Mittwoch, 24. April 2024

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Britische Reaktionen auf Brexit
"Es ist eine Revolution"

Die Entscheidung der Briten für den Brexit sei eine Revolution, sagte der britische Politikwissenschaftler Anthony Glees im DLF. Sie habe zu einem tiefen Bruch durchs britische Leben geführt, der mitten durch Institutionen und Familien verlaufe. Glees bezeichnete den Politiker Boris Johnson, den möglichen Nachfolger von Premierminister David Cameron, als unfähig.

Anthony Glees im Gespräch mit Jasper Barenberg | 25.06.2016
    Anthony Glees
    Sieht keinen glücklichen Ausweg - der Politikwissenschaftler Anthony Glees von der Buckingham University (June Costard)
    Jasper Barenberg: Mitgehört hat der Politikwissenschaftler Anthony Glees von der Buckingham University. Schönen guten Morgen!
    Anthony Glees: Guten Morgen, Herr Barenberg!
    Barenberg: Anthony Glees, das Ausmaß an politischen Verwerfungen, das wir jetzt erleben, ist das eigentlich zwangsläufig gewesen nach dieser Entscheidung, nach diesem Ausgang?
    Glees: Ich glaube ja. David Cameron durch sein Referendum, das auf ihn erzwungen ist, er wollte es nicht, er glaubte auch nicht, dass er es haben musste, aber wir haben es gehabt, und das Referendum hat das Land gespalten. Nicht nur, dass Großbritannien von der Europäischen Union jetzt getrennt ist, sondern innerhalb des Vereinigten Königreichs sind die Teile von sich selber getrennt, wie wir gerade gehört haben, aber auch Institutionen sind getrennt und Familien sind getrennt. Also es ist ein ganz tiefer Bruch jetzt im britischen Leben eingetreten. Ich sehe keinen glücklichen Ausweg.
    Barenberg: Insofern stimmen Sie unserem Korrespondenten auch zu in der Bewertung, dass es einer Art Revolution gleich kommt, jung gegen alt, Provinz gegen Stadt, Nord gegen Süd, Schottland gegen England?
    Glees: Leute über 60 machen Entscheidungen für künftige Generationen
    Glees: Ja, ich habe das selbe Wort hier vor mir auf dem Zettel liegen. Ich weiß, für deutsche Ohren klingt das sehr, sehr seltsam, aber es ist eine Revolution, und wir sehen diese Revolution, nicht nur geografisch. London zum Beispiel, wie Schottland, mit großer Mehrheit für ein Verbleiben in der Europäischen Union. Stimmen sind auch laut in London. Dass London Unabhängigkeit … wenn alle von Unabhängigkeit reden, dann verlangt London auch unabhängig vom Vereinigten Königreich.
    Diese Stimmen zeigen, dass es geografisch zersplittert, zertrennt ist, Großbritannien getrennt, aber auch in Fragen von Erziehung und Alter. Also desto mehr Erziehung hat, die, die eine höhere Erziehung haben, wollten in der Europäischen Union bleiben. Die, die jünger sind, wollten in der Europäischen Union bleiben. Hauptsächlich sind es Leute über 50 und über 60, die mit großer Mehrheit für den Brexit gestimmt haben. Sie machen die Entscheidungen jetzt für die Generationen, die kommen. Von allen getragen wird eine Unwissenheit. Es wird immer noch gesprochen in Großbritannien als "wir in Großbritannien" und "ihr in der Europäischen Union", und die, die für ein Verbleiben waren – ich war auch dabei –, wir konnten uns bestens als Vernunfteuropäer darstellen, aus wirtschaftlichen Gründen.
    "Ich kann nicht sehen, dass Boris Johnson das kann"
    Barenberg: Jetzt gilt Boris Johnson als der Favorit im Rennen um die Nachfolge für Cameron. Seine Biografin hat ihn als den rücksichtlosesten und ehrgeizigsten Politiker beschrieben, den sie je kennengelernt hat. Kann Boris Johnson das Land wieder zusammenführen und einigen in dieser Situation?
    Glees: Man soll nie in der Politik nie sagen, aber ich kann nicht sehen, dass Boris Johnson das machen kann. Er ist gestern angepöbelt worden von einer großen Menge. Das sehen wir auch kaum in Großbritannien, üblich, dass Politiker so angeschrien werden wie gestern Boris angeschrien worden ist in London.
    Wissen Sie, Boris, der war Journalist, der war Bürgermeister, Oberbürgermeister von London, aber hat da wenig, wirklich wenig getan. Fahrräder eingeführt, aber sonst sehr wenig und Busse, sonst sehr wenig. Der hat keine Erfahrung, der ist nie Minister geworden, und auch zwei Mal in seinem Leben hat er seinen Job verloren wegen Lügen. Das wird ihm die Presse … die "Daily Mail", "Daily Express", die jubeln natürlich heute. "Telegraph" – Boris Johnson ist vom "Telegraph" gefeuert worden. Nein, von "Times" gefeuert worden. Er schreibt für "Telegraph". Die sagen alle, ja, Boris ist der kommende Mann, der wird unser Land retten. Ich glaube, in deutschen Ohren wird das wohl so klingen, wie ich das meine.
    "Er kommt aus der Elitenklasse, ein sehr reicher Mann"
    Er hat die Fähigkeiten nicht, er hat den Charakter nicht, und er kommt genau aus der Elitenklasse, die die Revolutionäre von Donnerstag hassen. Also der selber war in Eton, in Oxford, ein sehr, sehr reicher Mann, und plötzlich als Volkstribüne, der griechisch gern zitiert – ich glaube es nicht.
    Barenberg: Der Politikwissenschaftler Anthony Glees von der Buckingham University heute Morgen hier. Vielen Dank für Ihre Einschätzungen!
    Glees: Gern geschehen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.