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Brumlik: Unterzeichnung des Staatsvertrages größte Leistung

Der Philosoph Micha Brumlik hat den am Sonntag verstorbenen Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, gewürdigt. Spiegel habe mit der Unterzeichnung des Staatsvertrages zwischen Bundesregierung und Zentralrat auch "eine Selbstanerkennung des Judentums in Deutschland" vorangetrieben. Darüber hinaus sei es ihm gelungen, die Juden in Deutschland zu einigen, so Brumlik weiter.

Moderation: Dirk Müller | 02.05.2006
    Dirk Müller: Viele hier in Deutschland haben ihn als engagiert, als kämpferisch, als klar und deutlich in seinen Worten kennen gelernt, aber immer war er auch versöhnlich. Das politische Vermächtnis von Paul Spiegel, der an diesem Wochenende verstorben ist, ist wohl der Staatsvertrag, den die Bundesregierung und der Zentralrat der Juden in Deutschland vor drei Jahren, 2003, unterzeichnet haben. Ein Vertrag, der die Beziehungen erstmals auf eine rechtliche Grundlage gestellt hat. Rund 100.000 Juden in 87 Gemeinden werden vom Zentralrat vertreten und repräsentiert. Paul Spiegel hat die unterschiedlichen Interessen und Strömungen bei den deutschen Juden offenbar gut bündeln können in den vergangenen Jahren. Wie geht es jetzt weiter nach seinem Tod? Darüber wollen wir nun sprechen mit dem Philosophen Professor Micha Brumlik von der Universität in Frankfurt. Guten Morgen!

    Micha Brumlik: Guten Morgen!

    Müller: Herr Brumlik, der Bundespräsident hat gesagt, Paul Spiegel war ein deutscher Patriot. Eine Würdigung, mit der die deutschen Juden gut leben können?

    Brumlik: Das ist eine völlig richtige Bezeichnung, denn trotz aller Bitterkeit, die Paul Spiegel auch in seinen letzten Jahren angewandelt hat, war es ihm immer klar, dass er seine Aufgabe hier in Deutschland zu erfüllen hat und dass er nach Deutschland gehört. Das rührt nicht zuletzt daher, dass sein Elternhaus selbst, obwohl es vertrieben worden ist, schon sehr früh nach dem Krieg nach Deutschland zurückgekommen ist.

    Müller: Herr Brumlik, sind deutsche Juden in erster Linie Deutsche?

    Brumlik: Sie sind Deutsche, was ihre Staatsbürgerschaft angeht. Was ihre, wie man heute sagt, ethnische Zugehörigkeit angeht, gibt es da sicher sehr unterschiedliche Deutungen. Die Bundesrepublik Deutschland ist eine multikulturelle Gesellschaft. Es ist eine Gesellschaft, in der Immigration inzwischen zur Normalität gehört. Dazu gehört es auch, dass Menschen unterschiedlichen ethnischen und religiösen Gruppen angehören. Manche werden sich auch ethnisch als Deutsche verstehen, andere als staatsbürgerliche Deutsche mit einer jüdischen Ethnizität.

    Müller: Aber ist es immer noch so, dass viele deutsche Juden sich auch dessen täglich bewusst sind, dass sie Deutsche und Juden sind?

    Brumlik: Ja, das glaube ich ist doch so, denn tatsächlich, wenn das alles richtig ist, was wir immer über die verheerenden Auswirkungen und dramatischen Wirkungen des Nationalsozialismus sagen, dann kann das natürlich nicht von einem Tag auf den anderen verschwinden, sondern das hat auch in der zweiten und dritten Generation Nachwirkungen.

    Müller: Wie viel Normalität in Deutschland ist denn für die Juden auch durch die Arbeit von Paul Spiegel in den zurückliegenden Jahren entstanden?

    Brumlik: Ich glaube, dass Normalität im Sinne eines unbefangenen Miteinanders inzwischen im Ansteigen begriffen ist, nicht zuletzt deshalb, weil Deutschland ja auch das Ziel jüdischer Immigration vor allem aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion ist. Das sind Menschen, die sich wünschen, nach Deutschland zu kommen.

    Müller: Was hat Paul Spiegel zu dieser Normalität beigetragen?

    Brumlik: Seine wesentliche Leistung war, dass er diesen Staatsvertrag unterschrieben hat. Ich lese die Unterzeichnung des Staatsvertrages vor allem auch als eine Selbstanerkennung des Judentums in Deutschland. Man hat ja immer gemeint, dass dadurch nun endlich die Bundesregierung anerkannt habe, dass es Juden in Deutschland gibt. Das war seit langem bekannt. Aber dass Juden selbst diesen Staatsvertrag unterschrieben haben heißt, dass sie nun auch förmlich, rechtlich ihre Existenz in Deutschland beglaubigt haben.

    Müller: Viele, Herr Brumlik, die sehr viel verstehen vom deutschen Judentum, sich intensiv damit beschäftigen, haben jetzt auch gestern und heute in Kommentaren und Analysen geschrieben, dass es Paul Spiegel auch gelungen ist, die unterschiedlichen Interessen im deutschen Judentum, die unterschiedlichen Strömungen gut miteinander zu vereinbaren und sogar eine Spaltung gegebenenfalls zu vermeiden. Was ist damit konkret gemeint?

    Brumlik: Das ist völlig richtig. Seit zehn, zwölf Jahren beobachten wir in Deutschland eine Rückkehr des in der Vorkriegszeit hegemonialen liberalen Judentums, das sich in vielen liturgischen Details von der Gemeindeorthodoxie unterscheidet. Es drohten Austrittsgemeinden. Es drohten Parallelverbände zum Zentralrat der Juden in Deutschland. Es ist nicht zuletzt dem Vorstand des Zentralrats der Juden in Deutschland unter der Leitung von Paul Spiegel gelungen, diese auseinanderdriftenden Tendenzen aufzuhalten und zu einem gedeihlichen Miteinander von Liberalen und Orthodoxen zu führen.

    Müller: Was heißt das im praktischen Alltag, als Jude liberal zu sein?

    Brumlik: Das heißt, dass man, wenn man dann betet, andere Liturgien hat. Bei den Liberalen zum Beispiel werden auch Frauen zur Tora aufgerufen. Es gibt auch Rabbinerinnen. Ein Teil der Gebete wird in der Landessprache gesagt, also nicht nur auf Hebräisch, sondern in den USA auf Englisch, in Deutschland auf Deutsch.

    Müller: Und inwieweit unterscheidet sich diese Haltung gegenüber den führenden Strömungen in anderen Ländern?

    Brumlik: Das ist ganz unterschiedlich. In den USA ist das liberale, das konservative Judentum sogar die überwiegende Strömung. Hier ist es nach wie vor so, dass die in der unmittelbaren Nachkriegszeit gegründeten Gemeinden vor allem orthodox eingestellt gewesen sind. Das beginnt sich – ich sagte es – allmählich zu ändern.

    Müller: Herr Brumlik wenn wir nach vorne schauen, wer soll Nachfolger werden von Paul Spiegel?

    Brumlik: Ich will jetzt nicht über Personen reden, aber ich glaube es sollte auf jeden Fall eine Person, ein Mann oder eine Frau sein, die gegen Ende des Krieges oder vielleicht bereits nach dem Krieg geboren ist, die sich selbst sehr bewusst mit ihrem Verhältnis zu Deutschland im Guten wie im Schlechten auseinandergesetzt hat und die begreift, dass die Zeit der Erinnerung und des Gedenkens zwar nicht vorbei ist, dass aber nun auf die alles in allem doch sehr kleine jüdische Gemeinschaft in Deutschland ganz neue Zukunftsaufgaben zukommen. Wenn es hoch kommt, werden es in den nächsten Jahren alles in allem 200.000 Jüdinnen und Juden in Deutschland sein. Schon alleine die Muslime zählen bald auf vier Millionen. Die Juden sind eine kleine, aber symbolisch bedeutsame Gemeinschaft, aber sie müssen die Aufgabe ergreifen, ein neues Selbstverständnis in einer multikulturellen Gesellschaft auszubilden. Sie müssen auch als religiöse Minderheit sich an den Debatten um einen kulturellen Raum Europa sehr wesentlich beteiligen. Und sie werden deutlich machen können, wie groß doch der Anteil des Judentums an der westlichen Kultur ist.