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Brüche und Wandlungen

Jean-Michel Palmier (1944-1998), Professor für Ästhetik und Kunstwissenschaft an der Universität Paris, war ein besonders intimer Kenner der deutschen Philosophie. Im Suhrkamp Verlag erscheint jetzt eine umfängliche Studie über Walter Benjamin, die in Frankreich posthum 2007 veröffentlich wurde.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann | 24.02.2010
    Wer war Walter Benjamin? Woran orientierte sich sein Denken? Seit 1915 beeindruckt ihn Gershom Scholem, der zum bedeutendsten Vertreter des jüdischen Geistes im 20. Jahrhundert avanciert. Im Laufe der ersten Hälfte der 20er-Jahre wendet sich Benjamin jedoch der Ästhetik zu. In den folgenden, politisch unruhigeren Jahren nähert er sich unter dem Einfluss Bertolt Brechts und Theodor Adornos zunehmend dem Marxismus an. Dabei spielt Brecht für ihn persönlich die weitaus wichtigere Rolle. Jean-Michel Palmier bemerkt dazu:

    "Umgekehrt hatte die Bewunderung, die dieser für Brecht hegte, manchmal fast etwas Kindliches. Er betrachtete Brecht als den größten deutschen Schriftsteller seiner Zeit, als den einzigen, dem es gelungen war, mit seinem Werk den Forderungen der Epoche zu genügen. Oft geschah es, zumal in seinem Briefwechsel mit Scholem, dass er – aufgefordert, seine ideologischen Positionen zu rechtfertigen – auf die Werke Brechts verwies."

    In der Emigration vollendet er 1936 eines seiner wichtigsten Bücher Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in dem er zwar diagnostiziert, dass durch Fotografie und Film das Kunstwerk die Aura seiner Einmaligkeit verliert. Zugleich sieht er aber durchaus Chancen, dass diese modernen Technologien zur proletarischen Revolution beitragen könnten. In der späten Weimarer Zeit arbeitete er für den entstehenden Rundfunk und schrieb nicht nur zahlreiche Sendungen, auch für Kinder, sondern entwickelte Konzepte, um den Rundfunk als Mittel revolutionärer Volksaufklärung in Dienst zu nehmen. Palmier hält fest:

    "Doch das politische Projekt, das er formuliert – die soziale Basis des Rundfunks zu erschüttern, ihn den Händen einer Minderheit zu entreißen, ihn in den Dienst der Ausgebeuteten zu stellen – ein Projekt, das Brecht als unvereinbar mit der bestehenden Gesellschaft erkannte, stand in tragischem Kontrast mit der politischen Realität, die in jenem Jahr 1932 im Begriff war, die Ära der Freiheit und Kreativität, die der Rundfunk in der Weimarer Republik erlebt hatte, rasch zu ersticken."

    1940 im Jahr seines Selbstmordes auf der Flucht vor den Nazis an der spanischen Grenze schreibt er einen kurzen, später berühmt gewordenen Text, die "Geschichtsphilosophischen Thesen", in dem er den Fortschritt zum Sozialismus als eine Geschichte bezeichnet, die nicht von den Verlierern, sondern den Siegern geschrieben wird – man denke an die stalinistische Sowjetunion, die gerade in einem Bündnis mit Hitler agierte. Ihr stellt er einen Engel der Geschichte entgegen, der der messianischen Tradition des Judentums ähnelt. Vergeblich versucht dieser Engel, die Verlierer wie die Trümmer der Geschichte zu retten, die der Fortschritt hinterlässt. Benjamin schreibt in den "Geschichtsphilosophischen Thesen":

    "Der Engel der Geschichte möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm."

    Wer also war Walter Benjamin? Woran orientiert sich sein Denken? Für Gershom Scholem verführten Bertolt Brecht und Adorno ihn zu seinen Abwegen vom Judentum, vor allem zu seinen Annäherungen an den marxistischen Materialismus. Für Scholem aber lässt sich das jüdische Denken mit dem Materialismus nicht verbinden. So schreibt Palmier:

    "Während (Scholem) den Fortbestand der theologischen Elemente in fast allen Texten Benjamins auch nach seinem Bekenntnis zum Materialismus hervorhebt, wird er jene Verknüpfung stets als permanente Selbsttäuschung anprangern."

    Bertolt Brecht hält Benjamin ob seiner jüdischen Neigungen eher für einen etwas verquerten Denker. Brecht schreibt 1938 in sein Arbeitjournal:

    "Alles Mystik, bei einer Haltung gegen Mystik. In solcher Form wird die materialistische Geschichtsauffassung adaptiert! Es ist ziemlich grauenhaft."

    Adorno andererseits kritisiert an Benjamin vor allem dessen revolutionäre Hoffnungen als illusionär und von Brecht inspiriert. Benjamins Optimismus, dass man durch die Politisierung des Films eine revolutionäre Waffe erhält, teilt er nicht, wenn er 1936 schreibt:

    "Und dass, um nur noch eine Kleinigkeit herauszugreifen, der Reaktionär durch Sachverständnis vorm Chaplinfilm zum Avantgardisten werde – das scheint mir ebenfalls eine Romantisierung durchaus. Man muss nur in diesem Film das Publikum haben lachen hören, um zu wissen, woran man ist."

    Hannah Arendt, eine enge Freundin Benjamins, beschuldigte denn Adorno auch, dessen Texte nachlässig zu behandeln. Aber Adorno sorgte immerhin für eine Ausgabe der "Gesammelten Schriften" Walter Benjamins. Diese wird indes in den turbulenten 60er-Jahren vor allem rings um die Berliner Zeitschrift alternative auf durchaus hohem intellektuellen Niveau angegriffen. Deren Vertreter werfen Adorno vor, die Edition Benjamins so gestaltet zu haben, dass dessen revolutionäre Neigungen in den Hintergrund treten.

    Wer also war nun Benjamin? Ein jüdischer Denker, für den ihn Scholem hält? Dazu stellt Palmier jedoch fest:

    "Eine solche Behauptung entbehrt nicht der Wahrheit, verstärkt jedoch tendenziell das Bild eines passiven Benjamin – Scholem weist gern auf sein Zögern, seine inneren Hemmungen hin, der fortwährend diametral gegensätzlichen Einflüssen ausgesetzt ist, von denen er sich nicht zu lösen vermag. In Wirklichkeit nötigte ihn gerade die Schwierigkeit, die auseinanderliegenden Positionen Brechts und Adornos miteinander zu vereinbaren, zu einer ständigen kritischen Prüfung ihrer jeweiligen Erkenntnisgehalte. Die theoretischen Diskussionen, die er mit ihnen führte zeigen, dass Benjamin seine Unabhängigkeit im Denken stets bewahrt und die Eigenheit seiner Kategorien niemals geopfert hat."

    Ein jüdischer Denker, der damit für Bertolt Brecht ziemlich absurd den Marxismus befruchten möchte? Ein ansonsten etwas naiver materialistischer Denker mit übertrieben Hoffnungen auf die Revolution, für den ihn Adorno hält? Das liegt für Palmier schon näher:

    "Auch wenn man einmal absieht von dem Kontext des kritischen Dialogs, der zwischen Adorno und Benjamin nie abriss, ist nicht zu leugnen, dass Adornos Kritik Elemente von Wahrheit enthält, die von der Entwicklung des Kinos bestätigt wurden."

    Oder ein echter revolutionärer Theoretiker, dem in seltsamer Einmütigkeit sowohl Scholem, als auch Brecht und Adorno diese Eigenschaft unter Bezugnahme auf seine jüdischen Denkansätze abzusprechen versuchen? Dem widerspricht Palmier klar:

    "Nichtsdestotrotz haben die Versuche, Benjamins Werk in die Tradition des dialektischen Materialismus einzureihen, nur dazu geführt, dass seine Problematik fast vollständig verblasste."

    Palmier beschreibt nicht nur lebendig Leben und Werk. Indem er akribisch diese Debatten um Benjamin nachzeichnet, führt er eindrucksvoll vor, dass sich Benjamin nicht nur ernsthaft mit beiden Richtungen, dem Judentum und dem Marxismus auseinander setzte. Vor allem stellt das keinen Widerspruch dar: Marxismus und Messianismus ergänzen sich vielmehr gegenseitig. Die Hoffnung auf den Kommunismus verkörpert eine Art Hoffnung auf den Messias. Palmier stellt summarisch fest:

    "Im Gegensatz zu manchen Intellektuellen seiner Generation setzte Benjamin den Bolschewismus niemals mit der Ankunft des messianischen Zeitalters gleich. Doch der Bruch, den die Arbeiterklasse vollziehen kann, hat für ihn etwas Messianisches, und er verbindet die Revolution mit dem Sieg über den Antichrist. Was die 'Tradition der Unterdrückten' angeht, so vereint sich in jedem Augenblick Materialismus und Theologie."

    Solche Gemeinsamkeiten konnten die Vertreter beider Richtungen im Zeitalter der Ideologien noch nicht zugestehen. Das fällt heute schon leichter, zumindest wenn man bereit ist, die eigene Position auch zu hinterfragen.

    Eher verwundert heute indes, warum Palmier Benjamin überhaupt eine homogene Verbindung von Materialismus und Messianismus, somit eine geistige Einheit und Ganzheit attestieren möchte, heute, wo wir doch alle ständig erleben, dass jeder Einzelne nicht nur ständig ein anderer sondern viele ist. Für Palmiers Intention erweist sich zudem die Detailgenauigkeit von 1200 Seiten als kontraproduktiv. Denn in diesen verlieren sich alle Formen der Ganzheit.

    Jean-Michel Palmier, Walter Benjamin – Leben und Werk,
    Suhrkamp, Frankfurt/M. 2009, 1400 S., 64 Euro