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Briefe an Bruder und Schwager

Georg Canetti, Bruder von Elias und Schwager von Veza Canetti, wurde für das Paar über viele Jahre zu einem wichtigen Bezugspunkt. Die "Briefe an Georges" erhellen die besondere Beziehung der Eheleute.

Von Astrid Nettling | 30.10.2006
    Stellen wir uns vor: ein Dreieck - unten an der Basis ein Mann und eine Frau, beide Schriftsteller, zudem in einer symbiotischen, mitunter Strindbergsche Züge annehmenden Ehe miteinander verbunden. Oben an der Spitze eine weitere männliche Person, Arzt und Lungenspezialist von Beruf. Eine Konstellation wie für eine klassische, mithin banale Dreiecksgeschichte, wären da nicht die beiden Hauptakteure, Elias und Veza Canetti, die für ein Beziehungsdreieck von besonderer Art bürgen. Wie auch der dritte, der Bruder beziehungsweise Schwager Georg Canetti, intensiver Bezugspunkt für beide. 5 Jahre jünger als Elias, 13 Jahre jünger als Veza zeigen Fotos einen gutaussehenden Mann, hochgewachsen, schlank, mit klugem, freundlichem Blick. Nicht nur im Aussehen das Gegenteil seines Bruders ist Georg anders als der Egomane Elias von zurückhaltendem Charakter, verbindlich, gewissenhaft, geradlinig. Über die familiäre Verbundenheit hinaus sind es wohl diese Charakterzüge, die ihn zu jenem Bezugspunkt innerhalb des Dreiecks machen, der der oftmals labilen Basis von Bruder und Schwägerin eine gewisse Stabilität verleiht über Jahrzehnte durchaus auch in finanzieller Hinsicht.

    Doch das ist nicht die Hauptsache: Für Elias bleibt Georg, literarisch gebildet und auch begabt, Zeit seines Lebens das einzige ihm nahestehende männliche Wesen, für Veza ist er eine Lichtgestalt in der trüben Zeit der literarischen Erfolglosigkeit ihres Mannes sowie des Exils in England, und für beide ist er das Objekt gemeinsamer Sorge. Denn Georg oder Georges, der anerkannte Tuberkuloseforscher am Pasteur Institut in Paris, ist selbst lungenkrank und wird 1971 auch an dieser Krankheit sterben. Und nicht zuletzt ist er der Adressat ihrer Briefe. Für Elias eine Art moralisches Über-Ich, vor dem er, der großspurige, aber erfolglose Dichter, sich immer wieder rechtfertigt und um Verständnis für sich und seine Lage wirbt: "Ich bitte Dich nur um Eines: halte mir keine Predigten und sei nicht so kleinlich; es ist das Einzige, was uns noch ein wenig trennt."

    Veza wiederum entwickelt zu Georg, der eigentlich Männern zugeneigt ist, neben ihrer mütterlichen Sorge eine wunderbar inszenierte Leidenschaft, in der sie ihren ganzen Witz, ihren Geist und Sinn fürs Groteske entfaltet und sich so für die Eskapaden und sonstigen Zumutungen ihres Gatten - dem Murkl, Wurschtl, Bauscherl, wie sie ihn nennt - entschädigt.

    "Liebster Georg!
    Der Murkl sagt, jetzt kennt er mich 14 Jahre und ich bin ihm schon schrecklich fad. Er sagt, er wird mich Ihnen anhängen, ohne dass Sie es merken. Er sagt, Sie haben so ein mitleidiges Gefühl für alte Weiber und er wird Sie mit mir anschmiern. Werden Sie mich wirklich nehmen? Ich koste garnichts, kann eine sehr gute Nusstorte machen, Slatko, Schinkenfleckerl, Vanillekipferl, braune Eier, Linzertorte und Müsli. Ich verlange keinen Lohn, nur Kino ein Mal die Woche. Wenn Sie neben mir sitzen braucht der Film auch nicht zu laufen.
    Und jetzt klären Sie mich über alles auf und schreiben Sie öfter und lieben Sie mich doch, Sie Rohling, und werden Sie nicht blass und immer blasser und heilen Sie nicht Kranke, es zahlt sich nicht aus. - Nichts zahlt sich aus."

    Aus einem Brief der 40-Jährigen vom Frühjahr 1938. Da in Wien die Lebensumstände für die jüdische Bevölkerung unerträglich geworden sind - "Hier werden die Menschen eingeteilt in Arier, Halbarier, Hunde und Juden. Um die Hunde kümmert sich der Tierschutzverein" -, emigriert das Ehepaar Canetti Ende desselben Jahres nach England. Von dort setzt vor allem Veza ihre Briefe an "Darling George" im verstärkten Maße fort. Ohnehin überwiegen insgesamt ihre Mitteilungen. Zum Glück für den Leser - denn ihre annähernd 120 erhaltenen Briefe übertreffen die rund 40 Briefe ihres Mannes an Lebendigkeit, Originalität und literarischer Qualität bei weitem. Originalität und schriftstellerisches Genie sind bei Canetti woanders zu finden. Als eine geborene Dramatikerin "allerersten Ranges", wie es ihr der Ehemann Georg gegenüber bescheinigt, sind Vezas Briefe immer auf dem Punkt. Exakt in Timing, Beobachtung und Sprache, mit Blick fürs Absurde, lakonisch bis ätzend, voller Ironie und Doppelbödigkeit beherrscht sie auch da, wo es um Persönliches geht, die hohe Kunst des Schreibens vollkommen. Zugleich geben ihre Briefe Einblick in das schwierige Exilantendasein, die entbehrungsreiche Kriegs- und Nachkriegszeit, das mühsame Geldverdienen durch schlechtbezahlte Übersetzertätigkeit, den zähen Kampf um literarische Anerkennung - sowie in den ein oder anderen Familienknatsch.

    Und immer wieder lässt sie ihrer Frustration in Sachen Ehemann und Dichter freien Lauf. "Ich sehn mich oft nach Postbeamten, Buchhaltern, Menschen mit Ziffern, Pedanterie, Ordnung, so durcheinander ist alles in ihm und wurde alles in mir." Denn Canetti - "ein Bündel Angst, Sorge, Hilflosigkeit" - bekommt nichts auf die Reihe, verplempert seine Zeit mit Frauengeschichten und Bekanntschaften aller Art, so dass Veza ihn bis hin zu Selbstmorddrohungen ständig antreiben muss, überhaupt etwas zu Papier und Abschluss zu bringen. "Er ist ein unentwickeltes bezauberndes geniales Kind, glaubs mir. Und darum musste ich eine Megäre werden." Doch bei all dem ist für den Leser stets deutlich, wie sehr Veza in unverbrüchlicher Loyalität zum Lebensgefährten steht, wie es auch umgekehrt der Fall ist. In dem einzigen im Buch aufgenommenen Brief Canettis an seine Frau heißt es: "Mein Türmchen, mein allergeliebtestes Geschöpf. Deine Argumente sind so liebevoll und zärtlich wie immer. Alles wird wunderbar gehen: mit Dir wird mir alles gelingen."

    Im Sommer '48 brechen Vezas rege Briefe an Georg plötzlich ab. Unklar ist weshalb. Vielleicht gingen die weiteren Briefe auch verloren, oder Canetti hat sie in späteren Jahren vernichtet - genauso wie die Briefe von Georg.