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Briefe von Golo Mann

Ein "Nest aus Widersprüchen" werde jede "lebende Seele, sobald man sie beschreibt", notierte Golo Mann in seiner Wallenstein-Biographie. Sie wird dies freilich nicht erst durch Beschreibung. Schon Montaigne hatte die menschliche Seele selbst als ein Flickwerk aus widersprüchlichen, "buntscheckigen Fetzen" bezeichnet. Dem dürfte auch Golo Mann zugestimmt haben, zumal er früh in sich selbst diese "buntscheckig" widersprüchliche Verfasstheit der Seele gewahrte. Einen Einblick darin gibt jetzt die Auswahl seiner Briefe, die mit einem Brief des 23-jährigen Heidelberger Studenten an seine Mutter kurz vor Abschluss seiner Philosophiepromotion beginnt und insgesamt eine Lebensspanne von 60 Jahren umfasst.

Von Astrid Nettling | 17.01.2007
    Ein weiter Bogen, der biographisch vom Vorkriegsdeutschland über das Exilland 'Amerika' wieder zurück nach Deutschland und in die Schweiz reicht, ein Lebensbogen, getragen von mancherlei Spannungen und Widersprüchen. Nicht zuletzt zwischen dem eigenen Ich und dem ererbten Namen, was noch die reife Persönlichkeit 'Golo Mann' stets erneut mit der ihm leidigen Stellung als 'Sohn von...' kollidieren ließ, oder zwischen dem Wissenschaftler und dem Schriftsteller in sich, deren Spannungsverhältnis Golo Mann als Historiker mit seiner narrativen Geschichtsschreibung fruchtbar zu machen wusste. Weit gespannt ist ebenso das Spektrum der Briefpartner, mit denen er sich im Laufe seines Lebens austauschte - zumal für ihn der Brief den ersten Rang unter den Kommunikationsformen bekleidete. Zu diesem Spektrum gehören neben langjährigen Freunden, Kollegen sowie Gegnern und unbekannten Zeitgenossen berühmte Namen wie Karl Jaspers, Ernst Jünger, Raymond Aron, Benjamin Britten, Ernst Klett, Konrad Adenauer, Willy Brandt, Hans-Jochen Vogel, Rolf Hochhuth, Joachim Fest, Marion Gräfin Dönhoff. Briefe sind persönliche Zeugnisse, sie sprechen vom eigenen Leben, zeigen den Schreiber in verschiedenen Stimmungen, Lebenszeiten, Entwicklungsstufen und lassen daher die widersprüchliche Verfasstheit der menschlichen Seele besonders deutlich hervortreten. So sehen wir den Ehrgeizigen, der in jungen Jahren bedingt durch Zeitumstände und Exil daran verzweifelt, keine befriedigende Wirkungsmöglichkeit zu finden; den Erfolgreichen, der sich als namhafter Historiker und eine in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit vielgefragte Persönlichkeit oft völlig überfordert fühlt; wir erblicken den Sohn, der unter der Familie, vor allem unter dem Vater leidet, aber zugleich zuverlässig und treu bis zum späten Tod der Mutter fast durchweg im Haus der Familie im Schweizer Kilchberg lebt; den Einsamen, in menschlichen Angelegenheiten eher Scheuen, was auch seiner Homosexualität geschuldet sein mag, die er zwar akzeptiert und lebt, zu der er aber anders als seine Freunde Manuel Gasser oder Joseph Breitbach ein eher schwermütiges Verhältnis hat; ferner den "Widerhaarigen", wie sein Lehrer Karl Jaspers ihn einmal nannte, der trotz Harmoniebedürfnis ausgesprochen streitbar sein konnte - und nicht nur sein Verhältnis zu Karl Jaspers endete in Zorn und Streit; wir finden den geborenen Melancholiker, der regelmäßig in ernste Lebenskrisen gerät und gegen seine Grundbefindlichkeit nur schwer ankämpfen kann - "Wenn ich meine Geburt durch Geld rückgängig machen könnte, so wollte ich keine Kosten scheuen" -, und den zugleich Humorvollen, Selbstironischen auch in den für ihn heiklen Lebensangelegenheiten; des weiteren den Skeptiker in Sachen Politik und Geschichte, den undogmatischen Geist und scharfen Zeitkritiker, der als überzeugter Konservativer sich gegen den neomarxistischen Zeitgeist von damals stellt - "Hört auf, Lenin zu spielen!", appelliert er öffentlich an die Studenten -, und wir genießen den vollendeten Briefeschreiber. Denn für Golo Mann gehörte diese Tätigkeit zur Kunst des Schriftstellers dazu. Wie es gleichfalls seinem Ethos entsprach, jeden, der sich brieflich an ihn wandte, mit einer Antwort zu würdigen - jeden, auch den unbekannten Studenten oder den wildfremden Leser. Davon zeugen die Tausende von Briefen aus den Nachlass, von denen die vorliegende Auswahl einen kleinen, aber eindrucksvollen Überblick vermittelt - "gleichsam ein Leben in Briefen", wie es im Nachwort der Herausgeber heißt. Eindrucksvoll ist nicht zuletzt der Briefeschreiber selbst, wie er, ohne je in bloße Selbstdarstellung zu verfallen und vornehmlich dem "lieben Mihi" Tribut zu zollen, dennoch stets 'persönlich' schreibt, d.h. sich seinem jeweiligen Briefpartner wirklich mitteilt, egal ob es sich um Privates, Familiäres handelt, um Literatur oder um Fragen von Politik und Geschichte. Dies macht es, dass im Verlauf der Lektüre Golo Mann für den Leser trotz oder gerade wegen seiner eingestandenen Widersprüchlichkeiten immer stärker als eine festgegründete, überzeugende Persönlichkeit hervortritt, aus der mit zunehmenden Lebensjahren eine geradezu Montaignesche Geisteshaltung spricht. Etwa in einem Brief des 80-Jährigen an Julio Val Caturla, einem Freund aus der gemeinsamen Salemer Schulzeit. Es ist ein Geburtstagsbrief an den gerade 80 Jahre alt gewordenen Freund. An dessen Schluss fasst Golo Mann die Maximen seines Lebens mit den Worten zusammen:

    " Wer sich sein reifes Leben lang Mühe gab, wer Freude für sich und Andere suchte, wer mit angeborenen Schwächen so weit wie möglich zurecht kam, wer seine Talente nicht brach liegen ließ, wer an Treue glaubte und sie übte, wer half, wo er helfen konnte und helfen Sinn hatte, wer einmal dies glaubte und einmal das, weil er eben ein Mensch und kein Engel war - was sollte der vom Tode fürchten? "

    Golo Mann
    "Briefe 1932 - 1992"
    (Wallstein Verlag)