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Brennende Wirklichkeit – kalte Theorie von Kim Joo-Youn

Wo vor 60, 70 Jahren noch Reisfelder waren, erheben sich heute Wolkenkratzer, werden Samsung-Computer und Dae-Woo-Autos in alle Welt verkauft. Industrialisierung im Schnellverfahren. Südkorea hat sich so rasant gewandelt wie kaum ein Land und diese Wandlung hat kulturelle Spuren hinterlassen, wie Kim Joo-Youn in einem seiner Essays beschreibt.

Von Katharina Borchardt | 03.06.2005
    "Wir leben in einem Zeitalter der Zerrissenheit." Ganz unauffällig mischt er sich unter all die anderen Sätze, dieser Satz, der den Ausgangspunkt aller Essays von Kim Joo-Youn in Worte fasst. "Wir leben in einem Zeitalter der Zerrissenheit" – und die ganze moderne koreanische Kultur zeugt davon. Zugespitzt gesagt: Wo vor 60, 70 Jahren noch Reisfelder waren, erheben sich heute Wolkenkratzer, werden Samsung-Computer und Dae-Woo-Autos in alle Welt verkauft. Industrialisierung im Schnellverfahren. Südkorea hat sich so rasant gewandelt wie kaum ein Land und diese Wandlung hat kulturelle Spuren hinterlassen, wie Kim Joo-Youn in einem seiner Essays schreibt:

    "Unsere moderne Kultur hat nämlich ihren Ursprung in einer umfassenden Sichtung und Verarbeitung abendländischer Denk- und Lebensweisen, insbesondere derjenigen ihrer Erscheinungsformen, die dann bei uns mit dem [Attribut] 'neu' versehen wurden – wie etwa "neue Literatur", "neue Wissenschaft", "neuer Lebensstil"; und diese mussten in der Tat eine Herausforderung für unsere eigene Kultur darstellen, nachdem Korea sich […] gegenüber dem Abendland geöffnet hatte. "

    Neues ist entstanden. Und oft herrscht Ratlosigkeit bei der Frage, was nun das typisch Koreanische noch sei. Die Identitätsfindung ist schwierig: Traumatisch war auch die japanische Okkupation in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Etwa 40 Jahre lang unterdrückten die Japaner die koreanische Kultur und zwangen Volk und Schriftsteller, auf Japanisch zu schreiben. Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten die Besatzer weichen und es machten sich in Nordkorea die Sowjets, in Südkorea die Amerikaner breit. Das Land ist bis heute gespalten – nicht nur politisch, sondern auch kulturell.

    Die Sehnsucht nach dem spezifisch Eigenen und Einheitlichen ist in Korea groß; auch Kim Joo-Youn hat sich dieser Suche in seinen Essays verschrieben. Die stolze Rückbesinnung auf große koreanische Dichter - wie zum Beispiel Chong Chol, Yi Yulgok oder Yun Sondo - allein reicht nicht. Es sind viele Fragen zu klären: Wie ist eine einheitliche koreanische Literaturgeschichte zu schreiben? Gibt es eine typische Nationalliteratur? Ab wann kann man von einer modernen koreanischen Literatur sprechen? Doch schon der Umgang mit den Begriffen ist problematisch:

    "Solange der Begriff "Moderne" an ein neues Geschichtsbewusstsein gekoppelt wird, das vom Geist der Renaissance, der Französischen Revolution oder der Industriellen Revolution in England geprägt ist, verkommt er notwendigerweise zu einem auf den Vergleich mit dem Abendland fixierten Komparationsbegriff, indem er in seinem ursprünglichen Verständnis von ganz anders gearteten Kulturkreisen mit einer völlig anderen historischen Entwicklung übernommen wird. "

    Die nun erstmals auf Deutsch erschienenen Essays von Kim Joo-Youn zeugen vom langsamen Herantasten an die Charakteristika und die Bedeutung der koreanischen Literatur. Er stellt bereits gefasste Theorien anderer Autoren vor und zur Diskussion. Darüber hinaus zitiert er – übrigens wunderschön zu lesen! - koreanische Erzählungen und Gedichte und interpretiert sie neu. Schnelle Antworten hat er nicht parat. Doch der große Wurf würde der Suche nach einem Kontinuum in Geschichte und Literatur auch kaum gerecht. Seine Arbeit hat für Kim Joo-Youn eine wichtige politische Bedeutung:

    "Was könnte nun die Aufgabe sein, der sich die heutige Literaturkritik in unserer gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation zu stellen hat? Meines Erachtens besteht sie darin, einen Geist der Literatur herauszubilden, der als allgemeines Leitprinzip der Gesellschaft Ziel- und Richtungsvisionen anbietet. "

    Um Kim Joo-Youns kluge Essays verstehen zu können, ist ein Korea-spezifisches Vorwissen nicht nötig. Anregend sind sie sehr und dies vor allem für Deutsche, die das Phänomen einer 40 Jahre lang geteilten Literatur selbst kennen. Doch darüber hinaus wirft auch die zunehmende Globalisierung, die Vermischung von Kulturen im alltäglichen Leben, hierzulande die Frage nach dem Eigenen auf. Die Sehnsucht nach Einheitlichkeit ist nicht zu leugnen. Das sieht man zum Beispiel auch an der Leitkultur-Diskussion, die vor einiger Zeit in Deutschland stattgefunden hat. Die Frage ist nur, ob in einer kulturell vermischten Welt, wie wir sie heute erleben, Einheit überhaupt noch möglich ist. Entsprechend der politischen Veränderungen sind in Europa Strukturalismus und postmoderne Theorien entstanden. Der Germanist Kim Joo-Youn bezieht sich in seinen Essays aber vor allem auf die deutsche Romantik und den Idealismus nach Hegel. Sein aktuellster Bezugspunkt ist die Frankfurter Schule, wenn er das für Korea noch relativ neue Phänomen der Massenliteratur diskutiert. Da hat man das Gefühl, in der Diskussion mindestens ein paar Jahrzehnte zurückgerutscht zu sein.

    Die Sehnsucht mag bleiben, doch von dem Gedanken einer idealistischen weltumspannenden Vernunft oder einer spirituellen Einheit, wie Kim Joo-Youn sie wünscht, haben sich die Diskurse des Abendlandes bereits verabschiedet – dies auch in Deutschland. Nur die Akzeptanz von Rissen und Brüchen in der Geschichte ermöglicht es heute, die eigene Identität auszumachen.

    "Brennende Wirklichkeit – kalte Theorie"
    Von Kim Joo-Youn
    (Iudicium Verlag)