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Briefroman aus dem antiken Griechenland

Schon lange ist bekannt, dass die Vorlesekunst des Literaturwissenschaftlers und Philosophen Jan Philipp Reemtsma nicht das Geringste unter seinen Talenten ist. Nachdem er fast den gesamten Arno Schmidt eingelesen hat, steht nun Christoph Martin Wieland auf seiner Vorleseagenda. Nun hat er sich auf 24 CDs des Briefromans "Aristipp und einige seiner Zeitgenossen" angenommen, des reifsten und philosophischsten Werks des großen Weimarers.

Von Tobias Lehmkuhl | 06.12.2007
    Ich bin nicht eitel genug, mir einzubilden, dass ich über diesen Gegenstand etwas zu sagen hätte, das für Dich neu wäre, und überhaupt gehört meiner Meinung nach das Schöne unter die unaussprechlichen Dinge der Natur und lässt sich besser fühlen und genießen als zergliedern und erklären. Aber, wirst Du sagen, diese schönen Dinge sind ja gerade, was uns am stärksten anmutet und worüber wir am liebsten vernünfteln oder irre reden mögen. Ich füge mich also sowohl Deinem Willen als meinem eigenen Naturtriebe und wenn ich Dir nichts Unbegreifliches oder Unerhörtes offenbare, so schreibe es meiner zur anderen Natur gewordenen Maxime zu, im Philosophieren immer verständlich zu bleiben und vor allem, mich immer selbst zu verstehen.

    Christoph Martin Wielands Briefroman aus dem antiken Griechenland hat wohl als ein Alterswerk zu gelten. 67 Jahre zählte der Dichter, als er "Aristipp und einige seine Zeitgenossen" schrieb, doch hat sein Stil die luftige Eleganz und schwungvolle Vitalität seines Frühwerks durchaus bewahrt. Gesetzt wirkt hier gar nichts, sondern von unermüdlicher Neugierde befeuert: Die Welt und das Werk der griechischen Philosophen bringt Wieland seinen zeitgenössischen Lesern so nah, wie es ihnen bis dahin noch nicht nahe gebracht worden war: Die Platon-Übersetzung Schleiermachers erschien erst einige Jahre später. Und auch der heutige Hörer wird vieles im "Aristipp" lernen können, ohne sich je belehrt zu fühlen.

    Beim Genuss eines Guten kommt es nicht auf die Größe desselben, sondern auf unsere Empfänglichkeit an. Das Erfreulichste aller Dinge, das Licht, ist für den Blinden nichts, an der festlichsten Tafel des großen Königs, kann der gierigste Fresser nicht mehr zu sich nehmen, als sein Magen fasst und einer Mücke kann es gleichviel sein, ob die aus einer Muschelschale oder aus dem Ozean trinkt.

    Wielands Hauptfigur, der historisch verbürgte Aristipp, teilt sich in dem nun von Jan Philipp Reemtsma eingelesenen Roman Freunden und Philosophen mit. Mit seinen Lehrern Sokrates und Platon teilt er ganz die Freude am Gespräch, und so geht es in diesen Briefen ebenfalls häufig dialogisch zu: Man redet über das Gute, über das Schöne, über die Olympischen Spiele oder die Kochkunst. Doch tut man dies nicht bohrend-induktiv à la Sokrates, sondern gelassen plaudernd, in jenem erlesenen Gesprächston, wie ihn eben nur Wieland beherrscht. Mit einer Grazie, wenn man so will, ähnlich der einer schönen Frau.

    Schon von Ferne, bevor es möglich war, ihre Gesichtszüge genau zu unterscheiden, däuchte mir ihre Gestalt die edelste, die ich je gesehen hätte. Ihr Anzug war mehr einfach als gekünstelt und eher kostbar als schimmernd, leicht genug, um einen Bildner, der keine schöne Form unangedeutet lassen will, zu befriedigen, aber zugleich so anständig, dass selbst die Grazie der Scham nicht untadeliger bekleidet werden könnte.

    Vom historischen Aristipp weiß man heute kaum etwas, nur wenige Fragmente haben sich erhalten. Wieland aber haucht seiner Figur Leben ein. Als Gesprächs- und Briefpartner kann man sich niemand angenehmeren wünschen. Allein, man bräuchte viel Zeit. Denn Zeit ist eine Dimension, die die Figuren dieses historischen Romans nicht interessiert: man plaudert, redet, diskutiert, als gäbe es kein Morgen, als stände einem die Unendlichkeit zur Verfügung. Nun ist die Literatur vielleicht etwas Immerwährendes, Wieland selbst aber hat den "Aristipp" nicht mehr abschließen können. Mit der Trauer über den Tod seiner Frau verließen ihn die Schreib-Kräfte.

    Die Ärzte haben zu einer Luftveränderung, wovon sie uns die beste Wirkung versprechen, eine Reise nach Rhodos vorgeschlagen, welche ich mit Kleonen und unsrer Tochter Arete, von Kleonidas, Musarion und dem jungen Kallias, ihrem Sohne, begleitet, zu unternehmen im Begriff bin. Rufe Hygieien mit mir an, mein Freund, dass der Erfolg unsere Wünsche begünstige!

    Sich "[durch] Mannigfaltigkeit, Abwechslung und Schicklichkeit der Modulazionen" dem Hörer gefällig zu machen, hat Wieland vom Vorleser gefordert, und Reemtsma erfüllt diese Anspruch aufs Beste. Wie schon in seiner hinreißenden Lesung des Versromans "Klelia und Sinibald" gelingt es ihm auch im "Aristipp" den leichten Ton zu treffen und in eine Verbindlichkeit zu überführen, die den Hörer in die Welt des antiken Philosophen und seiner galanten Freunde hineinversetzt und daraus so schnell auch nicht wieder entschwinden lässt.

    Christoph Martin Wieland: "Aristipp und einige seiner Zeitgenossen". Gelesen von Jan Philipp Reemtsma. Hoffmann und Campe, Hamburg 2007. 24 CDs, 99,95 Euro.