Sie bräuchten da möglicherweise auch internationale Hilfe, die ihnen auf dem Weg hilft. Und es müssten auch teilweise die überkommenen Möglichkeiten der Abgeordneten natürlich auch überprüft werden, denn die politische Klasse und auch die Abgeordneten und Senatoren haben sich ja vom Volk so weit entfernt, dass sie offensichtlich da auch kein Gespür mehr haben, was richtig und falsch ist.
    "Brasilien hat eigentlich alle Möglichkeiten"
    Barenberg: Brasilien erlebt auch unter anderem die schwerste Wirtschaftskrise seit 100 Jahren. Braucht das Land auch so etwas wie eine Rosskur von Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen? Ist das unumgänglich, um das Land wirtschaftlich wieder auf die Beine zu bekommen?
    Ulrich: Wissen Sie, sie hatten ja einen gewissen Erfolgsweg gehabt unter der Präsidentschaft von Lula, der sicherlich auch mit den Sozialprogrammen dazu geführt hat, dass Millionen von Brasilianern aus der Armut zumindest mal in die untere Mittelschicht geführt worden sind. Und man hatte da auch teilweise sehr große auch wirtschaftliche Erfolge. Brasilien hat eigentlich alle Möglichkeiten, die ein führendes Industrieland bräuchte. Sie haben unheimlich viele Ressourcen, es ist ein riesiges Land mit Naturgütern, sie zeigen ja auch in gewissen technischen Bereichen, dass sie auch auf hochklassischem Niveau Industriebereiche beackern können. Sie haben eigentlich alles, was man bräuchte, aber sie werden tatsächlich schon seit Jahrzehnten ganz, ganz schlecht regiert und die Korruption behindert natürlich auch, dass die Wirtschaft sich so entfalten kann und dass Investoren in Brasilien auch gerne investieren.
    Barenberg: Alexander Ulrich von der Linkspartei, Mitglied der deutsch-brasilianischen Parlamentariergruppe im Bundestag, über Chancen und Risiken des Machtkampfes in Brasilien. Danke für das Gespräch heute Morgen.
    Ulrich: Vielen Dank!
    //Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen