Mittwoch, 24. April 2024

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Brecht & Co

Hoch oben über der schlafenden Stadt steht einsam ein Oberrealschüler und hält Wache. Das heißt "Fliegerspähe" und soll die friedlich schlummernden Bürger drunten bewahren vor einem bösen Angriff des Feindes. Weit, weit lehnt sich der patriotisch Frühvollendete aus dem Turmfenster und wendet sich zwei Tage später über die "Augsburger Neuesten Nachrichten" direkt an die studierende Jugend:

Willi Winkler | 08.02.1998
    "Möchtet ihr nicht auch so Turmwacht halten fürs Vaterland? Es war wunderschön hier in mitternächtiger Stunde auf dem hohen Turm. Ab und zu fuhr rollend ein Zug aus dem Bahnhof - ein Zug von Soldaten, die hinauszogen in die Nacht, in ein ungewisses Los, vielleicht, um nicht wiederzukehren. Manchmal auch tönte unter uns ein Lied in die stille Nacht. Im Ratskeller sangen sie patriotische Lieder. Machtvoll schwollen die Töne der ‘Wacht am Rhein’ zu uns empor."

    Ja mei, mit sechzehn und in dera großen Zeit. Ein strahlender, mindestens ein Jahrhundertsommer muß es gewesen sein, damals, 1914 im August, als der Oberrealschüler Eugen Berthold Friedrich Brecht von einsamer Höhe herab die Wehrkraft seiner Mitbürger ertüchtigen half. Alle Räder rollten für den Sieg und schaufelten die Freiwilligen an die diversen Fronten. Der Krieg ging bald verloren, aber er zog sich noch so viele Jahre hin, bis auch den Augsburger Fliegerspähern die Freude am luftigen Heldentum vergangen war. Vom Krieg sah der tapfere Schüler nur ganz zum Schluß ein wenig, als er Dienst im Lazarett tun mußte. Wieder rollten die Züge, nur daß sie diesmal die Verwundeten heimschaufelten. Das Vaterland nahm sie auch halb oder sonst verstümmelt zurück - wie hätte Brecht sich da nicht einen neuzusammengesetzten Menschen ausdenken sollen? Mann ist Mann und Hauptsache Soldat. Die frühen fiebrigen Stücke Brechts sind naturalistisch vom Leben abgeschildert.

    Wenn der Herr Fabrikdirektor es verlangte, machten sie es natürlich. Eine Sekretärin hatte schließlich Schreibmaschine schreiben gelernt, um die Sachen zu tippen, die man ihr hinlegte, und wenn der Herr Direktor einen Sohn hatte, der solche Sachen schrieb, machten sie auch da die Arbeit, die sie gelernt hatten und tippten und tippten einen jeglichen Tag:

    "Weil ich ihr nicht genug ins Hemde griff Wiewohl ichs wahrlich oftmals machte, pfiff Sie kalt dem nächsten Louis mit dickem Kopf Der füllte grinsend ihr den Häutetopf. Ich aber liege mit zerbrochener Nase Verrückt und brüllend auf der schwarzer Straße. Ein Jahr, so sagt sie allen, sei zu viel Auch kriegt man Hängebrüste ohne Gliederspiel. Mit einem Rücken sei sie halb nur und Mit mir sei es doch nur ein Seelenbund. Ich aber, weit entfernt jetzt von Emphase Empfand: es hängt mein Herz an diesem Aase."

    Sechs Jahre und der Krieg und alles verändern einen Mann und machen einen ganz neuen Mann aus ihm. Der Fabrikdirektorssohn verstand plötzlich die Welt. Vielleicht sah er sie noch immer von sehr weit oben, aber besonders schön fand er sie weder bei Tag noch bei Nacht. Der Räuber Matthias Kneißl war erst vor wenigen Jahren in Augsburg hingerichtet worden, ein Held beim Volk draußen auf dem Land, und natürlich ein Feind der Obrigkeit: das war doch schon mal ein Vorbild. Mit viel Villon und unhaltender Pubertät machte Brecht seinen lieben Mitbürgern den Baal. In der schwäbischen Selbstzufriedenheit träumte er von Amerika, wollte einmal Cowboy sein im Wilden Westen, dann wieder Räuberhauptmann wie der Kneißl Hials. Amerikanisch war der Plärrer, das lokale Volksfest, das "einem seine Negermusiken mit Keulenschlägen eintreibt", wie er im Tagebuch schwärmte. Der Exzeß erschöpfte sich darin, mit einer Laute unterm Arm, vor sich einen Lampion, nachts über den Rathausplatz zu gespenstern und den vom Biere heimkehrenden Bürgern ein wenig heimzuleuchten mit zotigen Worten. Frauen- und bürgerverschlingend wäre er gern gewesen, der widerliche Baal, umoralisch, faul, ein öffentliches Ärgernis. Die Sekretärinnen seines Vaters bekamen wieder etwas zu tippen:

    "Zu den feisten Geiern blinzelt Baal hinauf. Die im Sternenhimmel warten auf den Leichnam Baal. Manchmal stellt sich Baal tot. Stürzt ein Geier drauf Speist Baal einen Geier, stumm, zum Abendmahl. Unter düstern Sternen in dem Jammertal Grast Baal weite Felder schmatzend ab. Sind sie leer, dann trottet singend Baal In den ewigen Wald zum Schlaf hinab."

    Da stand manchmal noch mehr von diesem Kerl, vom bösen Baal, der sich an den Frauen verging, die Mädchen und die Jünglinge schändete ohne Unterschied und dann auch noch lachte, ein böses fettes Baal-Lachen. Vielleicht war es auch bloß so ein wenig meckernd, mit etwas zu hoher Stimme wie beim mageren Sohn des Fabrikdirektors, der sich diese Schweinereien ausgedacht hatte, die sie jetzt abtippen mußten. Er wollte unbedingt berühmt werden, der magere Knabe, schon als minderjähriger Theaterkritiker und als Lazaretthelfer in Augsburg, wo er nachts gern mit seinen Freunden in der Wirtschaft herumhockte und die Lieder ausprobierte, vor denen die Welt erzittern sollte. Sein sehr viel braverer Bruder erinnerte sich Jahrzehnte später mißbilligend an diese schöne Geniezeit:

    "Alles in allem spielte sich das Leben der Clique in einer einzigartigen, durch geistige Sensationen hochgetriebenen Atmosphäre ab. Ihre Spannung bezog sie nicht nur aus der sich manchmal überschlagenden Folge von Eugens Gedichten und dem von klirrender Musik begleiteten Vortrag, sondern auch aus weithergeholter Literatur mit aufrüttelnden Zitaten und nicht zuletzt aus Eugens herausfordernder Selbstgewißheit, die mit Äußerungen der Selbstverherrlichung die Grenzen des Größenwahns nicht bloß streifte: ‘Ich muß berühmt werden, damit ich den Menschen zu zeigen vermag, wie sie wirklich sind.’"

    Ach, wenn es doch beim Vortrag zur klirrenden Gitarre geblieben wäre! Die Menschen hätten es notfalls schon selber gemerkt, wie sie wirklich sind. Aber der böse Baal mußte es ja unbedingt der ganzen Welt zeigen, wie es aussah mit ihr beziehungsweise was er für ein Mordskerl war. Und so kam der Berthold Eugen Friedrich Brecht aus Augsburg auf den Lehrpfad, den er zeit seines 58jahrigen Lebens nicht mehr verlassen sollte. München war die erste Station dafür, vielmehr das Theaterseminar bei Artur Kutscher, die Kammerspiele und das Oktoberfest, Karl Valentin und Lion Feuchtwanger wurden seine ersten Firmpaten. Die Schauerromantik der stündlichen Hinrichtung beim Schichtl auf der Wiesn, der kleine Valentin-Filmspaß von den "Mysterien eines Frisiersalons" faszinierte ihn, Mackie Messer wuchsen die Zähne des Haifischs, die trug er mitten im Gesicht, und wie er die Gitarre dazu schrammte!

    Aber die Karriere mußte ja weitergehen. Der poetische Baal sah sich unglücklicherweise als dramatischer Dichter und die Bühne als seine Zukunft. Mühsam strickte er um seine aphoristischen Songs eine zähe Handlung, streckte sie auf Abendlänge, und verbot den Leuten dann auch noch, so romantisch zu glotzen. Am Ende blieb ihm gar nichts anderes übrig, als damit nach Berlin umzuziehen. Nach Berlin also, in die Theaterhauptstadt. Zum Abschied schrieb er im Zug ein "Sentimentales Lied" ins Tagebuch, angeblich bereits die Nummer 1004 in seiner hektischen Produktion, auf jeden Fall eins seiner schönsten Gedichte:

    "An jenem Tag im blauen Mond September still unter einem jungen Pflaumenbaum da hielt ich sie, die Bleiche Stille Liebe an meiner Brust wie einen Wiegentraum, und über uns, im schönen Sommerhimmel war eine Wolke, die ich lange sah sie war sehr weiß und ungeheuer oben und als ich aufstand war sie nimmer da."

    Und Brecht machte Karriere, umgab sich mit Frauen und Freunden und Kritikern und Boxern und wurde der neue Star von Berlin. Der V-Effekt wurde entdeckte und das epische Theater, die vierte Wand mußte mit einem Mal niedergerissen werden, und die Schauspieler sollten bloß nicht mehr spielen. Baal hatte plötzlich eine Botschaft, die Wahrheit wurde konkret, der Stückeschreiber ein Lehr- und gelegentlich ein rechter Zuchtmeister.

    In der Emigration arbeitete er sich endgültig in klassische Höhen hinauf; unter dem Pseudonym "Bert Brecht" kam der selige Friedrich Schiller wieder auf die deutsche Schaubühne zurück. Der Zuschauer durfte auf keinen Fall unbelehrt nach Hause gehen, und vorher war ihm unbedingt noch die Lektion von der Schlechtigkeit der Welt zu verabreichen. "Der gute Mensch von Sezuan" zelebriert sie ebenso wie Herr Puntila und sein Knecht Matti, die "Mutter Courage" wie der "Galilei". Es war schon eine ziemlich anstrengende Schulstunde, und sie wollte nimmer aufhören. Schon vor dreißig Jahren, auf dem Höhepunkt der Brecht-Begeisterung, hat Peter Handke mit klarem Verstand Widerspruch gegen diesen theatralischen Totalitarismus eingelegt:

    "Seine Denkmodelle scheinen mir, wenn ich an die Kompliziertheit meines eigenen Bewußtseins denke, allzu vereinfacht und widerspruchslos, alle gegebenen Widersprüche werden beseitigt von dem einzigen großen Widerspruch, den es für Brecht gibt; den zwischen den Zuständen, wie sie sind und wie sie nach seiner Meinung sein sollten. Deswegen ist Brecht so einfach, vereinfacht: er zeigt zwar die Widersprüche, aber er zeigt auch die einfache Lösung dafür."

    Vermutlich wurde es auch Brecht bald zu mühsam, sich diese Kinderspiele auszudenken. Er flüchtete sich deshalb in die Gesellschaft seiner Freunde, mit denen er arbeitete, die er auch für sich arbeiten ließ. Sein zeitweiliger Freund Arnolt Bronnen hat ihn nach der Erinnerung, aber aus nächster Nähe bei dieser Arbeit geschildert:

    "Brecht spazierte, behaglich an seiner Zigarre schmauchend, durchs Zimmer, hörte sich dabei Argumente und Gegenargumente von Dutzenden von Leuten an, witzelte, zwinkerte und blieb doch unbeirrbar auf seiner Linie. Er ritt seinen Gedanken weiter, bis er ihn, großartig formuliert, gleich vor einem Miniatur-Publikum seiner stets anwesenden dienstbaren Geister diktierte. Sein Hirn schien mir ein tintenfischähnliches Saugorgan, sich ständig mit Polypen-Armen Material zuwachelnd."

    Hier aber hat sich der amerikanische Germanist und Krampfhahn John Fuegi eingekrallt und hackt auf dem Brecht herum, den er einst so verehrte. Eben war er noch mausetot, staatsmännisch eingesargt im Berliner Ensemble, für alle Zeit verräumt in der demnächst vollendeten dreißigbändigen "Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe", ein Repertoire-Zuchtmeister mit bescheidenen kreidestaubigen Qualitäten, und dann diese triumphale Wiederkehr: ein Professor aus Amerika, bekennender Feminist dazu, rettet Bertolt Brecht für die Nachwelt. Erhebt den einst größten deutschen Autor aus der Vergessenheit, entreißt ihn dem bürokratischen Klammergriff der Erben und Rechteverwalter und präsentiert einen richtigen Menschen, einen, der raucht, boxt, Gitarre spielt, in der Weltgeschichte spazierenfährt und offenbar schrecklich viel herumvögelt. Geschrieben hat er eher wenig.

    So nämlich lautet die Kampfthese von John Fuegi, daß Brecht seine Werke, die Stücke vor allem, zum größten Teil von seinem Harem, gelegentlich auch von den männlichen Angehörigen seines Hofstaats habe schreiben lassen. Das ist zwar, entgegen der edlen feministischen Erregung Fuegis, keine grandiose Neuigkeit, aber wenn es dem Buchverkauf dient ...

    Fuegi tut auch sonst alles, um das Denkmal, das sogar im Einzugsbereich des Berliner Ensembles längst geschleift ist, wieder und wieder zu stürzen. Wie beim weiland Dr. Frankenstein bedarf es gewaltiger Stromstöße, um das Monster wieder zum Leben zu erwecken, bevor ihm neuerlich die Kraft ausgeht. John Fuegi läßt die Aggregate glühen: Vom passiven Kindsmißbrauch über Antisemitismus bis zur Stasi- beziehungsweise KGB-Verstrickung bietet er so ziemlich jedes derzeit gefragte Verbrechen auf gegen seinen Angeklagten. Brecht war Kommunist, aber kein richtiger, er trieb sich mit Hitler-Anhängern herum und hätte 1933 gar nicht emigrieren müssen. Andererseits war er aber doch wieder linientreuer Kommunist, was er aber beim Verhör vor dem Senatsausschuß über unamerikanische Umtriebe 1947 heimtückisch leugnete, er unterstützte Stalin und dann doch wieder nicht, er wusch sich nicht, rasierte sich nur alle paar Tage, hatte Karies und zu viele Frauen. Brecht wird bei Fuegi gegrillt, der Leser nicht schlecht verwöhnt. Am Ende von Fuegis Denkmalstürzerei ist einem Brecht plötzlich sogar sympathisch. Er hat sich natürlich auch genau darauf einen reimlosen Vers gemacht:

    "Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut In der wir untergegangen sind Gedenkt Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht Auch der finsteren Zeit Der Ihr entronnen seid. Gingen wir doch, öfters als die Schuhe die Länder wechselnd Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung. Dabei wissen wir doch: Auch der Haß gegen die Niedrigkeit Verzerrt die Züge. Auch der Zorn über das Unrecht Macht die Stimme heiser. Ach, wir Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit Konnten selber nicht freundlich sein. Ihr aber, wenn es soweit sein wird Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist Gedenkt unsrer Mit Nachsicht."

    Das hätten die Sekretärinnen des Direktors Brecht sicher gern getippt. Der böse Baal altersweise? Das paßt nicht zusammen. Heiner Geissler, Roman Herzog, selbst dem Bundeskanzler geht das eine oder andere Brecht-Verslein glatt von der Zunge, seine Schlagervers-Einfachheit eignet sich für jeden Anlaß, und im Zweifel ließe sich damit bestimmt auch ein Supermarkt eröffnen. So gründlich ist selten einer nach seinem Tod gestorben wie der Dramatiker Brecht. Der Lyriker wäre ihm beinah mit ins geräumige Grab gefolgt, so sehr hat sich dieser leicht ungrammatische, künstlich volkstümliche Ton in die allgemeine Sprache verflüchtigt. Klingt nicht Friedrich Schorlemmer jedesmal wie O-Ton Brecht, wenn er nur den Mund aufmacht? Und Antje Vollmer erst. Zuletzt ist er also Volkseigentum geworden, auch wenn das Volk nichts davon gemerkt hat. Erinnert sich etwa noch jemand dran, daß der Haifisch gefälligst Zähne zu haben hat? Nein, die sind ihm nämlich längst stumpf gefeilt worden, und seither paßt er auch ins Lesebuch für die Unterstufe. Brecht, das ist eine schöne Erinnerung an die Zeit, als es noch Spaß machte, böse zu sein. Niemand konnte es so gut wie der niemals "arme B.B.":

    "Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern. Meine Mutter trug mich in die Städte hinein Als ich in ihrem Leibe lag. Die Kälte der Wälder Wird in mir bis zu meinem Absterben sein. In der Asphaltstadt bin ich daheim. Von allem Anfang Versehen mit jedem Sterbesakrament. Mit Zeitungen. Und Tabak. Und Branntwein. Mißtrauisch und faul und zufrieden am End. Ich bin zu den Leuten freundlich. Ich setze Einen steifen Hut auf nach ihrem Brauch. Ich sage: es sind ganz besonders riechende Tiere Und ich sage: es macht nichts, ich bin es auch. Bei den Erdbeben, die kommen werden, werde ich hoffentlich Meine Virginia nicht ausgehen lassen durch Bitterkeit Ich, Bertolt Brecht, in die Asphaltstädte verschlagen Aus den schwarzen Wäldern, in meiner Mutter in früher Zeit."