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Brav, strebsam und im Dienste des Kollektivs

Brav, strebsam und lernwillig oder aufsässig, faul und disziplinierungsbedürftig - wie wurden die Kinder dargestellt, die in der ehemaligen DDR in den Unterstufenklassen unterrichtet und erzogen wurden? Welches Bild hatten die Pädagogen von dem sozialistischen Nachwuchs? Und mit welchen Mitteln versuchten sie das Ziel zu erreichen, schon die jungen Pioniere in den Dienst des Kollektivs zu stellen?

Von Peter Leusch | 17.03.2011
    Das wollten zwei Nachwuchswissenschaftlerinnen der Universität Würzburg herausfinden und untersuchten die Entstehung und den Wandel des DDR-Kinderbildes, indem sie zwei Quellen der Schulpädagogik unter die Lupe nahmen: zum einen die Lesefibeln der ABC-Schützen, zum anderen die Lehrerzeitschrift "Die Unterstufe".

    "Neudorf, den 15. Sept. 1960. Lieber Walter Ulbricht, wir freuen uns, dass du zum Vorsitzenden des Staatsrates gewählt worden bist. Für unsere Wandzeitung haben wir ein Bild von dir ausgeschnitten und einen bunten Blumenstrauß dazu gemalt. Wir wollen gute Pioniere werden, darum lernen wir fleißig und halten unsere Hefte und Bücher immer in Ordnung. Wenn wir groß sind, wollen wir in unserer LPG Neues Leben arbeiten. Deine Klasse 1."

    Jakob Stürmer, Würzburger Grundschüler liest vor aus der Landfibel von 1961 "Wir lernen für morgen". So hieß eines der beiden Lesebücher der DDR, anhand derer Jakobs Altersgenossen seinerzeit Lesen und Schreiben lernten. Darin wurde den Kindern aber auch ein Bild ihrer selbst präsentiert: Fleißig, ordentlich und engagiert sollten sie sein, und schon jetzt den SED-Machthabern geloben, künftig im Agrarkollektiv der LPG am Aufbau des Sozialismus mitzuwirken.

    Dieses Kinderbild der DDR, seine Entstehung und Entwicklung, will Margarete Götz, Professorin für Grundschulpädagogik an der Universität Würzburg, zusammen mit ihren Mitarbeiterinnen in einem bildungshistorischen Forschungsprojekt genauer untersuchen.

    "Wir rekonstruieren das Kinderbild der DDR, und zwar konzentriert auf jene Vorstellungen, die über das Schulkind in der DDR kursierten, und zwar speziell über das Schulkind in der Unterstufe der damals 10klassigen polytechnischen Oberstufe, so hieß sie in der DDR: Welche Eigenschaften wurden dem Kind zugeschrieben, welche Besonderheiten, welche Wünsche, wie wurde das Kind von Erwachsenen gesehen?
    Und wir machen das im Grunde auf zwei Materialebenen."

    Die eine Quelle, die empirisch aufgearbeitet wird, bildet das Lesebuch der ABC-Schützen, in den beiden Varianten Stadtfibel und Landfibel. Hier untersucht Verena Stürmer, welches Kinderbild den Heranwachsenden selbst vorgehalten wird.

    Die andere Textquelle umfasst sämtliche Jahrgänge der Zeitschrift "Die Unterstufe", ein Publikationsorgan mit Monopolstellung, das sich an die Lehrer richtete und ihnen ein bestimmtes Kinderbild als pädagogischen Auftrag mitgab. Diese Quelle analysiert Michaela Vogt in ihrer Doktorarbeit.

    "Die Zeitschrift begann 1954, da wurde sie gegründet. Ab dieser Zeit hat man erst noch ein relativ in der Realität verhaftetes Kinderbild festgestellt. Das heißt, es war fröhlich, es war interessiert, es war aber auch manchmal schlampig oder vielleicht auch nicht so strebsam, wie es hätte sein sollen.
    Das Ganze ändert sich dann mit Beginn der 60er-Jahre, ab da kann man feststellen, dass das Thema der sozialistischen Erziehung aufkommt, und sich auf das Kind auswirkt, dass nicht mehr das Ist-Bild des Kindes angesehen wird, sondern eher das Soll-Kind. Das Kind wird dargestellt als künftiger sozialistischer Bürger und es werden bestimmte Eigenschaften dargestellt, die ihm zugeschrieben werden, und die es erreichen soll."

    In den 50er-Jahren, so Michaela Vogt, dominierten noch die reformpädagogischen Ideen von der Entfaltung der gesamten Persönlichkeit des Kindes und ebenso allgemeine Erziehungsziele wie Hilfsbereitschaft und Heimatliebe. Doch mit Beginn der 60er-Jahre setzte sich die ideologische Ausrichtung auf ein sozialistisches Menschenbild durch.

    "War das neulich schön, unsere Patenbrigade zeigte uns,
    wie die Bonbons entstehen, Bonbons entstehen, Bonbons entstehen.
    Klug bedienten unsere Paten Bonbon-Elektroautomaten,
    wir übernahmen dann die Rolle der strengen Qualitätskontrolle,
    in der Bonbonfabrik, Bonbonfabrik, Bonbonfabrik."

    Die Kinder sollen sich einordnen, eine Funktion im Kollektiv übernehmen, sodass sich Alt und Jung gegenseitig anspornen und kontrollieren, sodass Groß und Klein ineinander greifen wie Zahnräder in der sozialistischen Maschinerie. Hier ist kein Platz mehr für besondere Wünsche und für unterschiedliche Entwicklung, mit einem Wort für - Individualität.
    Den überschießenden Wünschen und Träumen, dem Spiel der Kinder kommt kein pädagogischer Eigenwert mehr zu, Individualität wird nur soweit akzeptiert, wie sie für das Kollektiv und zum Nutzen der Gesellschaft verwertbar ist.
    Verena Stürmer:

    "In den Fibeln ist es manchmal auch sichtbar - beispielsweise: Die Kinder spielen im Sandkasten und bauen Sandburgen, und dann wird dazu gesagt, dass diese Kinder später Baumeister werden wollen und schöne Häuser und neue Schulen bauen wollen, - oder Genossenschaftsbauern in der LPG werden möchten, und helfen wollen den deutschen Staat aufbauen."

    "Jedem ist bekannt, unsere Patenbrigade
    Achtet auf unseren Leistungsstand, den Leistungsstand, den Leistungsstand.
    Weil uns die Brigadepaten mit ihrer großen Klugheit raten,
    wollen wir die Schulaufgaben machen,
    so gut wie sie die süßen Sachen,
    Bonbonfabrik, Bonbonfabrik, Bonbonfabrik."

    Der Richtungswechsel der Zeitschrift "Die Unterstufe" weg von der Individualität, vom Ist-Kind hin zum sozialistischen Soll-Kind hat sich vermutlich nicht reibungslos vollzogen. Michaela Vogt erschließen sich aktuell neue Quellen, um zu prüfen, ob es darüber zu Auseinandersetzungen zwischen dem Ministerium für Volksbildung, der Redaktion und einzelnen Autoren bzw. Lesern gekommen ist.

    "Seit letztem Jahr ist im Bundesarchiv in Berlin ein neuer Aktenbestand für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden, und dieser Aktenbestand eröffnet konkret die Möglichkeit, Akten einzusehen, die die Redaktion der Unterstufe verfasst hat, Briefwechsel beispielsweise. Das ist natürlich im Rahmen der Dissertation ein sehr wertvoller Fundus, denn da kann ich nun Sachen herausfinden wie:
    Gab es Beeinflussungsprozesse zwischen dem Ministerium für Volksbildung und der Redaktion? Wie stark waren dort die Vorgaben, die von der Politik gemacht wurden? Oder wie autonom konnte die Redaktion überhaupt noch handeln?"

    Michaela Vogt vermutet, dass es einen starken politischen Einfluss auf die Zeitschrift gegeben hat, sowohl was die Themen, als auch was die Inhalte angeht, zumal schon bei der Gründung der Zeitschrift die Position des Chefredakteurs nicht über ein Bewerbungsverfahren, sondern von oben, auf Anordnung des Ministeriums vergeben wurde.
    Verena Stürmer hat sich die Fibeln im Hinblick auf politische Einfärbung angeschaut:

    "Bei den Fibeln ist ganz klar erkennbar, dass eine Beeinflussung durch das Ministerium für Volksbildung dann erfolgt, wenn es um politische Inhalte geht: ... beispielsweise wenn gesagt wird, es sollen mehr Texte über die NVA aufgenommen werden. Es gibt Texte, wo über die Nationale Volksarmee geschrieben wird, wo ein Brief eines Soldaten an ein Kind beispielsweise verfasst wird, wo also ein persönlicher Kontakt hergestellt werden soll - also das ist ganz deutlich zu erkennen, der Einfluss."

    "Hör ich die Soldaten singen,
    lass ich all mein Spielzeug stehn,
    ich renn auf die Straße, die Soldaten muss ich sehn.
    Unsere Soldaten schützen, alle Kinder vor dem Krieg,
    meinen Vati, meine Mutti, jedes Haus und die Fabrik
    meinen Vati, meine Mutti, jedes Haus und die Fabrik"

    Der Soldat als Freund der Kinder, als Beschützer der Familie und der sozialistischen Heimat - hier wird ein vollkommen defensives Bild der Nationalen Volksarmee gezeichnet. Aber an anderer Stelle dringt auch der aggressive Ton des Kalten Krieges in die DDR-Pädagogik. Wenn zum Beispiel 1966 in einem Aufsatz unter der Devise "Klassenkämpfer erziehen" von den Pädagogen verlangt wird:

    Liebe zur Deutschen Demokratischen Republik und Freundschaft zur Sowjetunion, aber auch Hass gegen die westdeutschen Imperialisten unseren Jungpionieren ganz bewusst anzuerziehen, verlangt von den Erziehern selbst einen ganz klaren Standpunkt zu diesen Fragen zu haben.

    Pioniere hießen die Mitglieder der sozialistischen Massenorganisation für Kinder. Vom ersten bis zum dritten Schuljahr gehörte man zu den Jungpionieren, danach zu den sogenannten Thälmann-Pionieren, kenntlich am blauen beziehungsweise roten Halstuch. Nach sowjetischem Vorbild aufgebaut war die Organisation eng mit dem schulischen Leben verknüpft, sie sollte alle Kinder vom ersten bis zum siebten Schuljahr erfassen, und bildete die erste Stufe in einer Kette von sozialistischen Organisationen, die den Einzelnen zeitlebens einbinden. Nicht nur wer später Karriere machen, auch wer Klassensprecher werden wollte, kam am Eintritt in die Pionierorganisation nicht vorbei. 1980 sind circa 95 Prozent der Schüler Mitglied.

    "Es sind beispielsweise in den Fibeln sehr viele Pionierkinder sichtbar, Kinder in Pionieruniformen, und das Auftreten der Pionierkinder variiert im zeitlichen Verlauf, da gibt es schon Höhepunkte, am Anfang gab es das weniger und das nimmt im späteren Verlauf zu.
    Ich glaube, dass das Kind in den Fibeln noch ein Stück weit idealisierter ist als in den Lehrerzeitschriften, da gib es sehr wenige Kinder, die sich normabweichend oder unerwünscht verhalten, die sind alle recht brav, die Haupteigenschaft, die ich bei den Kindern am häufigsten gefunden habe, war - einfach - fröhlich."

    Kinder sind nicht ständig fröhlich und fleißig, kooperativ oder angepasst, wie die Bilder suggerieren. Doch ein eigensinniges, missmutiges oder trotziges Kind kommt nirgendwo vor. Diese Ausblendung scheint freilich nicht nur ein Merkmal der DDR-Pädagogik zu sein. Das gilt auch für das Kinderbild der alten Bundesrepublik, meint Margarete Götz und erwägt nach Abschluss der DDR-Analyse eine Vergleichsstudie mit der alten Bundesrepublik zu starten.

    "Dieser Vergleich ist natürlich reizvoll. Und ich könnte mir vorstellen, ohne dass ich jetzt wirklich wissenschaftliche Befunde habe, dass wir insbesondere in den frühen Jahren in der Nachkriegszeit durchaus parallele Entwicklungen haben, also Parallelgeschichten in der Kindheitsdarstellung, ich kenne keine westdeutsche Fibel, die ein böses schlampiges Kind darstellt, sondern dass sind alles lernwillige, hilfsbereite nette Kinder, das böse Kind gibt es fast überhaupt nicht, in West- wie in Ostdeutschland nicht, ... .
    Die kommen erst später nach 68 in die Fibeln, da werden Kinder auch als widerspenstig, oppositionell gegen Erwachsene dargestellt - in Westdeutschland, das war aber auch nur eine kurze Entwicklungsphase nach meiner Einschätzung."

    Umgekehrt überrascht das DDR-Kinderbild in manchen Aspekten, erweist sich als fortschrittlich, wo es die Kinder anderer Länder und Kulturen in die Darstellung einbezieht.

    "Über allen strahlt die Sonne, über allen in der Welt,
    alle Kinder wollen Frieden, Frieden der das Glück erhält.
    Froh und glücklich will doch spielen, auf der Erde jedes Kind,
    ob nun seine Eltern schwarze, gelbe oder weiße sind."

    "Wir haben teilweise auch Entwicklungen hier sichtbar, in denen wahrscheinlich die DDR in bestimmten Beziehungsbereichen fortschrittlicher war als die Bundesrepublik zur gleichen Zeit, etwa in den Fibeln, ... wenn Kinder ausländischer Herkunft dargestellt werden, die bei uns in den 70er-Jahren erst auftauchen, da hat die DDR einen Vorsprung, indem sie diese Kinder bereits wahrnimmt."

    "Man muss allerdings dazu sagen, dass es nicht die klassischen Migrantenkinder sind, die in den westdeutschen Fibeln auftauchen, sondern dass das vor allem Pioniere aus sozialistischen Brüderländern sind, das ist ein Klassiker der alle Fibeln durchzieht, auch über 1990 hinweg in den späteren Auflagen beibehalten wurde, wo zumindest die Kinder anderer Länder vorgestellt werden, so heißen die, so sehen die aus - verbunden mit einem Lied: Alle Kinder sollen froh und glücklich sein, auf der ganzen Welt. Also der Gedanke des Weltfriedens angesprochen wird, aber es sind nicht die Migrantenkinder in dem Sinne."

    Bekanntlich gehörte das Bekenntnis zu Weltfrieden und internationaler Solidarität zur ideologischen Selbstdarstellung der DDR, man darf diese Beschwörung nicht mit der gesellschaftlichen Realität gleichsetzen. Die Kubaner und Vietnamesen lebten in der DDR weit abgeschotteter und noch weniger integriert als die sogenannten Gastarbeiter in der alten Bundesrepublik.

    Gleichwohl, die DDR hatte in ihren pädagogischen Konzepten auch progressive Elemente, wo sie die Besonderheit des einzelnen Kindes anerkennt. Michaela Vogt belegt es mit eigenen Erfahrungen:

    "Ein Bereich, in dem ich finde, wo die DDR sehr fortschrittlich war, aus meiner Biografie heraus - ich bin Linkshänderin: Und da hat die DDR bereits in den 1960er-Jahren empirisch wohlgemerkt Untersuchungen veröffentlicht, auf deren Basis beschlossen wurde, Linkshänder nicht umzuschulen. In der der DDR wurde nie ein linkshändiges Kind umgeschult, in Westdeutschland aber schon, ich wurde noch umgeschult, und das war auf jeden Fall nach 1981."

    Die Toleranz gegenüber Linkshändern, ebenso wie die Förderung von Kindern mit Lese-Rechtschreibschwäche, wo sich die DDR sehr früh schon wissenschaftlichen Neuerkenntnissen öffnete, geschah wohl weniger aus unbedingtem Respekt vor der Persönlichkeit des Kindes, sondern folgte mehr dem Willen, möglichst alle Bildungsreserven und Leistungspotenziale auszuschöpfen und gesellschaftlich dienstbar zu machen.

    Die sozialistische Indienstnahme des Kindes brach sich jedoch viel früher, als das staatliche Ende der DDR vermuten lässt. In der Lehrerzeitschrift verschwand schon zu Beginn der 80er-Jahre der Begriff sozialistische Erziehung aus den Überschriften, stattdessen war nun von sittlicher oder moralischer Erziehung die Rede. Allmählich wurde die verpönte Individualität rehabilitiert, rückte das Kind als ganzes Wesen in den pädagogischen Blick - ähnlich wie im Westen.

    "Ich würde sagen, annähern tun sich ostdeutsche und westdeutsche Ideen über das Kinderbild zum Ende der DDR - logischerweise, man stellt in den 80er-Jahren fest, dass - wahrscheinlich, weil das System keinen Rückhalt mehr hat in der Gesellschaft - die Individualität des Kindes vermehrt in der Zeitschrift aufgegriffen wird, erst noch eingebettet ins Kollektiv und später entfernt vom Kollektiv. Und damit auch die sozialistischen Inhalte in den 80er-Jahren sukzessive wieder zurückgedrängt werden.
    Und ich würde deswegen sagen, dass - ab 1985 ungefähr - die Strömungen in Ost- und Westdeutschland wieder zusammenfließen, sodass man auch ab 1990 keine Themendifferenz mehr finden kann zwischen ost- und westdeutschen Zeitschriften."

    Die Zwischenergebnisse der Forschung von Michaela Vogt und Verena Stürmer sind brisant, wenn es um die Situation vor 1989 geht. Spiegelt sich auf der Ebene der Pädagogik eine innere Aufweichung und subtile Liberalisierung der DDR?

    Während in anderen offiziellen Bereichen die DDR bis in den Herbst 1989 ihre ideologische Fassade aufrechterhielt, hat im Standard-Lesebuch und in der Lehrerzeitschrift bereits ein Kurswechsel eingesetzt, der bis 1985 und noch weiter zurückreicht.

    Die DDR und die alte Bundesrepublik, so die frappierende Schlussfolgerung, haben sich einander angenähert, ja sie treffen sich in einem gemeinsamen Kinderbild, schon Jahre vor der staatlichen Vereinigung.