Dienstag, 16. April 2024

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Brexit und Bleiberecht
"Das war eher ein taktischer Schachzug von Frau May"

Die britische Premierministerin Theresa May hat EU-Bürgern Bleiberecht nach dem Brexit versprochen. Es müsse jedoch genau geprüft werden, was mit diesem Angebot verbunden sein werde, sagte der SPD-Politiker Jo Leinen im Dlf. Denn man müsse zwischen dem Bleiberecht und der in der EU vorherrschenden Freizügigkeit unterscheiden.

Jo Leinen im Gespräch mit Sandra Schulz | 23.06.2017
    Der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen
    Mit diesem Angebot habe May auch die Atmosphäre bei den Brexit-Verhandlungen aufbessern wollen, vermutete der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen. (imago / Yex Pingfan)
    Sandra Schulz: Genau heute vor einem Jahr, am 23. Juni 2016, da versetzten die Briten vielen Europäern einen tiefen Schock mit ihrem knappen Votum für einen Brexit, für ein Ausscheiden Großbritanniens aus der Europäischen Union. Ende März beantragte London offiziell den Austritt. Inhaltlich hat sich im vergangenen Jahr bisher allerdings noch nicht allzu viel bewegt. Lange waren Brüssel und London sogar über die Frage zerstritten, in welcher Reihenfolge jetzt was besprochen wird.
    Vor einigen Minuten konnte ich darüber mit dem SPD-Europaabgeordneten Jo Leinen sprechen und als erstes habe ich ihn gefragt, wie er dieses Signal sieht, das jetzt aus London kommt.
    Jo Leinen: Man muss genau prüfen, was mit diesem Angebot verbunden ist. Großartige Vorzüge werden damit nicht gegeben. Ich glaube, das war eher ein taktischer Schachzug von Frau May, die Atmosphäre etwas aufzubessern, die ja doch sehr garstig und biestig gewesen ist in den letzten Wochen.
    "Bleiberecht, das ist sozusagen nur die Garantie, dass man nicht rausgeschmissen wird"
    Schulz: Warum sind da jetzt keine inhaltlichen Vorzüge gegeben, wenn die Theresa May, die britische Premierministerin, jetzt klarstellt, alle Menschen, die bei uns in Großbritannien leben, die müssen sich künftig keine Sorgen mehr machen?
    Leinen: Man muss unterscheiden zwischen einem Bleiberecht in Großbritannien und der Freizügigkeit, die die Bürgerinnen und Bürger in der EU genießen. Freizügigkeit heißt, dass alle Rechte gegeben sind, ob Krankenversicherung, Rentenversicherung, Arbeitszugang, Familiennachzug. Es gibt da ja viele persönliche Bedingungen, die ein volles Leben auch ermöglichen. Ein Bleiberecht, das ist sozusagen nur die Garantie, dass man nicht rausgeschmissen wird. Aber welche Rechte man danach hat, das steht noch in den Sternen.
    "Viele Gefahren für die drei Millionen Europäer, die in Großbritannien wohnen und arbeiten"
    Schulz: Das ist aus Ihrer Sicht jetzt tatsächlich immer noch offen, ob meinethalben die EU-Bürger, die dann Großbritannien verlassen und wieder zurückkommen, ob die dann auch wieder "reingelassen" werden?
    Leinen: Ja, es ist mit vielen Unwägbarkeiten verbunden. Es gab ja auch schon die Ansage aus London, dass nach dem Brexit ausländische Bürger höher besteuert werden. Das wäre zum Beispiel eine Diskriminierung, die jetzt ja als EU-Bürgerin und EU-Bürger nicht zugelassen ist. Hier sind doch viele Gefahren für die drei Millionen Europäer, die in Großbritannien wohnen und arbeiten, und das muss jetzt noch verhandelt werden und muss wasserdicht gemacht werden. Vor allen Dingen auch: Wer urteilt über Streitpunkte? Ist das der Europäische Gerichtshof, oder sind das dann britische Gerichte? Auch das wird noch ein Verhandlungspunkt werden müssen.
    "Die Stimmung in Großbritannien ist ja umgeschlagen"
    Schulz: Trotzdem scheint es jetzt ja das erste Quäntchen wirklich an inhaltlicher Bewegung zu sein, und das war den Europäern ja auch ganz wichtig, die Verhandlungen und die Gespräche über den Status der EU-Bürger in Großbritannien an den Anfangspunkt der Verhandlungen zu setzen. Ist das vor dem Hintergrund nicht eine doch wirklich ganz wichtige Geste, die jetzt aus London kommt, die Sie jetzt gerade zu einem taktischen Schachzug erklären?
    Leinen: Das kommt natürlich auch von dem Hintergrund der Ergebnisse der Parlamentswahlen in Großbritannien. Frau May hat ja keine Mehrheit mehr und ihr Koalitionspartner aus Nordirland will keinen harten Brexit. Die gestärkte konservative Partei in Schottland will keinen harten Brexit. Die Stimmung in Großbritannien ist ja umgeschlagen und sie musste jetzt einen Schritt nach vorne gehen. Das hat sie dann gestern Abend getan. Nur die Wertigkeit dieser Aussage, die ist relativ begrenzt. Trotzdem muss man das begrüßen, weil natürlich wollen wir einen fairen Deal, wenn denn schon Großbritannien aus der EU rausgeht, und es ist immer besser, in guter Atmosphäre zu verhandeln, wie dass man sich feindselig gegenübersitzt, und dann gelingt auch meistens nicht viel.
    Schulz: Sie haben ja immer wieder für eine eher harsche Verhandlungslinie auch der Europäer plädiert. Heißt das, dass Sie das jetzt auch relativieren?
    Leinen: Ich sehe, dass das ein taktischer Schachzug ist. Das sieht nach außen gut aus. Wieviel das nach innen wert ist, muss man wirklich noch sehen. Die knackigen Punkte, die kommen erst noch. Die Finanzverhandlungen, was Großbritannien bezahlen muss aufgrund der Verpflichtungen, die sie eingegangen sind, die ganze Frage der Anschlussbeziehungen, ist es denn ein harter Brexit, wirklich der Komplettausstieg aus der EU, oder gibt es dann doch einen Mittelweg, wo sie im Binnenmarkt bleiben, das hätte dann auch wiederum Auswirkungen auf den Status der Bürgerinnen und Bürger, weil der Binnenmarkt ist mit Freizügigkeit verbunden und nicht nur mit Bleiberecht. Sie sehen, die Dinge hängen zusammen, und die EU-Linie gilt, nichts ist vereinbart, bevor alles vereinbart ist.
    "Es gibt einen Machtkampf in London"
    Schulz: Stellt sich die Frage denn nach dem harten Brexit jetzt noch, nachdem, Sie haben es ja gerade auch angedeutet, wir dieses britische Wahlergebnis gesehen haben, das ja auch die britische Ambivalenz oder auch die tiefe Gespaltenheit des Landes zeigt?
    Leinen: Die Minister sind nach wie vor im Amt. Herr Davis, der das verhandeln soll, ist ein harter Brexitier. Herr Johnson ist noch Außenminister, auch einer, der den Komplettausstieg fordert. Es gibt einen Machtkampf in London zwischen denen, die nach wie vor den Komplettausstieg aus der EU wollen, und den anderen, die die Nachteile sehen und eher einen vernünftigen Weg gehen wollen. Ich glaube, die EU ist gut beraten, hart zu bleiben, ihren Prinzipien treu zu bleiben, nicht auf angebliche schöne Worte reinzufallen, sondern dann auch unsere Werte und unsere Prinzipien zu verteidigen, und dann mag es in London auch mehr Bewegung geben.
    Schulz: Aber es ist ja überhaupt nicht damit zu rechnen, dass sich an dieser Gespaltenheit, von der ich gerade gesprochen habe, was sich ja auch abbildet, wie Sie gerade sagen, in diesem Kabinett, das so tief widersprüchliche Positionen abbildet, etwas ändert.
    Leinen: Wenn es konkret wird, werden sich auch in London die Geister scheiden. Nicht nur der Präsident der britischen Nationalbank, auch viele Vertreter der britischen Wirtschaft warnen vor einem harten Brexit und sehen nicht, dass die Versprechungen wirklich Realität werden, dass Großbritannien sich bessersteht, wenn es komplett sich von dem europäischen Kontinent trennt. Wenn es konkret wird, dann, glaube ich, haben die die Oberhand, die eine Vernunftslösung wollen und nicht eine ideologische Lösung, wir sind Großbritannien, wir haben mit Europa nichts mehr zu tun, wir sind ein Drittland, wie das vielleicht Argentinien oder Kanada wäre, mit denen wir natürlich auch Beziehungen haben, aber ganz anderer Art, als wir es in einem geeinten Europa mit unseren Ländern und unseren Nachbarn pflegen wollen.
    Schulz: Meinen Sie jetzt die Europäische Union, oder London mit den Stimmen der Vernunft, die Sie da gerade zitieren oder auf die Sie hoffen?
    Leinen: Die Schotten wollen nicht raus, die Nordiren wollen nicht raus, die letzte britische Wahl hat gezeigt, dass ganz knapp die jungen Leute, ein Großteil der Bevölkerung kein Exit für sich genommen will, sondern eine Lösung jetzt, wenn es denn nicht anders geht, die die Brücken nicht wegreißt, sondern die Brücken nach wie vor über den Kanal bestehen lassen zwischen Großbritannien und der Europäischen Union.
    "Man wird aber mal sehen müssen, was am Ende dabei herauskommt"
    Schulz: Aber es ist ja ganz klar Beschlusslage, dass die Briten raus wollen, wenn es auch diese knappe Mehrheit gegeben hat. Muss Europa das nicht langsam auch mal erkennen, dass es so kommen wird?
    Leinen: Wir sind darauf eingestellt, das ist schmerzhaft, niemand wollte diesen Brexit. Gut, die Bevölkerung hat knapp sich dafür ausgesprochen. Man wird aber mal sehen müssen, was am Ende dabei herauskommt. In zwei Jahren sind wir schlauer, ob diese Verhandlungen nicht doch zur Erkenntnis führen, dass man auch noch mal die britische Bevölkerung fragen muss, ob sie das gewollt haben. Es gibt ja starke Kräfte auch in Großbritannien, die ein zweites Referendum verlangen, und das wäre auch sachgerecht. Die Bevölkerung hat einmal gesprochen, ohne dass klar war, was denn mit Brexit gemeint ist, und wenn das Ergebnis auf dem Tisch liegt, dann wäre es wirklich die demokratische Fairness, nochmals die Bevölkerung zu fragen, seid ihr dafür, dann ist das so, oder, wenn sie sich das anders überlegt, dann gibt es auch vielleicht noch einen Türspalt, der offen ist für eine Neuausrichtung Großbritanniens mit der Europäischen Union.
    Schulz: Der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen heute Mittag im Gespräch mit dem Deutschlandfunk.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.