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Bruch mit der Historie

Eigentlich wollte er Maler werden. Doch schließlich fühlte sich der Belgier Henry van de Velde dazu berufen, das Kunsthandwerk am Ende des 19. Jahrhunderts vom Diktat vergangener Stile zu befreien So wurde er einer der Gründer jener Kunstströmung, die sich in Frankreich "art nouveau" und in Deutschland Jugendstil nannte.

Von Björn Stüben | 25.10.2007
    Eine gesicherte Stellung im Staatsdienst hätte sich die Familie für seine Zukunft gewünscht. Doch der 1863 in Antwerpen geborene Henry van de Velde fühlt sich eher zum Künstler berufen. 1882 schreibt er sich heimlich an der Königlichen Akademie der Schönen Künste ein. In seinen Memoiren blickt van de Velde amüsiert auf seine künstlerischen Anfänge zurück.

    "Kann man sich heute noch vorstellen, dass Landschaftsmalerei in einem Atelier gelehrt wurde, in dem vertrocknete, in den Sand gesteckte Bäume verschiedener Gattung je nach Jahreszeit mit grünen oder gelben Blättern behängt wurden? Für Winterlandschaften wurden Wattebäusche an die Zweige gehängt und Gips auf den Boden gestreut."

    1884 führt ihn sein Weg nach Paris, wo er die damals immer noch heftig umstrittene Avantgardemalerei der Impressionisten bewundert. Noch größere Aufmerksamkeit jedoch erregt bei van de Velde die sozialkritische Thematik in den Werken des Malers Jean-Francois Millet. Die Beschäftigung mit Zola, Nietzsche, Marx und Engels lassen van de Velde zu einer entscheidenden Einsicht gelangen.

    "Die im 'Kommunistischen Manifest‘ geforderte Aktion der Massen war in Frage gestellt und überrundet durch die anarchistische Agitation und die Theorie der individuellen Revolte. Von diesem Augenblick an beschäftigte mich die Vorstellung einer neuen sozialen Gesellschaftsordnung mehr als die Frage, ob die Entwicklung der Malerei sich auf dem Wege des Pointillismus oder auf irgendeine andere Weise vollziehen würde."

    Van de Velde wendet sich von der Malerei ab und widmet sich dem Kunsthandwerk. Seine Entwürfe für Möbel und andere Gebrauchsgegenstände brechen mit dem künstlerischen Diktat der historischen Stile. Das moderne Kunsthandwerk müsse von einer "conception rationelle", einer "vernunftgemäßen Gestaltung" gekennzeichnet werden. Van de Velde inspiriert sich hierbei an den englischen Sozialutopisten William Morris und John Ruskin. Im Salon der "Vingt", einer Brüsseler Gruppe von Avantgardemalern, wird 1892 erstmals auch ein eigener Saal dem Kunsthandwerk gewidmet. Madeleine Maus, die Chronistin der "Vingt", über van de Veldes künstlerisches Sendungsbewusstsein:

    "Van de Velde liebt es, tätig zu sein, zu schreiben, zu sprechen, zu überzeugen. Ein ernster, eindringlicher, warmer Ton kommt ihm dabei zustatten. Von Natur ist er Theoretiker, und dieser besondere Zug seines Wesens führt dazu, dass jede Theorie, für die er sich einsetzt, für ihn zu einer Mission wird, als deren Apostel er sich fühlt."

    1895 manifestiert sich das moderne, von der Nachahmung der Stile vergangener Epochen befreite Kunsthandwerk in Paris in einer Schau unter dem Titel "art nouveau". Der Jugendstil ist geboren, und van de Velde ist einer seiner prominentesten Vertreter. Formensprache und Konzeption sind stark vereinfacht. Zeitgenossen wie der Schriftsteller Edmond de Goncourt zeigen sich hierüber empört.

    "Unser Land, das die koketten und bequemen Möbel des 18. Jahrhunderts hervorgebracht hat, wird von den unfreundlichen, eckigen Möbeln bedroht, die für ungebildete Höhlenbewohner gemacht zu sein scheinen. Frankreich wäre also zu Formen verurteilt, die bei einem Hässlichkeits-Wettbewerb preisgekrönt worden sind, zu Sesseln und Stühlen, die wie flache Blechplatten aussehen, zu Toilettentischen, die an Zahnarztwaschtische erinnern."

    Was die Pariser schockierte, erregte auf der Kunstgewerbeausstellung 1897 in Dresden reges Interesse. Van de Velde gründet eine eigene Firma für kunsthandwerkliche Produkte bei Brüssel. Von den Kunstkritikern Julius Meier-Graefe und Harry Graf Kessler bestärkt, übersiedelt van de Velde schließlich mit seiner Familie nach Weimar. Hier ruft er bald die Kunstgewerbeschule ins Leben, die zu einer der ersten europäischen Adressen für die Vermittlung moderner Gestaltungsprinzipien wird. Er hält zahlreiche Vorträge zum Neuen Stil und findet begeisterte Anhänger für seine Kreationen. Doch das politische Klima im Deutschen Reich verschlechtert sich für den Belgier van de Velde. Einer seiner Kritiker formuliert es bereits 1906 überdeutlich.

    "Er soll sich aus dem Staube machen, ehe er seinen Ruf als Reformator des Kunstgewerbes umgewandelt hat in den eines Destruktors, eines Zerstörers. Mag er seine schwülen Träume lieber in seiner belgischen Heimat als in unserem schlichten Weimar träumen. Weg mit ihm!"

    Kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs verlässt van de Velde Deutschland. Ein Lehrstuhl für Architektur und Kunstgewerbe veranlasst ihn in den 20er Jahren zur Rückkehr nach Belgien. Von seinem Alterssitz in der Schweiz aus verfolgt van de Velde den Siegeszug der modernen Gestaltungsweise, die im Weimarer Bauhaus des Walter Gropius ihr Zentrum besitzt. Im stolzen Bewusstsein, Pionierarbeit für den Neuen Stil geleistet zu haben, stirbt van de Velde am 25. Oktober 1957 im Alter von 94 Jahren in der Schweiz.