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Briefe eines Mussdeutschen

Der Schriftsteller Albert Vigoleis Thelen ist nicht plötzlich vom Himmel gefallen, im Jahr 1953. In seinen Briefen kann man verfolgen, wie er zu dem Erzähler wird, der in der Nachkriegsliteratur nicht seinesgleichen hat.

Von Joachim Büthe | 09.02.2011
    "Die Insel des zweiten Gesichts" war die Sensation in der deutschsprachigen Literatur des Jahres 1953, doch sie kam aus dem Ausland. Der Verfasser lebte in Amsterdam, und es war ein holländischer Verleger, der sie ihm abverlangt hatte, indem er ihn einen Vertrag unterschreiben ließ, der ihn zwang, sie endlich zu schreiben. Albert Vigoleis Thelen war mit einer Schweizerin verheiratet, die durch diese Ehe ihre Staatsangehörigkeit verloren hatte ohne sie gegen eine neue eintauschen zu können. Das deutsche Reich wollte die beiden Exilanten auch nicht mehr haben. Die Bundesrepublik nahm sie dann zurück. Ein Grund zur Freude war das nicht.

    "Unsere Staatenlosigkeit nimmt nun ein ruhmloses Ende. Wir werden gegen unseren Willen wieder Untertanen des Deutschen Reiches, das sich zwar heute anders nennt, aber doch dasselbe geblieben ist. Die Aufenthaltsgenehmigung ist nur für drei Monate verlängert worden; bis dahin muss die Eingliederung in den deutschen Staatsverband erfolgt sein, was aufgrund eines Heimatscheins automatisch geschieht. Dann wird der Aufenthalt weiter wie sonst ein Jahr gewährt. Der holländische Beamte hatte tiefes Bedauern mit meinem langen Gesicht, er riet mir, im kommenden Jahr die holländische Staatsangehörigkeit anzufordern. Ich war auf dem Rückwege von der Polizei so verwirrt (obwohl wir auf diesen Schlag seit langem vorbereitet waren), dass ich beim Gemüsekerl irrtümlich Kartoffeln kaufte statt Äpfel (aardapelen das eine, appels das andere!), aber hier doch wieder so weit zu mir gekommen war, dass ich sie verschenkt habe, die Kartoffeln nämlich. Scheiße!"

    "Mussdeutscher, aber kein Musterdeutscher" stand auf seiner Visitenkarte. Er hatte von Beginn an bessere Kontakte zu den niederländischen Literaten als zu den deutschen. Diese Briefausgabe beginnt mit der Korrespondenz, die er mit niederländischen Schriftstellern führte und mit deutschen Verlegern, denen er seine Übersetzungen dieser Autoren anzudienen versuchte, zumeist mit geringem Erfolg. Erst nach der Ausreise nach Mallorca häufen sich die Briefe, werden länger und thematisch vielfältiger. Sie sind nun die einzige Möglichkeit, mit dem Rest der Welt in Kontakt zu bleiben.

    Die Gefahren und Abenteuer des Exils wären schon Grund genug, sie mit Interesse und Anteilnahme zu lesen, es kommt jedoch etwas hinzu, dass noch entscheidender ist: Der Schriftsteller Albert Vigoleis Thelen ist nicht plötzlich vom Himmel gefallen, im Jahr 1953. In seinen Briefen kann man verfolgen, wie er zu dem Erzähler wird, der in der Nachkriegsliteratur nicht seinesgleichen hat. So schildert er die Folgen eines portugiesischen Unwetters:

    " Die Bäume im Ölhain niedergemäht wie mit der Sichel, im Parkwald eine Baumleiche an der anderen wie nach einem Schlagwetter auf dem Zechenhof. Dreißig Meter hohe Eukalypten auf zwei Meter Bodenabstand umgelegt wie Erbsenreiser, Pinien in der Mitte geknickt an einer Stelle, wo sie noch zwei Meter Umfang haben, tausendjährige Ölbäume mit den Wurzelballen ausgehoben und ins Jenseits versandbereit. Alle Dächer ramponiert bis auf die kleine Schlosskapelle, wo nicht ein Ziegel fehlte. Und da soll man nicht an Gott glauben? Doch hat er sich nicht überall so egoistisch aufgeführt wie hier. Viele Kruzifixe hat er zertrümmert und Kirchtürme umgelegt und auf manchem Friedhof das Jüngste Gericht vorweggenommen in einer glänzenden Generalprobe: Die Schläfer wachten auf, unsanft von den Wurzelballen und mit denselben aus dem Mief der Grüfte geholt, schlimm zu sehen für zarte Gemüter, die im Toten das Heilige erkennen."

    Auf 15.000 Briefe schätzen die Herausgeber die Korrespondenz, manches ist in den Wirren des Exils verloren gegangen. Thelen führte sie in fünf verschiedenen Sprachen, nicht nur aus Neigung, sondern auch durch die Fluchtwege zwangspolyglott geworden. Dieses Ineinander der Sprachen, die er innerhalb eines Briefes gern wechselt, manchmal sogar mitten im Satz, hat seine sprachschöpferische Potenz sicher befördert, auch wenn er behauptet, in der "Insel des zweiten Gesichts" fänden sich keine Neologismen.

    In den Briefen gibt es sie, hier lässt er eine fromme Sünderin sich gegen die plattkasteite Brust schlagen, um nur ein Beispiel zu nennen. Man kann bei dieser Lektüre den Eindruck gewinnen, Thelen sei in erster Linie ein Briefschreiber gewesen, der nur gelegentlich mit einem Buch auf sich aufmerksam gemacht hat. Während des Exils bleibt es bei Übersetzungen, und er schreibt pseudonym Rezensionen der deutschen Exilliteratur für die niederländische Zeitung "Het Vaderland", eine seiner wenigen Einnahmequellen und zugleich eine seiner Referenzen, die ihm den späteren Aufenthalt in Amsterdam ermöglichten.

    "Sonst sind wir glücklich, wieder in Amsterdam zu sein. Es ist eine Stadt, in der man sich geistig sehr wohl fühlt, und da ich hier einen Namen habe bei den Dichtern und Künstlern, so lebt man sich sehr schnell ein. Viele alte Freunde haben wir schon wieder getroffen und auch Menschen besucht, die wir überhaupt nicht kannten und für die ich in Portugal die Verbindung mit ins Ausland entwichenen Leuten zustande gebracht hatte, vor allem Juden. Die wenigsten wussten, dass ich nicht einmal Holländer war."

    Die Briefe sind so unterschiedlich wie ihre Anlässe, doch den spezifisch Thelenschen Ton verlieren sie nie. Selbst wenn er sich beklagt, und Grund zu klagen hatte er in diesem an Schiffbrüchen reichen Leben mehr als genug, selbst in der tiefsten Depression wird er niemals larmoyant. Am schönsten aber sind die langen ausufernden Briefe, in denen er sein Talent zur Komik entfalten kann. Sie sind auch geprägt von der niederrheinischen Weitschweifigkeit, seine Wurzeln kann er nicht verleugnen. Wer sie kennt und erlitten hat, weiß um ihre auch enervierenden Seiten. Doch beim Vollbluterzähler Thelen erwächst aus ihr allzeit purer Charme. Dieser Band, die Briefausgabe ist auf drei Bände angelegt, endet mit dem Erscheinen der "Insel". Warum er nach diesem Paukenschlag so bald wieder aus der deutschen Literatur verschwunden ist, das werden die weiteren Bände zeigen. Endgültig in seine Heimat zurückgekehrt ist er erst in den letzten Lebensjahren. Ein Weltbürger, geboren in Süchteln, gestorben in Dülken.

    Albert Vigoleis Thelen: "Meine Heimat bin ich selbst. Briefe 1929-1953". Hg. und mit einem Vorwort von Ulrich Faure und Jürgen Pütz, DuMont Verlag, 504 Seiten, 45 Euro.