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Brecht als eine Art Messias interpretiert

Schlager, Punk und Blues – bei Nina Hagen geht das alles zusammen. Jetzt hat sie im Berliner Ensemble ein Brecht-Programm herausgebracht oder – wie der Titel korrekt heißt – einen "Interaktiven Brecht-Lieder-zur-Klampfe-Abend".

Von Oliver Kranz | 24.06.2013
    Schon als sich der Vorhang öffnet: stürmischer Applaus. Nina Hagen winkt dem Publikum zu, wie ein aufgekratzter Teenager. Sie trägt riesige Blüten im wilden, schwarzen Haar, dazu rot-weiß geringelte Pippi-Langstrumpf-Strümpfe. Wären ihre Liedschatten nicht so düster, könnte sie auch auf einem Kindergeburtstag auftreten. Doch sie hat Themen, die ziemlich erwachsen sind:

    "Bitten der Kinder"
    Die Häuser sollen nicht brennen.
    Bomber sollt man nicht kennen.
    Die Nacht soll für den Schlaf sein.
    Leben soll keine Straf sein.
    Die Mütter sollen nicht weinen.
    Keiner soll müssen töten einen.


    Frieden, Menschlichkeit und Nächstenliebe – dafür singt Nina Hagen. Und dafür hat sie bei Brecht die besten Texte gefunden. Mit seinen Songs, Gedichten und Theaterstücken ist sie aufgewachsen. Ihre Mutter war Schauspielerin im Berliner Ensemble, ihr Ziehvater Wolf Biermann sang Brechts Lieder zur Gitarre. Mit 12 sah sie zum ersten Mal die "Dreigroschenoper":

    "1967 war's. Da bin ich mit meiner besten Freundin Bille – wir haben uns beide ein bisschen älter geschminkt, weil beim ersten Versuch hat es nicht ganz geklappt. Die Frau an der Kasse hier im Berliner Ensemble hat gesagt: Dreigroschenoper ist erst ab 16. Wir haben uns auf älter geschminkt, wurden durchgewinkt und saßen immer da oben im zweiten Rang für 55 Pfennig."

    Theater war preiswert in der DDR. Nina Hagen sah sich die Stücke – wie sie sagt – Hunderte Male an und begann selbst Brecht-Songs zu singen – einfach so, zur Gitarre:

    "In den 60er-/70er-Jahren da war das ein Teil von unserer Kultur, auf den Alexanderplatz zu gehen mit der Klampfe und heimlich Wolf-Biermann-Lieder zu singen, zum Beispiel, oder Bob Dylan oder Brecht oder alles Mögliche. Das ist eine alte Kultur. Das muss man immer wieder hochleben lassen - das Auf-der-Klampfe-sich-beheimatet-fühlen. Das unkompliziert machen, dass es nicht so schwierig ist."

    Deshalb tritt Nina Hagen an dem Abend auch nicht mit einem Orchester auf, sondern mit einem Gitarristen und einem Keyboarder. Brechts Lieder, die ja meist von Kurt Weill oder Hanns Eisler vertont wurden, sind für sie keine heiligen Werke, sondern Gebrauchskunst, die sie sich zueigen macht.

    Morgenchoral aus Dreigroschenoper
    Wach' auf, du verrotteter Christ!
    Mach dich an dein sündiges Leben, ha
    zeig' was für ein Schurke du bist,
    der Herr wird es dir dann schon geben.
    Verkauf deinen Bruder, du Schuft!
    Verschacher dein Eh'weib, du Wicht!
    Der Herrgott, für dich ist er Luft?
    Er zeigt dir's beim Jüngsten Gericht. – genau.


    Nina Hagen ist seit 2009 getaufte Christin. Für sie ist Brecht eine Art Messias, wie Jesus. Daher hat sie auch keine Probleme, gleich nach dem Dreigroschenoper-Choral ein fröhliches Vaterunser zu singen.

    "Unser Vater, der du bist im Himmel
    Geheiligt werde dein Name.
    Dein Reich komme.
    Dein Wille geschehe,
    wie im Himmel, so auf Erden.
    Unser tägliches Brot gib uns heute.
    Und vergib uns unsere Schuld,
    wie auch wir vergeben unsern Schuldigern."


    Nina Hagen mixt vieles zusammen, was eigentlich nicht zusammengehört – mit Naivität, Coolness und missionarischem Eifer. Sie improvisiert und bleibt manchmal auch stecken, doch was bei anderen tödlich wirken würde, steigert bei ihr die Aura. Sie ist das Punk-Girl, das furchtlos mit klassischen Texten spielt und sich zudem für soziale Themen engagiert.
    Neben ihren Musikern stehen Mitglieder des Contergan-Netzwerks auf der Bühne:

    "Contergan, das muss man im Allgemeinen erklären, ist der größte Pharmaskandal in der Bundesrepublik Deutschland – 10.000 Opfer, Tausende Tote, Tausende missgebildete Kinder, teils ohne Arme und teils ohne Beine. Wir sind enteignet worden. Es ist ein Bundesgesetz erlassen worden, womit sich der Staat einseitig auf die Seite unseres Schädigers geschlagen hat."

    Erklärt Christian Stürmer vom Contergan-Netzwerk und weist darauf hin, dass die Opfer erst jetzt eine erträgliche Rente erhalten. Die Verursacher des Skandals sind bis heute nicht bestraft worden. Nina Hagen hat das Contergan-Netzwerk unterstützt – was natürlich löblich ist, aber nicht unbedingt in den Kontext eines Brecht-Programms gehört. Der Abend ist eine große Nina-Hagen-Personality-Show.

    Dabei hat die alte Punk-Diva auch andere Künstler eingeladen. Ihre Mutter Eva-Maria Hagen darf ein paar Brecht-Songs singen, ebenso ihre Stiefschwester Marie Biermann. Beide sind Profis durch und durch – doch neben der Gastgeberin wirken sie wie blasse Statisten.

    "Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens"
    Ja, renn nur nach dem Glück
    doch renne nicht zu sehr
    denn alle rennen nach dem Glück
    das Glück rennt hinterher.
    Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht anspruchslos genug,
    drum ist all sein Streben, ein kleiner Selbstbetrug ...


    Auch wenn Eva-Maria Hagen und Marie Biermann im Hintergrund zu hören sind – Nina Hagen sahnt ab. Sie ist mit ihrer orgelnden Stimme eine wunderbare Brecht-Interpretin. Und bei ihrem sozialen Engagement nimmt man das Quentchen Selbstverliebtheit, das darin steckt, gern in Kauf.