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Brexit-Votum und das klassische Musikgeschäft
Weg in die musikalische Isolation?

Die Briten haben gewählt und entschieden: EU, nein danke! Was aber bedeutet diese Entscheidung für die Orchester auf der Insel und auf dem Festland? Wird es in Zukunft weniger Tourneen englischer Orchester geben? Was passiert mit den Musikern, wenn sie auf einmal keine EU-Bürger mehr sind?

Von Christoph Vratz | 28.06.2016
    Das Europäische Jugendorchester (EUYO) wird während einer Probe in London von Vladimir Ashkenazy dirigiert
    Hat seinen Sitz zur Zeit noch in London: das Europäische Jugendorchester (picture alliance / dpa)
    Nun ist sie da, die allgemeine Verunsicherung. Denn auch die europäische Musiklandschaft wird sich nach dem englischen Brexit-Votum voraussichtlich ändern. Aber wie?
    Alexander Meraviglia-Crivelli, Generalsekretär des in Wien beheimateten Gustav Mahler Jugendorchesters, mahnt erst einmal zur Besonnenheit.
    "Ich glaube, dass die europäische Orchester- und auch Opernkultur sicher einige Auswirkungen des so genannten Brexit spüren wird, aber ich würde zunächst einmal zu einer gewissen Gelassenheit und nüchternen Analyse der dann folgenden Situation mahnen, denn was genau folgen wird, wissen wir noch nicht."
    Zumindest kurzfristige Irritationen
    Reduziert man den Brexit und dessen mögliche Folgen auf die europäische Orchester-Landschaft, so steht für den Berliner Kultur- und ehemaligen Orchestermanager Andreas Richter fest:
    "Für die Orchester in England wird es weit größere Folgen haben als für die Festeuropas. Aber das wird sehr davon abhängen, wie der Status von Musikern verhandelt ist. Wie ist das mit Arbeitnehmerfreizügigkeit? Das sind ja zum Teil allgemeinere Fragen, die Arbeitsverhältnisse betreffen. Und da weiß man jetzt gar nicht, wie das ausgeht. Wenn das ein Status ist wie in Norwegen oder der Schweiz, dann würde ich langfristig keine großen Probleme vermuten, aber sicher eine kurzfristige Irritation, weil man nicht weiß, wie es aussieht."
    Doch schon jetzt dürfte klar sein: Kurzfristige Auswirkungen lassen sich nicht vertuschen.
    "Also erst einmal hat sich ja der Wechselkurs schon dramatisch verändert. Das ist in dem Fall erst einmal zu Ungunsten der englischen Orchester. Das heißt, die Preise, die sie erzielen, die Gagen, sind weniger wert. Die Preise steigen."
    Davon bleiben die Orchester auf dem Kontinent erst einmal verschont. Beim Gustav Mahler Jugendorchester, das unter dem Patronat des Europarates steht, kommen die Musiker aus vielen Ländern Europas. Doch unmittelbare Auswirkungen fürchtet Alexander Meraviglia-Crivelli, selbst für die britischen Musiker, zunächst einmal nicht.
    "Das liegt daran, dass wir als in Österreich beheimatetes, aber in ganz Europa tätiges Jugendorchester – wir sind eine Charity-, Non-Profit-Organization –, dass wir in steuerlicher und anderer Hinsicht zwar einen ziemlich erheblichen administrativen Aufwand übrigens mit allen oder fast allen Mitgliedstaaten der EU fahren müssen, aber wir haben keine Beschränkungen."
    Auch Reisemöglichkeiten dürften, gerade für Projektorchester, auch künftig kein Problem darstellen. Die offenen Fragen gehen jedoch nicht nur in Richtung London, sondern vor allem auch nach Brüssel, wo sämtliche EU-Gelder verwaltet werden.
    "Es gibt auch Länder, die am Kulturprogramm der EU teilnehmen, die nicht Mitglied der EU sind. Die zahlen einen Beitrag, und da gibt es Assoziierungsabkommen. Das ist durchaus üblich. Das müsste man durchaus neu verhandeln, wenn Großbritannien oder West-England am Kulturprogramm teilnehmen wollen, dann können sie nach den Regeln, die alle anderen Länder auch befolgen, einen Beitrag bezahlen, und dann sind sie gleichberechtigt mit dabei."
    Spezialfall: Europäisches Jugendorchester
    Was aber ist beispielsweise mit dem Europäischen Jugendorchester, oder seinem spezialisierten Ableger, dem "EUBO", das sich ganz der Barockmusik verschrieben hat? Beide Klangkörper sind rein EU-finanziert. Vor wenigen Wochen noch stand das Jugendorchester, unabhängig vom Brexit, auf der Kippe. Die Förder-Gelder sollten umverteilt und am Europäischen Jugendorchester vorbeigezahlt werden:
    "Dann gab es einen großen Aufschrei, eine Kampagne, an der wir uns auch ziemlich lautstark beteiligt haben, die dann dazu geführt hat, dass einige der, sagen wir: medial präsenten Vertreter der EU Lippen-Bekenntnisse von sich gaben und ein Seufzen der Erleichterung zu vernehmen war, und jetzt ist es so, dass das in London sitzende Orchester sich als EU-Orchester schleunigst wird überlegen müssen, wie man an die versprochenen, aber noch nicht endgültig zugesicherten endgültig fixierten Gelder herankommen kann."
    Die unmittelbaren Folgen liegen für Alexander Meraviglia-Crivelli auf der Hand:
    "Ich nehme an, das Orchester wird überlegen müssen, seinen Sitz von London aus in ein anderes Land zu verlegen."
    Anders betrachtet: Klangkörper, die nicht exklusiv an Kommunen oder Länder oder eben an die EU gekoppelt sind, wie das Gustav Mahler Jugendorchester, sind hier im Vorteil.
    "Wir sind ein in ganz Europa tätiges, uns nicht nur auf die EU und das aus gutem Grund beschränkendes Jugendorchester, dass seine Musiker aus allen Ländern kulturell und geographisch, die zu Europa gehören, rekrutiert, aber wir haben uns nie darauf beschränken lassen, politisch, administrativ, nur einer Vorgabe zu entsprechen, und zum zweiten haben wir uns auch nicht von einem einzigen Fördergeber abhängig gemacht, und ich glaube, das zahlt sich aus."
    Mögliche Nebenwirkungen
    Auch wenn man nur schwer in die Glaskugel der Zukunft schauen kann – für den Berliner Kulturmanager Andreas Richter ist bereits jetzt absehbar:
    "Wir haben einen relativ langen Vorlauf bei Orchestertourneen z.B. man plant jetzt, was in zwei Jahren stattfindet. Und jetzt wird niemand ein englisches Orchester einladen, wenn niemand weiß: Wie sind die Rechtsumstände dieses Gastspiels in zwei Jahren, wenn die Briten möglicherweise gerade ausgetreten sind?"
    Gerade für die Ausbildung junger Musiker könnten sich, sofern die Verhandlungen über den Brexit zur Hängepartie werden, unangenehme Konsequenzen ergeben:
    "Ich glaube, es gibt andere Bereiche, z.B. Ausbildung, Colleges, die sind womöglich viel mehr betroffen. Was natürlich auch das Musikleben verändert. Weil im Moment kostet das Studium für EU-Bürger ungefähr die Hälfte von dem, was es sonst kostet, wenn man nicht EU-Bürger ist."
    Neben dem Orchesterbetrieb im engeren Sinne erwartet Andreas Richter auch für die gesamte Logistik im Hintergrund offene Baustellen.
    "Traditionellerweise sind die großen Agenturen fast alle in London basiert. Das ist ein Erbe des Zweiten Weltkriegs, weil vorher war Berlin ein bisschen die Hauptstadt der großen Agenturen. Wie weit die auf dem Kontinent dann ihre Geschäfte machen können, in welcher Form, sei es Künstler vermitteln, sei es Orchestertourneen, auch das bleibt abzuwarten, ob das tangiert wird oder nicht."
    Erste Stellungnahmen englischer Orchestermanager zeigen, dass gerade für die Orchester auf der Insel eine Zeit der Ungewissheit angebrochen ist. Und Dirigent Daniel Barenboim warnt auf seiner Homepage davor, in ein großes Lamento anzustimmen, allein um verstärktem Extremismus keine Plattform zu bieten, vielmehr solle man sich, im Sinne des ursprünglichen EU-Gedankens, auf die Gemeinsamkeiten konzentrieren.
    Das dürfte jedoch schwierig sein, denn eines ist – unabhängig vom Brexit – längst Fakt. Alexander Meraviglia-Crivelli:
    "Schon jetzt ist der bürokratische Aufwand innerhalb mancher Staaten der Europäischen Union und zusätzlich nach England, das ja nicht Schengen angehört, erheblich. Die Bürokratie wird mit Sicherheit auch in Zukunft, ob innerhalb oder außerhalb der EU, Wege finden, um ihren Bürgern das Leben schwer zu machen."
    Für Musiker in Großbritannien dürften die Auswirkungen eines Brexit gravierender sein als für die Musiker auf dem Festland. Für alle aber gilt: Eine Phase der Unsicherheit hat nun begonnen. Vielleicht ist das Credo, nach dem man beim Gustav Mahler Jugendorchester lebt, daher aktueller denn je:
    "Wir haben es seither immer verstanden, der Politik so weit wie möglich aus dem Wege zu gehen respektive den Möglichkeiten, die sich uns boten, so anzugehen, dass man trotzdem seine Arbeit machen kann."