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Bruch im transatlantischen Graben

"Wir sind alle Amerikaner" - so titelte die französische Zeitung "Le Monde" nach dem 11. September 2001. Nachdem sich der Schock gelegt hatte, wurde aber schnell klar, dass die Anschläge Europa und die USA nicht vereint sondern entzweit haben. Dazu der der diplomatische Korrespondent des Schweizer Radios DRS Fredy Gsteiger in der Europakolumne.

11.09.2006
    Die Solidaritätswelle war gewaltig. Auf einmal waren wir alle Amerikaner - vereint in Trauer, vereint in der Angst vor weiteren Terrorangriffen. Selbst im traditionell wenig amerikafreundlichen Frankreich titelte die einflussreichste Tageszeitung "Le Monde": "Jetzt sind wir alle Amerikaner". Der emotionale Schulterschluss kam um so plötzlicher, als Europa auf Distanz gegangen war zum Großen Bruder jenseits des Atlantiks. Die Wahl von George Bush junior zum neuen Präsidenten stimmte misstrauisch. In den allermeisten europäischen Ländern hätte man weitaus lieber Al Gore im Weißen Haus gesehen.

    Doch nach 9/11 - nach den Anschlägen auf New York und Washington - war alles anders. Wenngleich nur für kurze Zeit. Kaum war die Gefühlswelle abgeebbt, kaum die Bekämpfung des internationalen Al-Qaida-Terrorismus in den Vordergrund gerückt, traten die Differenzen sofort deutlich zutage.

    In Washington war sogleich vom "War on Terror", vom Krieg gegen den Terrorismus, die Rede. Dieser Krieg sei mit sämtlichen Mitteln zu führen, über die eine Supermacht gebietet. Mit Geheimdienstoperationen, aber auch mit purer militärischer Macht. Unter US-Führung erfolgte der Einmarsch in Afghanistan zum Sturz des Taliban-Regimes. Später die Besetzung des Irak. In Kabul, in Bagdad sollte der Terrorismus an der Wurzel bekämpft werden. Amerika führte und führt Krieg.

    Auf europäischer Seite hingegen wurde nicht vom "Krieg gegen den Terror" gesprochen, sondern von Terrorbekämpfung. Nicht Armeen waren gefragt, nicht Nachrichtendienste, hingegen die Polizei. Bis hin zu Nachbarschaftspolizisten, die wissen, in welchem Viertel, in welchem Haus wer ein- und auszog, wo sich Gruppen bildeten und versammelten, wer wo was tut, wo möglicherweise Verdächtiges geschieht. Verbessert wurden die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Polizeikräfte, der Informationsaustausch, die Justizkooperation. Wenn auch neulich eine Stellungnahme von Interpol-Chef Ronald Noble klarmachte, dass man noch längst nicht da ist, wo man sein müsste.

    Die Unterschiede zwischen den USA und Europa in der Wahrnehmung und in den Schlüssen, die man daraus zog, haben triftige Gründe: Für die USA war 9/11 ein Angriff einer bedrohlichen Welt auf die heile Welt Amerika. Der Feind sitzt, aus Washingtoner Perspektive, im Ausland, in der muslimischen Welt, im Nahen Osten. Also führt man Krieg dort, wo man ihn vermutet. Und schottet sich ab, mit Zuwanderungsbeschränkungen, mit massiv strengeren Kontrollen an den Grenzen. Das Böse darf nicht ins Land gelangen. Für viele Amerikaner ist es eine fremde Vorstellung, dass manche Terroristen wohl längst im Land sind, irgendwo zwischen Seattle und Miami. Dass die Rekrutierung, die Ausbildung in ihrem eigenen Land stattfinden, dass Leute mit amerikanischen Pässen beteiligt sind.

    Die meisten europäischen Länder hingegen haben längst damit leben gelernt, dass der Terrorismus nur zu geringem Teil importiert, zum größeren Teil jedoch hausgemacht ist. Sie verfügen über leidvolle Erfahrungen mit der IRA, der Eta, den Roten Brigaden, der RAF. Und sie fanden sich nach den Anschlägen in London oder Madrid bestätigt.

    Die USA wie Europa waren Opfer des Terrorismus und werden es weiterhin sein. Dennoch haben die blutigen Anschläge die beiden einander nicht wirklich näher gebracht, sondern eher entzweit. Umfrage auf Umfrage macht das deutlich. Wenn dies - was strittig ist - ein Ziel der Terror-Drahtzieher gewesen sein sollte, so haben sie es zumindest vorläufig erreicht. Erst eine Annäherung der Betrachtungsweisen bezüglich Ursachen, Hintergründen und Gegenstrategien dürfte den Atlantikgraben wieder verkleinern.