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Bremer Bürgermeister Sieling zu Flüchtlingen
"Nicht dauernd über Fragen wie Familiennachzug diskutieren"

Die Chancen für bessere Integration sind in Deutschland durchaus gegeben, sagte der Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz, der Bremer Bürgermeister Carsten Sieling, im DLF. Der SPD-Politiker kritisiert allerdings eine schleppende Umsetzung. Statt über Fragen wie einen Familiennachzug zu diskutieren, müsse man sic auf die Verbesserung der Lage im Inland konzentrieren.

Carsten Sieling im Gespräch mit Bettina Klein | 03.12.2015
    Bremens Bürgermeister Carsten Sieling
    Bremens Bürgermeister Carsten Sieling (picture alliance/dpa/Ingo Wagner)
    Das Thema will er heute auch beim Treffen der Ministerpräsidenten mit Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Sprache bringen. Zusagen wie eine bessere Personalausstattung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge und eine raschere Registrierung der Ankommenden müssten umgesetzt werden, forderte Sieling. Erst, wenn eine Entscheidung darüber gefallen sei, wer bleiben dürfe und wer nicht, könne man konkret handeln und etwa Wohnungs- und Bildungsangebote machen.
    Der SPD-Politiker forderte, die Sorgen der Menschen ernst zu nehmen. Wichtig sei, zu garantieren, dass es von keiner Seite Gewalt gebe. Hier sei es auch wichtig, etwa Polizei und Gerichte in die Lage zu versetzen, schneller zu reagieren, meinte Sieling mit Blick auf Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte.
    "Ungeheuerlich, was er sich leistet"
    Die jüngsten Äußerungen von EU-Ratspräsident Donald Tusk, der eine Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik gefordert hatte, kritisierte Sieling scharf. Der polnische Ministerpräsident mache sich zum Wortführer der Mitgliedsstaaten, die sich seit Wochen weigerten, ihre Verantwortung wahrzunehmen – obwohl es seine Aufgabe sei, zusammenzuführen. Was Tusk sich leiste, sei ungeheuerlich.

    Das Interview in voller Länge:
    Bettina Klein: Mitgehört hat Carsten Sieling. Er ist als Bürgermeister der Freien und Hansestadt Bremen im Augenblick Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz, und die wird sich heute auch noch einmal mit dem Thema beschäftigen. Guten Morgen, Herr Sieling.
    Carsten Sieling: Guten Morgen, Frau Klein.
    Klein: Wenn Sie das hören, ist Ihnen das auch neu gewesen jetzt in diesem Umfang und gerade, was den Mangel an Aufklärung der Straftaten angeht?
    Sieling: Der Mangel an Aufklärung war mir in dem Maße nicht bekannt, die genauen Zahlen natürlich auch nicht. Aber dass es in einzelnen Bereichen der Republik leider solche Übergriffe immer wieder gibt, wissen wir natürlich, und ich glaube, es ist wirklich wichtig, was auch Herr Polke-Majewski angesprochen hat, dass die Behörden, dass die Polizei instandgesetzt wird, dem wirklich nachzugehen, und auch, dass die Gerichte in die Lage versetzt werden, schneller zu reagieren.
    Klein: Es gibt ja einige Punkte, wo die Politik, wo die Behörden offenbar auch verantwortlich sind. Wie konnte es denn dazu kommen, dass diese Missstände vorhanden sind, so dass man jetzt einfach nicht mehr hinterherkommt?
    Sieling: Ich kann das natürlich für die Einzelfälle nicht beurteilen und auch in den einzelnen Bundesländern nicht. Aber wir haben natürlich generell das Problem, dass wir bei der Polizei, aber auch bei den Gerichten eine sehr starke Belastung sowieso schon haben, Verfahren häufig lange dauern. Und ich bin mir sehr sicher: Wenn wir dem nachgehen wollen, muss das passieren, was ja auf Bundesebene jetzt angefangen worden ist, dass auch die Sicherheitsbereiche gestärkt werden. Das ist sicherlich richtig. Es ist jedenfalls eher ein Vollzugsproblem, mit dem wir hier umzugehen haben.
    Klein: Dann fangen wir damit mal an: Personalmangel bei der Polizei, Dienststellen werden abgebaut, gerade in Ostdeutschland. Das ist oftmals eine Kostenfrage. Wenn die Klage von der Gewerkschaft der Polizei kommt, dann sagt man, na ja, die müssen das ja sagen, das ist ja quasi Gewerkschaftsaufgabe. Jetzt hören wir doch ein relativ objektives Urteil, dass das offensichtlich auch dazu führt. Werden Sie sich jetzt auch heute zum Beispiel bei der Ministerpräsidentenkonferenz dafür stark machen, dass dafür wieder mehr Mittel zur Verfügung gestellt werden?
    Sieling: Ja. Wir werden heute darüber reden, dass wir insgesamt etwas unternehmen müssen, um die Integration gelingend hinzubekommen. Da ist dies auch ein Aspekt, aber da geht es natürlich auch um Wohnungen, es geht um Bildung, um Arbeit und andere Dinge. Wir sehen daran: Wenn wir die Chancen - und die Chancen sind da, die in der Zuwanderung bestehen -, wenn wir die wirklich nutzen wollen, wird man auch Geld in die Hand nehmen müssen, und dazu braucht man auch klare Signale, dass ein solcher Übergriff nicht akzeptiert wird, und um das deutlich zu machen, braucht man eine starke Polizei. Deshalb gehört das dazu.
    "Unsere Kräfte auf die Verbesserung der Lage im Inneren ausrichten"
    Klein: Geben Sie uns mal ein Beispiel. Was genau werden Sie heute beschließen können?
    Sieling: Wir werden heute in dem Bereich nichts ausdrücklich dazu beschließen, sondern wir sind als Ministerpräsidenten natürlich unseren jeweiligen Ländern verantwortlich, aber werden mit der Bundeskanzlerin heute Nachmittag über die zukünftigen Herausforderungen sprechen und dieses Thema adressieren. Denn wir können nicht dauernd uns auf Fragen konzentrieren wie Familiennachzugsbegrenzung, die ich für völlig falsch halte, und andere Dinge, sondern müssen endlich wieder unsere Kräfte auf die Verbesserung der Lage im Inneren ausrichten.
    Klein: Nennen Sie uns mal ein Beispiel. Was steht denn bei Ihnen ganz oben auf der Wunschliste dessen, wo Sie andere Entscheidungen oder mehr Unterstützung vom Bund sich wünschen?
    Sieling: Die Umsetzung der Zusagen. Das heißt insbesondere, dass die Registrierung der Menschen, die hier herkommen, beschleunigt werden muss, dass das BAMF, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, personell vernünftig ausgestattet wird und wir auch die Entscheidung darüber kriegen, wer denn hier bleiben kann. Denn wenn das sicher ist, dann können wir anfangen, für die Menschen Arbeit zu suchen. Dann können wir anfangen, sie aus den Übergangswohnheimen in Wohnungen zu bringen. Dann können wir uns um die Bildung für die Kinder kümmern und viele andere Dinge mehr.
    Klein: Abgelegene Grundstücke, auf denen Flüchtlingsunterkünfte mitunter untergebracht werden, das war jetzt ein Punkt, der auch von dem Kollegen von der "Zeit" genannt wurde. Abgelegen und insofern gefährlich, als man dort offenbar schneller mal einen Molotow-Cocktail hinwerfen kann. Ist das ein Punkt, den Sie auch sehen, denn das ist ja in vielen Ländern und Kommunen großes Thema: Wo werden die Menschen so untergebracht, dass sie auch in Harmonie mit der Bevölkerung rundum leben?
    Sieling: Ja natürlich! Das ist ein großes Ziel. Aber wir sind natürlich zurzeit auch in der Situation, dass wir erst mal nehmen müssen, was sich uns anbietet. Weil in vielen Bereichen erfolgt immer noch Unterkunft in Zelten, auch in Turnhallen, und wir müssen deshalb alles Mögliche nutzen. Ich halte aber den Hinweis für richtig, dass man gerade bei abgelegenen Orten natürlich dafür sorgt, dass der entsprechende Schutz dort auch gewährleistet ist, und darum müssen sich in erster Linie dann natürlich auch die da zuständigen Bundesländer kümmern.
    Klein: Auf der einen Seite fühlen sich Täter bestätigt - so hat der Kollege das auch gerade noch mal geschildert -, dass sie quasi im Namen anderer Menschen handeln, wenn sie Übergriffe gegen Flüchtlingsunterkünfte planen und ausführen. Auf der anderen Seite fühlen sich Bürger unverstanden und sagen, unsere Bedenken, unsere Ängste und Befürchtungen werden nicht ernst genommen und werden auch in den Medien nicht offen genug diskutiert. Wo verläuft denn da die Gratwanderung, die wir hier alle zu beschreiten haben?
    "Tusk hat zusammenzuführen und die Probleme zu lösen"
    Sieling: Erst mal finde ich diesen Aspekt sehr, sehr wichtig und sehr, sehr richtig. Das ständige Reden darüber, wir seien überfordert, wo wir doch eine Situation haben, in der wir natürlich stark gefordert sind, aber uns immer noch den Luxus einer schwarzen Null auf Bundesebene leisten, da ist viel selbsterzeugter Unbill dabei. Deshalb ist diese Ausrichtung richtig, dass man nicht den Widerstand dagegen ermutigt, sondern an den Lösungen arbeitet, und ich halte das auch für den einzigen Weg, um die natürlich verständlichen Sorgen von Menschen, dass es zu Verdrängungen kommen könnte, anzugehen. Wir wollen nichts verdrängen, sondern wir müssen Zusätzliches schaffen, und das kann Deutschland auch schaffen.
    Klein: Was sind denn Sorgen, wo Sie sagen, die müssen wir aber ernst nehmen, auch wenn wir Gefahr laufen, damit Täter zu bestätigen?
    Sieling: Na ja, dass zum Beispiel in den Schulen natürlich Kinder integriert werden und in die Klassen kommen und dadurch es enger wird und die Verhältniszahl von Lehrern zu Schülern vielleicht sich in einer Übergangsphase schwieriger gestaltet. Da machen sich Menschen Sorgen um die Bildung ihrer Kinder und deshalb müssen wir da zum Beispiel herangehen. Aber natürlich, weil wir ja auch über den Einsatz von Polizei gesprochen haben, muss man sich vor allem dagegen schützen und müssen wir alles möglich machen, dass es nicht zu gewalttätigen Übergriffen kommt, in keine Richtung, und da muss man konsequent sein.
    Klein: Herr Sieling, eingangs der Stunde haben wir gehört, dass der EU-Ratspräsident Donald Tusk im Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" die deutsche Kanzlerin, die Sie ja auch treffen werden heute, ganz eindeutig zu einer Kehrtwende auffordert. Die Stimmung kippt in einigen europäischen Ländern, jetzt auch in den Worten des EU-Ratspräsidenten. Gehen Sie davon aus, dass wir da eine Kehrtwende erleben werden?
    Sieling: Herr Tusk macht sich hier zum Wortführer der Länder, der europäischen Mitgliedsstaaten, die sich seit Wochen und Monaten verweigern, ihren Anteil wahrzunehmen und ihre Verantwortung wahrzunehmen. Die Bundeskanzlerin, alle Mitglieder der Bundesregierung, alle sind sozusagen heftig und übrigens auch die EU-Kommission dabei, diese Länder dazu zu bewegen. Man kann nicht nur Geld empfangen, sondern man muss auch was leisten. Dass Herr Tusk diese Position jetzt einnimmt, ist ungeheuerlich für die Rolle, die er hat. Er hat zusammenzuführen und die Probleme zu lösen und nicht einseitig sich auf die Seite der Verweigerer zu stellen.
    Klein: Er verweist unter anderem auch auf Sicherheitsrisiken, dass es gar nicht mehr möglich sei - und das stimmt ja offenbar -, wirklich genau nachzuvollziehen, wer eigentlich nach Europa kommt. Und damit - es ist ja offenbar so - nimmt er auch Ängste und Sorgen von Bürgern ernst.
    Sieling: Ja, die nimmt er auch auf, und darum ist es ja so wichtig, was ich vorhin angesprochen habe, dass wir die Registrierung stark machen, dass wir das natürlich erfassen. Aber ich will auch darauf hinweisen - und da spreche ich auf der Grundlage der Aussagen des Bundeskriminalamts -, dass es keine nachweislichen Verbindungen gibt zu beispielsweise terroristischen Aktivitäten und dem Zusammenhang zu Flüchtlingen, und diesen Eindruck erweckt Herr Tusk mit dieser Unterstellung, dass die Sicherheit dadurch gefährdet sei. Das stimmt in dem Fall und in dem Maße nicht, wie er das hier betont. Von daher halte ich das für wirklich unverantwortlich. Es schürt Ängste.
    Klein: Die Einschätzung von Carsten Sieling heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk, Bremer Bürgermeister und im Augenblick Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz. Er gehört der SPD an. Danke, Herr Sieling, für das Interview.
    Sieling: Danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.