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Britische Schriftstellerin
Ein Porträt der Nadifa Mohamed

Von Johannes Kaiser | 17.08.2015
    Ihr erster Roman "Black Mamba Boy" hat ihr gleich mehrere Auszeichnungen wie den Dylan Thomas Award, den Betty Trask Award sowie den PEN/Open Book Award eingebracht und sie mit einem Schlag ins Licht der Öffentlichkeit und der Literaturwelt katapultiert. Auch ihr zweiter Roman wurde von der Kritik gefeiert. Daraufhin wurde er als Erstes übersetzt und erschien vor zwei Jahren auf Deutsch. Jetzt erst, fünf Jahre nach der Veröffentlichung in England, ist ihr Debüt endlich auch in Deutschland herausgekommen.
    "Es fing als Biografie an, sollte eine ganz kurze Biografie werden. Als ich dann begriff, dass mir mein Vater nicht genug über die Familie erzählte und seine Freunde und die Beziehungen, die seine Familie hatte, fing ich an, Figuren aus den Personen zu kreieren, über die er mir ein bisschen was erzählt hatte. Die Biografie verwandelte sich in dem Augenblick in einen Roman, in dem ich anfing, immer mehr in die Erzählung einzugreifen, nicht so sehr im Hinblick darauf, was meinen Vater getan hatte oder an welchen Orten er gewesen war, sondern eher was den inneren Dialog angeht und das Innenleben der Menschen um ihn herum."
    Eigentlich hatte Nadifa Mohamed gar nicht vorgehabt, einen Roman zu schreiben. Sie wollte nur nicht, dass die außergewöhnliche Lebensgeschichte ihres Vaters verloren ging. Die 1981 in der kleinen Stadt Hargeisa in Somalialand am Golf von Aden geborene Schriftstellerin war als dreijähriges Kind mit ihrer Familie auf der Flucht vor den Bürgerkriegswirren in Somalia nach London kommen. Sie muss ein kluges Kind gewesen sein, denn sie bekam einen Studienplatz in Oxford, studierte Politik und Geschichte. Das hat sicherlich auch ihr Interesse an der Geschichte ihres Vaters geweckt, denn der hat eine wenig bekannte, kaum beschriebene Periode des britischen Kolonialreiches als Kind miterlebt und überlebt. Die Chancen standen dafür nicht allzu gut, denn der 1925 im Jemen geborene Vater geriet als Kind in die kriegerischen Auseinandersetzungen am Horn von Afrika. Damals versuchten Mussolinis Truppen, Äthiopien zu unterwerfen und regierten mit harter Hand den größten Teil des heutigen Somalia. Die Briten wiederum hatten einen Teil Jemens als Protektorat besetzt und herrschten über Somalialand, während Frankreichs Fremdenlegion Dschibuti kontrollierte. Durch all diese Länder irrte ihr Vater zusammen mit seiner Mutter auf der Suche nach seinem Erzeuger.
    "Ich fand immer mehr über ihn als Menschen und als Zeitzeugen heraus. Er hat ein sehr ausgefallenes, dramatisches und außergewöhnliches Leben geführt und ich hatte das Gefühl, niemand sonst außer mir würde oder könnte diese Geschichte erzählen. Und er war geradezu begierig, zu erzählen. Ich glaube, je älter er wurde, desto milder wurde er. Er redete sehr gerne. Vielleicht hatte er das Bedürfnis, die ganzen Erfahrungen, die er gesammelt hatte, auszupacken, alles, was er gesehen hatte, die Orte, wo er gewesen war. Es war einfach an der Zeit."
    Nadifa Mohamed besuchte mit ihrem Vater Museen, schaute sich mit ihm alte Fotografien an. Gemeinsam lasen sie historische Bücher. Als studierte Historikerin fiel es Nadifa Mohamed nicht schwer, in Archiven und Bibliotheken die Angaben ihres Vaters zu überprüfen.
    "Ich habe nach allem gesucht und mir alles angeschaut, was ich finden konnte. Ich fand historische Bücher. Die führten mich zu originalen Quellen aus Aden aus dem 19. Jahrhundert oder zur Schlacht von Karen 1941. Ich fand eine 40-seitige Autobiografie eines somalischen Seemanns, der 1948 in einer Anarchistengemeinschaft gelebt hat. Ich bin nach Somalialand gefahren und nach Eritrea und Dschibuti. Ich habe mir alle Art von Musik angehört. Manchmal ging es gar nicht um den tatsächlichen Ort. Ich habe den iranischen Film Gabbeh gesehen, der in einer nomadischen Gemeinde im Iran spielt. Das ist ein wunderschöner Film, fast wie ein Märchen und wenn man ihn anschaut, dann bekommt man ein Gefühl dafür, wie nomadisches Leben spirituell aussieht, und das war sehr hilfreich. Ich habe bei den Recherchen ein sehr weites Netz ausgeworfen."
    Aus genau diesem Grund ist denn auch Nadifa Mohameds Roman sowohl in seinen historischen wie auch in seinen atmosphärischen Schilderungen farbreich, plastisch und dicht. Sie lässt Städte vor uns aufsteigen, die es nicht mehr gibt, beschreibt lebendig und nuancenreich Straßenszenen und Landschaften. Dass dabei bis auf die Hauptfigur Jama viele der übrigen Protagonisten bisweilen nur skizziert sind, wenig Tiefe besitzen, ist sowohl der Ruhelosigkeit des Jungen, der nirgendwo lange verweilte, also auch der Unerfahrenheit der Debütantin zuzurechnen.
    Nadifa Mohamed führt die Leser in uns vollkommen unbekannte gesellschaftliche Verhältnisse, die uns dank ihrer Beschreibungen vertraut werden, auch wenn sie uns staunen lassen, eher Kopfschütteln als wirkliches Verstehen auslösen. Dafür ist uns diese Welt viel zu fremd.
    Und doch berührt uns das Schicksal des kleinen Jungen Jama, der aus Sanaa loszieht, um seinen Vater zu suchen, der einem Nomadenstamm aus Somalialand entstammt.
    "Er ist ein neugieriger, staunender, manchmal frustrierter Junge und später auch so ein Mann. Er hat ein gutes Herz, ist kein grausamer Mensch. Er passt sich den Umständen an. Die zahlreichen Feindseligkeiten, denen er ausgesetzt war, haben ihn zu einer heroischen Figur gemacht. Er ist in das britische Imperium hineingeboren worden, stammt aus einer Nomadenregion, in der es weder Krankenhäuser noch Häuser gab, noch nicht einmal Schulen außer Koranschulen. Die Lebensverhältnisse hatten sich im Verlaufe der Jahrhunderte nur sehr wenig geändert, aber was sich jetzt geändert hat, war die politische und wirtschaftliche Situation. Das Leben änderte sich und ein Land wie Somalia hat sich in letzten 100 Jahren alle 10, 15 Jahre stark verändert. Die Gesellschaft ist völlig auf den Kopf gestellt worden. Er musste also flexibel sein, widerstandsfähig, mobil. Nomaden besaßen diese Fähigkeit bereits, aber mit der Größenordnung dieser Herausforderung und Veränderungen hatten sie nicht gerechnet."
    So wird die Geschichte Jamas auch zu einer Geschichte der gesamten Region um das Horn von Afrika in den 30- und 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Auf seiner Suche nach dem Vater landet der Junge erst in Somalialand, dann in Dschibuti, schlägt sich nach Eritrea und Äthiopien durch. Jama gerät immer wieder zwischen die Fronten, ohne recht zu begreifen, was ihm da zustößt. Er lernt die grausame italienische Besatzungsmacht in Eritrea und Somalialand kennen, erlebt mit, wie italienische Offiziere ihre afrikanischen Untergebenen, die Askaris grausam schikanieren, demütigen und misshandeln. Als er schließlich herausgefunden hat, wo sein Vater, ein desertierter Soldat, lebt, kommt er zu spät. Die Italiener haben ihn gerade mit einem Lastwagen geschmuggelter Waffen abgefangen und erschossen. Alles, was von ihm übrig geblieben ist, ist ein alter, halbzerfledderten Koffer. Jama schließt sich für einen Hungerlohn den italienischen Truppen an, bis auch er bei der Schlacht der Italiener gegen die Briten 1941 in Karen desertiert. Er landet in einem kleinen Wüstendorf, verliebt sich in ein Mädchen, heiratet sie, macht ihr ein Kind, nur um erneut loszuziehen - diesmal allerdings um für seine Familie so viel Geld zu verdienen, dass sie fortan nie mehr Hunger leiden müssen. Er heuert auf einem britischen Schiff an, landet in England, steigt auf das nächste Schiff, fährt um die Welt, nur um eines Tages mit einem gut gefüllten Geldbeutel nach Hause zurückkehren zu können. Was wird er vorfinden? Das Ende bleibt offen. Eines wird einem bei der Lektüre des Romans allerdings deutlich klar:
    "Ich habe immer Literatur gemocht, die Politik mit einem kleinen p umfasst, die zeigt, wie Macht in einer Gesellschaft funktioniert. Wenn ich das Gefühl habe, dass ein Buch diese Dinge ignoriert, dann stellt es mich weit weniger zufrieden. Als ich ‚Black Mamba Boy' geschrieben habe, habe ich entdeckt, wie gespalten die somalische Gesellschaft ist. Sowohl die Somalier selbst, als auch die Briten erwecken den Eindruck, die somalische Gesellschaft sei sehr frei gewesen. Es gab keine Könige. Jeder Nomade war sein eigener König. Doch so war es nicht. Es gab eine ganze Reihe von Minoritäten, denen man die politische, die soziale und auch die wirtschaftliche Macht genommen hatte. Es wäre ganz einfach gewesen, das zu ignorieren, aber durch meine Recherchen wurde ich damit konfrontiert und ich begriff, dass die Art und Weise, wie ich miterlebe, wie man in England Minoritäten behandelt, sich kaum von dem unterscheidet, wie man in Somalia mit Minderheiten umging."
    Nadifa Mohamed weiß, wovon sie redet. Als dunkelhäutige Tochter eines Somaliers erlebt sie den täglichen britischen Rassismus durchaus hautnah. Insofern stecken auch ein Stück weit ihre eigenen Erfahrungen in Jamas wiederholten Begegnungen mit Ausgrenzung, Ablehnung und Demütigung. Dass sie beide Kulturen kennt, hat aber auch seine Vorteile:
    "Das schafft eine gewisse Distanz zu beiden, man sieht sie beide kritisch und mit den Augen eines Fremden und genau das braucht ein Schriftsteller. Es beeinflusst zudem die Art und Weise, wie man angenommen wird. Das ist wichtig. Die eigene Vorstellung entspricht nicht unbedingt dem, wie die Leute einen sehen. Die Leute in Kenia oder in Afrika sagen dann, du bist keine Afrikanerin, denn du lebst nicht hier, sondern in London und schreibst Bücher für Londoner. Und in Großbritannien bist du eine afrikanische Schriftstellerin und man erwartet vor dir, dass du erklärst, was Somalier essen und denken und wie sie sich kleiden, solche Sachen. Das ist ziemlich unangenehm, und oftmals fühlst du dich wie ein Botschafter, was man nicht unbedingt sein möchte. Kompliziert daran ist, wie man von anderen wahrgenommen wird."
    Nach dem unerwarteten großen Erfolg von "Black Mamba Boy" hat Nadifa Mohamed 2013 ihren zweiten Roman "Der Garten der verlorenen Seelen" vorgelegt - diesmal ein Roman aus der Perspektive somalischer Frauen. Ort der Handlung ist Nadifa Mohameds Geburtsstadt Hageisa. Sie erzählt drei Geschichten, die des Straßenmädchens Deqo, eine Waise aus einem Flüchtlingslager, die von Kawsar, einer alten Witwe, die in Polizeigewahrsam so misshandelt wurde, dass sie seitdem bettlägerig ist und die von Filsan, einer jungen ehrgeizigen, aggressiven Soldatin, eine treue Untertanin des Diktators Siad Barre. Sie alle treffen aufeinander, als Rebellen die Stadt angreifen.
    "Es gibt eine Menge Bücher, die von somalischen, von muslimischen, von afrikanischen Frauen handeln, die einfach nur die verschiedenen Arten aufzählen, wie sie missbraucht werden und das lässt sie ganz ohnmächtig erscheinen. Doch so sind sie nicht. Wir sind nicht ohnmächtig. Was immer wir unternehmen können, um unser Leben zu ändern, das unternehmen wir auch. Während ich meine Zeit mit Filsan, Deqo und Kawsar verbracht habe, begriff ich die Komplexität dieser Individuen, wie sie ihr Leben führen, wie sie es zerstören. Darauf gibt das Buch hoffentlich keine einfachen Antworten. Das würde mir jedenfalls gefallen."
    Das können wir guten Gewissens bejahen. Nadifa Mohameds zweiter Roman zeigt komplexe Figuren in schwierigen Situationen und passt glücklicherweise in keine Schublade. Nichts ist schwarz-weiß. Die Schriftstellerin kennt viele Farbtöne.