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Bruchstückhafte Lebensgeschichte

Bei seinen Recherchen zu den Büchern Königskinder und Dies Kind soll leben war Reinhard Kaiser auf den deutschen Komponisten und Musiker Edwin Geist gestoßen. Auch Edwin Geist war Jude und 1939 aus Berlin nach Kaunas in Litauen gegangen. Dort hatte er sich in die junge jüdische Pianistin Lyda Bagriansky verliebt, beschlossen im Exil zu bleiben und geheiratet. Beide, Edwin und Lyda Geist, überlebten die deutsche Besatzung von 1941 bis 1944 nicht. Und da ihre tragische Geschichte ihn nachhaltig berührte, machte Reinhard Kaiser sich auf Die Suche nach Edwin Geist, wie sein neues Buch im Untertitel heißt.

Sylvia Schwab | 02.07.2004
    Unerhörte Rettung erzählt eine bruchstückhafte Lebensgeschichte, deren Zeugnisse zum größten Teil von den Nazis und vom Krieg zerstört wurden und deren Spuren sich bei einer Massenerschießung verlieren. Es erzählt von Edwin Geist, der Ende 1942 im litauischen Kaunas ermordet wurde und von seiner Frau Lyda, die Anfang 1943 Selbstmord beging. Aber es erzählt auch von einer Rettung, wie der Titel andeutet - einer vergeblichen Rettung, denn es gelang Edwin Geist kurz vor seinem Tod, seine Frau in einer dramatischen Aktion aus dem Ghetto zu holen. Und außerdem erzählt es von der gelungenen Rettung von Edwin Geists kompositorischem Werk:

    Und unmittelbar nach Lydas Tod bricht – und das ist nun die nächste unerhörte Rettung – ein junger Violonist, der gehört hat, dass in einem Zimmer ein Selbstmord passiert ist und dass da Noten herum liegen, mit einem Freund zusammen bei Nacht und Nebel in dieses Zimmer ein und holt in einem Koffer die Noten raus .. und rettet diese Noten. Also, es ist eine völlig aberwitzige Geschichte. Der Mann hat auch Menschen gerettet, aber da hat er Musik gerettet. Ich hab mit ihm gesprochen in Kaunus. Und er hat mir diese Geschichte erzählt und er hat mir, während wir redeten, drei Taschenpartituren aus seinem Schubfach geholt und geschenkt… aus eben diesem Raubzug.

    Originalmanuskripte, Partituren, Handschriften – der sichergestellte Koffer enthielt fast alles, was Edwin Geist in den dreißiger Jahren in Deutschland und später dann in Litauen komponiert und geschrieben hatte. Und die dritte Rettung unternimmt Reinhard Kaiser selbst: Indem er Edwin Geists spärlichen Lebensspuren nachgeht und alles, was er findet, akribisch sammelt – Briefe und Fotos, Edwin Geists Aufsätze und sein Tagebuch, Dokumente und Berichte von Zeitzeugen. Aus unzähligen biographischen Mosaiksteinen setzt er ein zum Teil sehr genaues, oft aber auch nur bruchstückhaftes Bild des Musikers zusammen und rettet ihn damit vor dem Vergessen.

    Ein Exilant, nach Nazi-Nomenklatur "halbjüdisch", der Vater war jüdisch, ist schon vor dem ersten Weltkrieg gestorben. In Berlin geboren, der Edwin Geist, 1902. Der hat eine Komponistenkarriere begonnen. Wo er studiert hat, habe ich nicht ermitteln können. Traurig! Es ist eine fragmentarische Biographie. Er hat in den zwanziger Jahren einige Stellen gehabt, einmal in Stettin, dann als Leiter des Schauspielhauses in Zürich, und 1937 bekommt er Berufsverbot von der Reichsmusikkammer.

    Trotzdem arbeitete Edwin Geist weiter, störrisch oder auch naiv das Verbot missachtend. Zu dieser Zeit entstand unter anderem die Oper "Die Heimkehr des Dionysos". Erst im Jahr 2002 kommt sie zum ersten Mal zur Aufführung, in Vilnius, mehr als sechzig Jahre nach ihrer Entstehung. Das ist ein bewegender Augenblick für Reinhard Kaiser, und auch als Leser spürt man, dass das Werk des Komponisten Edwin Geist erst jetzt, mit der Aufführung seiner Musik, wirklich gerettet ist.

    Edwin Geist war ein komplizierter Mensch, der wahrscheinlich als Jude schon früh kränkende Ausgrenzung erlebt hat. Er träumte von der Erneuerung der Oper über Wagners Musikdrama hinaus zum Musikschauspiel, schrieb zwei Opern, viele Lieder, Chorstücke und eine kleine deutsche Totenmesse. Der Komponist sah sich selbst in der Tradition der Moderne des 20.Jahrhunderts und entdeckte zugleich Gemeinsamkeiten mit der litauischen Volksmusik, deren atonale Momente er auch in einem Aufsatz untersuchte. Wie sein Werk genau einzuordnen ist, muss vorerst offen bleiben, erst häufigere Aufführungen und intensive musikkritische Studien werden da Klarheit schaffen.

    Die drei Lieder, deren Partituren Reinhard Kaiser bei seinen Recherchen in Kaunas geschenkt bekam, besitzen jedenfalls eine bemerkenswerte Dynamik. Edwin Geist hatte sie schon Ende der zwanziger Jahre für seine Geige spielende erste Frau und sich selbst als Sänger geschrieben; im Frühjahr 2004 wurden sie im Hessischen Rundfunk uraufgeführt. Als Musiker und Komponist war Edwin Geist für Reinhard Kaiser eine große Herausforderung.

    Das war für mich zunächst mal ein Risiko weil ich mir von Anfang an gesagt habe, dass ich die musikwissenschaftliche, musikhistorische, musikkritische Vorbildung nicht habe, um den etwa musikhistorisch einzuordnen. Auf der anderen Seite war es aber so, ich bin nun durch meine Recherchen und die ganze Sammelei in die Position dessen geraten, der am meisten weiß über den Geist. Das war ein bisschen eine Gratwanderung bei dem Buch.

    Und diese Gratwanderung ist gelungen! Nicht nur, weil Reinhard Kaiser dort, wo er kein Fachmann ist, Zurückhaltung übt, und dort, wo seine Zähigkeit und Genauigkeit gefragt sind, einfach nicht locker lässt. Er macht unzählige spannende und dramatische Funde, entdeckt zum Beispiel zwei offizielle Nennungen Edwin Geists in Nazi-Nachschlagewerken, die kurioserweise im verschlossenen Magazin der Frankfurter Universitätsbibliothek stehen. Auch macht er die Familie von Edwin Geists erster Frau in der Schweiz ausfindig und findet Prospekte und Photos aus seiner Zeit am Schauspielhaus Zürich. Kaiser lässt den Leser unmittelbar teilhaben an seinem Fragen und Forschen, aber er stilisiert Edwin Geist nicht zum einsamen Heroen und leidenden Opfer, beleuchtet ihn vielmehr auch in seinen Schwächen und Fehlern. Was ihn fasziniert, ist nicht nur Edwin Geists Schicksal, sondern auch die fast kriminalistische Spurensuche selbst.
    In so einer Geschichte, von der man einmal begriffen hat, dass sie erzählenswert ist, und zu wissen, dass man da Neuland betritt, dass man Dinge erforscht, die eigentlich kein Mensch bisher weiß – zumal im Zusammenhang nicht weiß, also die Ansammlung all dessen, was dann da zum Vorschein kommt, dass ist wirklich unglaublich spannend. Also schon bei den Königskindern auch hab ich so einen Elan entwickelt, zu bohren, zu forschen, Löcher zu graben in der Geschichte.

    Reinhard Kaisers Unerhörte Rettung ist weniger und mehr als eine Biographie. Weniger, weil zu viele wichtige Dinge offen bleiben müssen. Über Edwin Geists Kindheit und Ausbildung zum Beispiel, über seine Familie und auch seine erste Ehe sind fast alle Zeugnisse verloren. Mehr als eine Biographie ist "Unerhörte Rettung" aber dadurch, dass die individuelle Lebensgeschichte sich weitet zu einem Ausschnitt deutscher Geschichte, zu einem Panorama jüdischen Lebens und Sterbens in Litauen, zum Lebenszeugnis eines egomanen Künstlers und wie nebenbei auch zu einer Art Selbstportrait des Autors. Seine beharrlichen Recherchen, seine feinfühligen Portraits und sein Engagement für die späte "Rettung" der in Litauen umgekommenen Juden beeindrucken tief.

    Reinhard Kaiser
    Unerhörte Rettung. Die Suche nach Edwin Geist
    Schöffling, 360 S., EUR 24,90