Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Brüssel/Feuerstellung

In den 53 Jahren, die seit Arno Schmidts erster Publikation vergangen sind, ist aus dem lange Zeit kaum wahrgenommenen & noch weniger gelesenen Eigenbrötler und Sonderling der deutschen Nachkriegsliteratur ein moderner Klassiker geworden. Wenn der Germanist Heinz Schlaffer in seiner eben erschienenen "Kurzen Geschichte der deutschen Literatur" deren weltliterarische Bedeutung zwar ab 1950 für nichtig erklärt, so erwähnt er gnädigerweise doch noch zumindest Uwe Johnson, Thomas Bernhard und Arno Schmidt als Autoren, die heutige Leser schätzten, weil sie

Wolfram Schütte | 26.05.2002
    das Politische hinter einer eigenwilligen Darstellungsweise zurücktreten lasse. Doch auch ihre Werke setzen den literarischen Protestantismus der Nachkriegszeit fort, zum einen, indem sie wider finstere Mächte - den Staat, das Kapital - streiten, zum anderen, indem sie die sprachlichen Mittel einschränken: aufs Phonetische bei Schmidt, auf die Berichtsform bei Johnson, auf die Monotonie wiederkehrender Wörter bei Bernhard.

    Es ist immer wieder erstaunlich, welche Ignoranz-Blüten auch noch die intelligenteste Germanistik treibt. Arno Schmidt als Streiter wider Staat & Kapital zu bezeichnen, wo er doch diesen verachtete und jenes gar nicht in den Blick nahm, steht der Einfältigkeit näher als der literarischen Kenntnis. Die "finsteren Mächte", die Schlaffer ironisch so nennt, haben zumindest beim frühen Schmidt einen Namen, nämlich den des "Leviathan", wie seine 1949 erschienene Erstpublikation von 3 Erzählungen hieß, in denen er einmal in der gerade vergangenen Gegenwart des Weltkriegsende, aber zweimal in der Antike gegen "die beste aller Welten" wütet. Den höhnischen Atheisten Schmidt zum literarischen Protestantismus der Nachkriegszeit zu zählen, ist ebenso absurd, wie in einer seiner zahlreichen erzählerischen und sprachlichen Innovationen - nämlich in dem Phonetismus des "Kaffs", der zur "etymistischen Verschreibkunst" des Spätwerks vor und nach "Zettels Traum" sich entwickelte - eine "Einschränkung sprachlicher Mittel" zu sehen. Denn das Gegenteil ist der Fall. Polyvalenter, offener für assoziative Lektüre ist kein Sprachkorpus in der deutschen Literatur seit Fischart und Jean Paul - als eben das Oeuvre Arno Schmidts.

    Es sind ja gerade diese wort-gestischen und diese musikalisch-humoristischen Entgrenzungen und phantastischen Unterkellerungen des eindimensionalen sprachlichen Ausdrucks, welche die Prosa Schmidts stetig elektrisieren und ihren Reichtum an Eindrücken und Empfindungen beim Leser wecken. Nicht nur beim deutschen Leser, sondern auch im englischen, französischen und italienischen Sprachraum, nachdem dort erstaunlich kongeniale Übersetzungen vorliegen.

    Ein "moderner Klassiker" ist Arno Schmidt also völlig zurecht; und aus dem einst von Helmut Heißenbüttel bedauernd so genannten "verhinderten Volksschriftsteller" der fünfziger Jahre ist schon vor dem Erscheinen seines Hauptwerkes "Zettels Traum" 1970 ein geradezu populärer Autor geworden. Dank der Taschenbuch-Ausgaben seiner Werke im S.Fischer-Verlag, die immer wieder aufgelegt wurden, gewann der aller literarischen Betriebsamkeit widersetzliche Bargfelder Einsiedler am Südrand der Lüneburger Heide, gegen und abseits des saisonal an-& abschwellenden literarischen Mainstreams, junge Leser und Leserinnen - ohne daß die zeitgenössische Literaturkritik diesen nachholenden und anschwellenden Zustrom begleitet hätte. Besseres kann keinem als "schwierig" verschrieenen Autor passieren, als daß ihm seine potentiellen Leser zuwachsen, ohne vom eregierten Zeigefinger der Kritik ihm zugetrieben worden zu sein. Der 1979 gestorbene Goethepreis-Träger von 1973 hat seinen Ruhm gerade noch erlebt.

    Die frühen Kenner & Liebhaber Schmidts versammeln sich seit Jahrzehnten um den "Bargfelder Boten", der ihnen nun bereits in der 260. (!) Lieferung "Materialien zum Werk Arno Schmidts" vorlegt. Das geschieht dort durchaus nicht immer ehrerbietig, sondern auch respektlos, gewitzt und sogar witzig, wie der Autor des Werks, das im "Bargfelder Boten" röntgenologisch durchleuchtet und philologisch kurz & klein dekonstruiert wird, es zu seinen Lebzeiten ja selber war, wenn er sich lebenden oder toten Kollegen zuwandte von dem Barockdichter Christian Pape über Klassiker wie Herder und Wieland, Romantiker wie Tieck und Fouqué bis zu Stifter, Edgar Allan Poe oder James Joyce.

    Aber die von dem großzügigen Mäzen Jan Philipp Reemtsma und der Witwe Alice Schmidt 1981 gegründete "Arno Schmidt Stiftung" hat die jahrzehntelange Verlags-Odyssee Schmidts, der zwischen Scylla und Charybdis, sprich: Rowohlt, Stahlberg, S.Fischer und Haffmanns, hindurchsegelte, beendet. Seit vergangenem Herbst hat Schmidts Werk im Suhrkamp-Verlag nun sein Ithaka gefunden. Im Kreis von Thomas Bernhard und Marcel Proust, Uwe Johnson und Samuel Beckett und dem Umfeld großer deutscher und ausländischer Weltliteratur.

    Dort ist jetzt, als erste Nachlass-Edition der "Arno Schmidt Stiftung" im Suhrkamp Verlag, das Faksimile der Handschriften und deren Transskription von zwei Fragmenten erschienen. Sie haben den Titel "Brüssel" und "Die Feuerstellung". Die erste entstand 1948, die zweite 1955. "Brüssel" wird vom Autor als "sehr wichtig" erachtet, wie aus einer undatierten späteren Nachschrift hervorgeht, und "Die Feuerstellung" als "Fragment vom Sommer 55" mit einem "Ruhe sanft" still beerdigt.

    8.5. Brüssel. - sound of revelry by night. Stehen, Scheinwerfer im Rücken, Hände in den Taschen, die Staffeln der 4-motorigen. - 9.5. Morgen Uffz. Reinhold näht Mützen; exzellente nebenbei, obwohl er Gärtner von Beruf ist; ein älterer ruhiger Mann (eben Gärtner); aber ich spüre wohl, innerlich flucht er: er macht sich Arbeit, um nicht zu platzen. - Gestern ist Klopapier verteilt worden, pro Kopf 20 Bogen, ein Bleistift=Endchen auf dem Antreteplatz gefunden. (...) Meine Uhr allerdings ist weg; bei Vechta abgenommen, da man sie ja bekanntlich bei der Flucht als Kompaß benutzen kann; auch mein gutes Taschenmesser, (einer zog 6 Kompasse aus der Hosentasche, darunter einen goldenen mit Sprungdeckel,) auf unsere Lederkoppel waren sie auch scharf; noch in Weetze boten sie 20 Zigaretten für eins. Am besten kommen die ganz Jungen darüber hinweg; die sind schon so richtig landsknechtmäßig; Einer erzählte beim Antreten, wie sie zu dritt bei einem Bauern heimlich eine Kuh gemolken hatten, da war er plötzlich gekommen, und sie aber weg "Zu dritt?! - Warum habt ihr ihn nicht umgelegt?!" fragte der Andere ehrlich erstaunt. - Das sind die typischen Folgen der jahrelangen levée en masse.

    Mit diesem szenischen Schnappschuss hebt das "Brüssel"-Fragment an - und es ist tönt schon ganz im Schmidt-Sound. Der Abend am Tag des Kriegsendes in einem Gefangenenlager. Die deutschen Soldaten sind angetreten im Scheinwerferlicht, in der Nähe des Lagers stehen die viermotorigen Bomber - und der Lärm ausgelassenen nächtlichen Feierns der Engländer wird englisch angetippt. Vermutlich ein literarisches Zitat. Wie in Günter Eichs Gedicht "Inventur", in dem sich "Urin" auf "Hölderlin" reimt, wird hier vom Erzähler auch Inventur gemacht: was ihm beim Gang in die Kriegsgefangenschaft abgenommen wurde - Uhr & Taschenmesser - , daß er seine Lederkoppel für 20 Zigaretten verscheuert hat. Inventur aber auch im Hinblick auf die seelische Verfassung der Kriegsverlierer: der ältere, ruhige Mann, eben im Zivilberuf ein Gärtner, flieht ins Mützen-Nähen, weil er innerlich vor Wut und Ohnmacht fast platzen würde; das letzte Aufgebot der ganz jungen Eingezogenen, die das Kriegsabenteuer schon landsknechtmäßig verroht hat, kommen dadurch am besten über die demütigende Situation des Gefangenen hinweg: Indem sie sich Erlebnisse erzählen. Warum sie, als sie zu dritt von einem Bauern beim heimlichen Kuhmelken erwischt wurden und abhauten, ihn nicht einfach "umgelegt" hätten, fragt einer "ehrlich erstaunt" die offensichtlichen Hasenfüße. Und der erzählende Beobachter zieht ein erstes Resümee: er konstatiert die Brutalität der Soldaten als "typische Folgen der jahrelangen levée en masse". Indem er aber den französischen Ausdruck benutzt, der eigentlich "Volkserhebung" bedeutet, markiert der Erzähler sowohl seine bildungsmäßige Distinktion von seiner Umgebung als auch seine Abneigung gegen "die Masse", mit der er sich nicht gemein macht.

    Sein einziges Glück in dieser Situation ist ein Diminuitiv, das als unverhofftes Fundstück auf dem Antreteplatz in seine Hände gekommen war: "ein Bleistift=Endchen". Fast ein Kosewort, er hat das schutzlos preisgegebene Ding liebevoll aufgenommen. Ein minimales, eine minimiertes Werkzeug, das jedoch ihm den Ausweg aus der Misere weist; und weil gerade zuvor "pro Kopf 20 Bogen Klopapier" verteilt worden waren - nicht Blatt, wohlgemerkt, sondern "Bogen" wie fürn Buchdruck (und daß er eben daran denkt, signalisiert Schmidt, indem er als mögliche Präzision der Klopapiergröße "kleinoktav" hinzufügt) -: weil also Schreibpapier zur Hand ist, kann er es statt dem eigenen Hintern doch lieber zweckentfremdend dem Bleistift-Endchen unterschieben. Die Geburt der authentischen Literatur aus dem Zusammentreffen von Klopapier und Bleistiftstummel in der Kriegsgefangenschaft: das ist nicht der schlechteste Witz des Schmidtschen "Brüssel"-Fragments.

    Ohne Zweifel basiert der nicht ausgeschriebene Kurzroman auf den noch sehr frischen Eindrücken der eigenen Kriegsgefangenschaft. Der 26jährige war 1940 zum Schreibstubendienst bei der Artillerie, erst im Elsass, ab 1942 in Norwegen eingezogen worden, wurde 1945 an die Westfront bei Vechta verlegt und hatte sich am 16. April bei einem britischen Posten als Gefangener gemeldet und war dann bis Ende ´45 in einem Kriegsgefangenenlager bei Brüssel, danach für ein Jahr Dolmetscher an einer Hilfspolizeischule in der Lüneburger Heide.

    Obwohl Arno Schmidt in seinem umfangreichen erzählerischen Werk die autobiografischen Erfahrungsstoffe weidlich ausgeschlachtet hat und er sogar noch in seinem letzten vollendeten Typoskript, dem 1975 veröffentlichten "Abend mit Goldrand", am tiefsten "in den Brunnen der Vergangenheit" - nämlich in seine deprimierend-abstoßende Kindheit in Hamburg und Lauban - hinabgestiegen war, hat er seine 5jährige Soldatenzeit literarisch nicht umgepflügt. Das ihm von A bis Z verhasste Militär blieb ihm eine erzählerische Brachlandschaft, bis auf das "Brüssel"- und das "Feuerstellung"-Fragment, das allerdings nicht retro-, sondern prospektiv einen Dritten, atomar in Deutschland geführten Weltkrieg ins Auge nimmt - eine Science-Fiction-Perspektive, die er in seinem 1951 erschienenen Kurzroman "Schwarze Spiegel" bereits für 1955 und in seiner "Schule der Atheisten" von 1972 jedoch erst für 2014 als vollzogene Tatsache annimmt.

    Der leviathanisch alles Kulturelle und Zivilisatorische verschlingende Weltkrieg ist eine fortschwärende Obsession, in der Schmidt seine Kriegserfahrungen und seine Vertreibung in die existentielle Mittellosigkeit literarisch verarbeitet. Aus der Tabula rasa des 2. Weltkriegs hatte seine Frau Alice nur die "Juvenila" des jungen Schreibers von romantisch nachempfundenen Erzählungen und eine 36bändige Wieland-Ausgabe bei ihrer Flucht aus Schlesien gerettet.

    Vor dem traumatischen Hintergrund solcher mehrfach beschworenen Totalkatastrophen sind jene momentanen, kammerspielhaft inszenierten Einsiedler- und Literatur-Liebhaber-Idyllen zu verstehen, die für kurze Augenblicke - einem kleinen Urlaub, einem Wochenendbesuch von Freunden oder einem ländlichen Ausflug mit ihnen - das bescheidene Glück im gesprächsweise mit antiquarischen Literaria ausgefütterten häuslichen Winkel feiern. Es sind - ob im "Kaff oder Mare Crisium", den Erzählungen von "Caliban über Setebos" und "Zettels Traum", "Abend mit Goldrand" und dem von Schmidts tödlichen Schlaganfall fragmentierten "Julia, oder die Gemälde" - illusionslos dem vorübergehenden Verweilen, das so schön ist, gewidmete Daseins-Momente, wobei sich das Dasein immer mehr ins Phantasmagorische verlagert - und die reale, empirische Welt dabei zunehmend abhanden kommt.

    Selbst dort, wo Arno Schmidt mit ihr am Direktesten zusammenkam, nämlich während seiner Militärzeit, unterwandert der Wunsch, dieser physisch-körperlichen Konfrontation wenigstens geistig zu entgehen, die hell- & scharfsichtige Registrierung der "Nessel Wirklichkeit" bei dem solitären "Gehirntier". Was jedoch an dem "Brüssel"-Fragment als authentischem Zeugnis der psycho-physischen Situation von gefangenen Soldaten am Kriegsende heute fasziniert, sind eine Vielzahl von präzisen Alltags-Details, die eher dokumentarisch und autobiographisch fixiert werden als erzählerisch entwickelt:

    2 Mann sind heute nacht erschossen worden, als sie einen Fluchtversuch machten. (Wenn man die Anlagen sieht, kann man nur den Kopf schütteln, über den bloßen Einfall. - Louis kam von der Leichenschau zurück: beide etwa 17/18 Jahre alt, ohne Soldbücher auch noch; kein Mensch weiß, wie sie heißen. Diese verdammten Lausejungen! (oder besser die verfluchten Hurra-Journalisten, und hitlerschen Kriegsberichter: denn die haben die dummen Kinder auf dem Gewissen!) - Antreten am Abend (Dreimal stehen wir so am Tage; manchmal über eine Stunde lang!) -Hinter mir erklärte Damm trocken: "Dank des Vaterlandes? Das heißt einen Leierkasten und ein Halsschild "keine Rente"; aber wir werden nich mal das kriegen"; laut widersprach ihm Keiner; denn sie waren Alle zu unsicher geworden, aber man sah deutlich, daß ihnen die 12 Jahren "Heil" und Fahnenwrauschen unauslöschlich im Blute lagen. - Befehlen und Gehorchen muß man leider zuweilen in der Welt; aber wer Gefallen daran findet, sollte sofort erschossen werden, denn er ist unheilbar vergiftet! "Führer befiehl! Wir folgen!" Gab es jemals etwas Widerlicheres als diese Bitte um einen Befehl, was auch immer er sei?! Pfui Deibel!)

    Während der Erzähler derlei Abscheu vorm deutschen Kadavergehorsam lieber für sich behält und optisch zwischen zwei Klammern einschließt - auch die gestischen Signalements der Schmidtschen Zeichensetzung sind in "Brüssel" schon präsent! - so wagt er sich an einer anderen Stelle doch weit übers verschwiegene Selbstgespräch ins offene Sprechen hinaus:

    Wenn mir der "Befehl" erteilt würde, K.Z.-Insassen satzweise zu erschießen; Befehl ist nicht immer Befehl, so straff und "soldatisch" es sich auch ausnimmt: es gibt eine Grenze für "Befehle", und wenn der Befehlende zu tierisch-stupide ist sie zu sehen, so hat der Ausführende den Gehorsam zu verweigern, oder sich wenn nur irgendwie möglich dem Befehl zu entziehen, z.B. durch plötzliches "Erkranken" oder "Verunglücken" - sie wollten ein Beispiel und ich erzählte es ihnen vom 13. April 45 wo der "Befehl" eines irrsinnigen Infanterieobersten kam, mit unserer Batterie die Stadt Vechta zu beschießen, obwohl sie 2 Stunden zuvor zur "Lazarettstadt" (also "offenen") erklärt worden war, und ich, als Rechentruppführer, nach kurzem Kampf mit mir selbst die Schießgrundlagen für eine Straßengabel 500 m vor der Stadt an die Geschütze durchgab. - Sie schwiegen; "Vaterlandsverräter" oder "Lump" wollten sie mich nicht direkt nennen, dazu war ich ihnen schon zu bedeutsam geworden; aber freudig einstimmen konnten sie auch (noch?) nicht - Schade!

    Diese erstaunliche Geschichte einer örtlich und zeitlich genau datierten Befehlsvereitelung hat er später für "Kühe in Halbtrauer" aus der demonstrativ sich in der Ich-Form zugeschriebenen Handlungsweise des "Brüssel"-Fragments in die Indirektheit einer Erzählung von & über einen anderen versetzt. Ob er selbst, als militärischer Vermessungstechniker, an dieser ballistischen Verschiebung beteiligt war oder sie nur stillschweigend und zustimmend bemerkte, ist gewiss unerheblich; untadelig in jedem Fall jedoch seine entschiedene geistige Haltung und umso verständlicher sein Stoßseufzer:

    Das ist der furchtbarste Fluch bei den Soldaten, daß man nie körperlich allein ist - Wenn ich nur mal 20 Jahre keine Menschen mehr zu sehen brauchte!

    Warum ist aber das von Schmidt ja immerhin für "sehr wichtig" erachtete frühe Prosastück denn doch Fragment geblieben? Die Herausgeberein Susanne Fischer mutmaßt, gestützt auf das bislang unpublizierte Tagebuch von Alice Schmidt, daß "die Erzählsituation im Gefangenenlager über die Schilderung des täglichen Elends hinaus wenig Entwicklungsmöglichkeiten bot: der Krieg ist vorbei, die Gefangenen werden irgendwann entlassen", schreibt sie in ihrer editorischen Nachbemerkung. Im Tagebuch taucht am 2.10. 48 das "Brüssel-Fragment" als "Anti-Goethe" auf und wird schon wieder am 17. 10. auf Nimmerwiedersehn verabschiedet, weil, so Alice Schmidt, "A. mit der Leviathan-Form dafür nicht so recht zufrieden" ist, da sie "nicht die vielen notwendigen Zitate & Verweisungen erlaubte, obwohl der Gegensatz: Gefangenenl(a)g(er). - Goethe doch wunderbar wäre".

    Offenbar ist das uns überlieferte Fragment entweder ursprünglich umfangreicher gewesen oder es war nur gesprächsweise unter den Ehepartnern als Konzept und Idee konkreter entworfen, als es je schriftlich ausgeführt worden. Denn zwar scheint sich ein erzählerisch-dialogischer Konflikt zwischen dem Deutschlehrer Kraft und dem nur als "Vermessungs-Mathematiker" sich zu erkennen gebenden Erzähler anzuspinnen. Die von beiden erwünschte und eingetroffene Lektüre - die Bibel, Lessings "Minna von Barnhelm", Goethes "Wilhelm Meister" und die "Wahlverwandtschaften", samt den schon im englischen Original vorhandenen "The Razor´s Edge" von Somerset Maugham und Poes "Arthur Gordon Pym" - kurz: diese bunte poetische Mischung sollte wohl als literarisches Kraftfutter für den Hahnenkampf zwischen dem arroganten Akademiker und dem ihm in jeder Hinsicht an Kenntnis und Bildung überlegenen Dilettanten dienen. Und die teils als "gutmütig" und "gutwillig" oder "ungebildet" und "kindisch" apostrophierten Mitgefangenen hätten dann als staunendes Publikum dem belehrenden Disput gelauscht.

    Ganz ähnlich war Schmidt ja schon im kurz zuvor erschienen "Leviathan" verfahren, wo ein beherzter Unteroffizier eine Gruppe von Versprengten im Winter 45 vergeblich aus der Kampfzone um Berlin herausführen will, aber zugleich ebenso bei- wie weitläufig die Hoffnungslosen über das Walten des sie am Ende alle verschlingenden "Leviathans" belehrt. Polemisch konnte er dabei sowohl einem Christen in die Trost-Parade fahren, als auch vorallem vor einer jungen, von ihm verehrten, sprich: geliebten Frau als überlegener Alleswisser paradieren. Intelligenz macht nicht nur "scharf wie´n Terrier" - das sagt Schmidt später einmal - sondern, hofft er immer wieder, sie mache Frauen auch scharf: auf den ausgewiesen Intelligentesten. Die Abwesenheit solchen erotischen Unterfutters, das vom "Leviathan" bis ins Spätwerk immer wieder den intellektuellen, literarischen Diskurs in seinen Erzählungen, Romanen & Typoskripten auspolsterte, hat wohl nicht zuletzt zur erzählerischen Unfruchtbarkeit des "Brüssel"-Vorhaben geführt.

    Während das "Brüssel"-Fragment auf 15 Blatt mit Bleistift niedergelegt wurde, sind von der "Feuerstellung" nur 3 ¼ offenbar in einem Zug mit Bleistift geschriebene Din A 4 Seiten als Exposition vorhanden, aber zusätzlich 54 Notizzettel, die darauf hindeuten könnten, daß Schmidt die ursprünglich in Kastel an der Saar lokalisierte Handlung an die Aller & in die Nähe des im "Steinernen Herzen" bedeutsamen Ahldener Schlosses verlegen wollte. Gedacht war jedenfalls an die Situation einer versprengten Gefechtsbatterie in einem Dorf während eines Atomkriegs auf deutschem Boden. Es könnte sich um eine Wiederholung des erzählerischen Grundmusters des "Leviathan" handeln: also um einen vergeblichen Rettungsversuch von isolierten Soldaten und Zivilisten, die alle an der Strahlenkrankheit zugrunde gehen - womöglich mit Ausnahme des Erzählers und eine Wilma, die den Ausstieg aus der Realität und den Einstieg in ein unterirdisches Höhlenssystem finden - eine imaginäre parallele Gegenwelt, mit deren Kontrastwirkungen Schmidt ja z.B. im späteren "Kaff" eher satirisch als sentimental umgehen wird.

    Faktum brutum ist jedenfalls, daß auch dieser zweite Versuch Arno Schmidts, sich ins Militärische zurück- & hineinzuversetzen und sich erzählerisch in ihm einzurichten & womöglich imaginativ aus ihm herauszuspinnen, ein Fragment geblieben ist. Der verhassten Brutalität einer ihm 5 verlorene Jahre lang aufgezwungenen Erlebnis- & Existenzweise hatte er sich, so gut es ging, tagsüber entzogen, indem er sich:

    rechnerisch die Formeln zur Bestimmung von Logarithmen ableitete und nachts meine Dauerphantasien als endlosen Liebesroman mit Schiffbruch, einsamen Inseln, Not spann...

    wie er im "Brüssel"-Fragment erzählt. Er war schon - um das Militär psychisch zu überleben - ein erfahrener Praktiker des "Längeren Gedankenspiels", bevor zu dessen literarischen Theoretiker und Erzähler wurde. Deshalb hat er Karl May so gut verstanden und die "Insel Felsenburg" für eines der größten deutschen Bücher gehalten. Man kann es auch so sagen: Was für Karl May das Zuchthaus Waldheim bedeutete, das war für Arno Schmidt die Deutsche Wehrmacht. Und über Waldheim hat May so wenig geschrieben wie Schmidt über seine Militärzeit, obwohl diese wie jenes ihre Oeuvres grundierte. Nur: bei Arno Schmidt kann man nun die geborene Ruinenlandschaft seines vergeblichen Versuchs besichtigen, aus den Militaria seines Lebens literarisch Gewinn zu ziehen. Es blieb ein Verlust; jedoch nicht für die Literatur.