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Buch der Woche
Die Untiefen weiblicher Seelenzustände

Die israelische Schriftstellerin Zeruya Shalev schafft es auch in ihrem neuen Roman "Schmerz" wieder, die Obsessionen ihrer Hauptfigur in Sätze zu kleiden, die den Wahnsinn kratzen. Was ihr indes nicht immer gelingt, ist, eine Sprache für das Begehren zu finden. Aber auch so bleibt "Schmerz" ein betörend erzählter Liebesroman.

Von Shirin Sojitrawalla | 15.11.2015
    Die israelische Schrtiftstellerin Zeruya Shalev am 20. März 2015 bei einer Lesung in Köln
    Die israelische Schrtiftstellerin Zeruya Shalev am 20. März 2015 bei einer Lesung in Köln (dpa / picture alliance / Horst Galuschka)
    Ihr Werk wimmelt nur so von Frauen, die ihren Obsessionen nachlaufen wie verliebte Mädchen ihren Idolen. Am Rande des Nervenzusammenbruchs bewegen sie sich durch ihren Alltag wie durch einen Fiebertraum. Das war schon in ihrem ersten Roman "Liebesleben" so und verhält sich auch in ihrem neuesten "Schmerz" nicht anders. Dabei lotet die israelische Schriftstellerin Zeruya Shalev die Untiefen weiblicher Seelenzustände stets aufs Neue aus. Diesmal beherrscht die Schuldirektorin Iris das Geschehen. Sie lebt in Jerusalem, ist mit Micki verheiratet und hat mit ihm zwei Kinder. Zu Beginn des Romans sind beide in der Mitte ihres Lebens angekommen und schlagen sich gemeinsam so durch: durch den Alltag, durch die Arbeit, durch die Liebe. Schlafen tun sie längst die meiste Zeit in getrennten Betten. Das könnte und würde vermutlich immer so weiter gehen, träfe Iris nicht ebenso zufällig wie schicksalhaft auf ihre große Jugendliebe Eitan. Er verließ sie im zarten Alter von 17 Jahren aus heiterem Himmel. Jetzt steht er wieder vor ihr und es kommt, wie es kommen muss. Sie verlieben sich abermals, beginnen sich zu treffen, heimlich. Dabei steht Iris den vorherigen Frauenfiguren von Shalev in nichts nach: überspannt, nervös und überemotional reagiert sie auf die unverhoffte Wiederbegegnung:
    "Außer ihr ist niemand mehr in der Ambulanz, als wäre der Schmerz in der Zeit, in der sie geschlafen hat, aus der Welt verschwunden, nur aus der Notaufnahme klingt erschreckender Lärm herüber. Vielleicht sollte sie dorthin gehen, nicht zum Parkplatz, sie hat das Gefühl zu glühen, ihr Hals tut weh, ihre Zähne klappern und ihr Körper verwandelt die Kälte, die er aufgesogen hat, in eisige Hitze und glühende Kälte, und sie stolpert zum Auto, lässt den Motor an und schaltet die Heizung ein, schaut durch die dunklen Fenster hinaus. Schwarze Hitze hüllt sie ein, die Hitze einer Sommernacht, an deren Ende kein Morgen wartet, und sie holt ihr Handy aus der Tasche, dem sie schon vor Stunden den Ton abgestellt hat, zahllose Anrufe erwarten sie, Nachrichten, E-Mails, ihre Stellvertreterin hat fast jede Stunde angerufen, Ruthi vom Rathaus, Arie aus dem Schulamt, Lehrer, die Inspektorin, Dafna, Prashant im Namen ihrer Mutter, Micki auf seine lakonische Art: Wo steckst Du?, und Omer, der zu Jotam gefahren werden und später abgeholt werden möchte, und dann fragt Micki wieder, ist alles in Ordnung?, und danach begnügt er sich mit einem Fragezeichen, und sie reagiert nicht, denn wenn sie anfängt zu antworten, wird es nicht aufhören, sie möchte nicht antworten, sondern Antworten bekommen, sie holt seine Visitenkarte aus der Tasche und tippt die Telefonnummer in ihr Handy, und statt sie unter dem E seines Vornamens oder dem R seines Nachnamens zu speichern, schreibt sie: Schmerz."
    Die Sehnsucht, aus dem eigenen Leben auszusteigen
    Die Temperatur des Romans bleibt durchweg hoch und Shalev verfolgt ihre Protagonistin mit ihren berühmten atemlosen Stakkatosätzen, die zielsicher voran preschen. An dieser Stelle muss auch die mehrfach ausgezeichnete und fabelhafte Mirjam Pressler erwähnt werden, die Shalevs Worte seit ihrem ersten Roman "Liebesleben" zuverlässig aus dem Hebräischen ins Deutsche übersetzt.
    Iris leidet, seit sie bei einem Terroranschlag verletzt wurde, unter posttraumatischen chronischen Schmerzen. Ihre Jugendliebe Eitan arbeitet als Arzt in einem Krankenhaus; dass er nun ausgerechnet Schmerztherapeut sein muss, wirkt zwar heillos konstruiert, fügt sich aber in das ohnehin überirdisch erlebte Wiedersehen der beiden. Der Roman nimmt dabei durchgehend die Perspektive von Iris ein. Aus ihrem Kopf erleben wir, was geschieht. Ihre Geistesgegenwart bestimmt diesen Roman. Dabei lebt und liebt Iris durchaus in der Tradition großer Ehebrecherinnen der Literaturgeschichte: Emma Bovary, Effie Briest, Anna Karenina. Für sie alle stellte der Ehebruch auch einen Bruch mit den Konventionen dar und damit auch einen unerhörten Akt der Emanzipation. Iris hingegen muss im Gegensatz zu ihren Kolleginnen aus dem 19. Jahrhundert weder den Tod fürchten noch wählen, sondern könnte sich lässig und selbstbewusst, ohne all zu viele Widerstände der Außenwelt zu überwinden, für ein neues Leben an der Seite ihrer Affäre entscheiden. Die Sehnsucht, aus dem eigenen Leben auszusteigen wie aus einer ins Stocken geratenen Trambahn - nie war sie wohl weniger umständlich zu verwirklichen als heute. Dass sich hinter dieser Freiheit der überall lauernden Optionen womöglich eine andere, neue Art der Sklaverei verbirgt, dürfte sich mittlerweile herumgesprochen haben. Sven Hillenkamp etwa spricht in seinem Buch "Das Ende der Liebe. Gefühle im Zeitalter unendlicher Freiheit" davon, dass die freien Menschen permanent werden müssten, um zu sein. Er schreibt: "Sie werden ausgelöscht von jedem Stillstand, jeder Wiederholung." Darum weiß auch Shalev, ihr neuer Roman erzählt davon en passant.
    Schwülstige Metaphernflut für eine literarische Stilblütensammlung
    Dabei versteht sie es meisterhaft, die Obsessionen ihrer Hauptfigur in Sätze zu kleiden, die den Wahnsinn kratzen und sich immerzu wild im Kreis drehen. Was ihr indes nicht immer gelingt, eine Sprache für das Begehren zu finden. Die Sexszenen stöhnen zuweilen unter einer derart schwülstigen Metaphernflut, dass man sie liebend gerne an Rainer Moritz und seine literarische Stellensuche und Stilblütensammlung "Wer hat den schlechtesten Sex?" verweisen möchte. Eine Kostprobe:
    "Jetzt trägt er sie auf den Händen ins Schlafzimmer und zieht ihr den Morgenrock aus, und es gibt nichts zwischen seiner kühlen Haut und ihrer glühenden, zwei Klimazonen treffen aufeinander, zwei Kontinente, von einem einzigen Sturm gepackt, über denen eine schwere Hagelwolke in einer Lichtexplosion zerspringt. Das ist ein Zusammenstoß, der Blitz erzeugt, und Donner, der über den Himmel rollt wie ihre Stimme, die wieder und wieder erklingt, mein Liebster, mein Liebster, die Worte, die sie ihm sagen will, hören nie auf und jedes einzelne Wort möchte unzählige Male wiederholt werden, nur in einem Satz, der so lang ist wie ihr Leben(...)."
    Dabei handelt es sich bei Shalev um kein grundsätzliches Unvermögen, eine solche Szene sprachlich in den Griff zu bekommen. In früheren Romanen hat sie schließlich bewiesen, dass sie es kann. Diesmal aber nimmt ihr Faible, die Gefühlsregungen ihrer Figuren pathetisch aufzuladen mitunter überhand. Manche Sätze sind, bei aller Liebe, blanker Tand, und die Mutterliebe zuweilen schwer vom Mutterkitsch zu trennen. Das meiste, was den Figuren von Shalev geschieht, geschieht ihnen mit alttestamentarischer Wucht. Das ist in allen Büchern der Autorin so. Nicht selten lässt die studierte Bibelwissenschaftlerin Zeruya Shalev ihre Figuren den Himmel anrufen, und im neuen Roman zelebrieren sie den Beischlaf schon mal wie ein Gebet. Auch die Wiederbegegnung mit ihrer Jugendliebe besitzt für Iris quasi religiösen Charakter, was auch der Einmaligkeit der damaligen Erfahrung geschuldet sein mag. "Es ist eine alte Geschichte/Doch bleibt sie immer neu", wusste schon Heinrich Heine und auch Navid Kermani erzählt in seinem Buch "Große Liebe" von der absoluten Heiligkeit profaner Verliebtheit in jungen Jahren. Shalev beschäftigt sich mit den Spätfolgen einer solchen großen Liebe. Bei ihr gesellt sich zur Jugendliebe der erwachsene Ehebruch. Dabei gehört es zu einem solchen Roman unserer Tage, dass er die digitalen Möglichkeiten der Gegenwart berücksichtigt. Im Gegensatz zu Emma Bovary oder Anna Karenina kämpft Iris auch gegen mannigfaltig lauernde digitale Fallstricke, die den Seitensprung wie die eheliche Geheimniskrämerei erschweren:
    Die Obsessionen verschieben sich
    "Deshalb muss sie dringend eine Nachricht an ihre Tochter schicken, bevor sie aus dem Auto steigt, meine Tochter, wird sie schreiben, ruf mich an, wenn du wach bist, ich werde sofort kommen, wir müssen miteinander sprechen, aber ihre Finger wühlen in der Tasche, ohne das Handy zu entdecken, zornig kippt sie den ganzen Inhalt auf den Beifahrersitz. Viele nützliche und überflüssige Gegenstände fallen heraus, Schmerztabletten, Kaugummi, Paranüsse, Einkaufslisten, die Sonnenbrille, die sie wochenlang gesucht hat, ein offener Lippenstift, Watte, Bleistifte, gelbe Klebezettel und Handcreme, Sonnenschutzcreme, zerknitterte Formulare, aber ihr lebenswichtiges Handy liegt wahrscheinlich auf der Anrichte in der Küche, deshalb kann sie Alma keine Nachricht schicken, und was noch schlimmer ist, jetzt ist sie Mickis Neugier ausgesetzt. Mit einem einzigen Klick kann er herausfinden, wo sie gestern Abend war, sogar ohne einen Klick, mit einem zufälligen Blick auf das Display könnte er eine neue Nachricht entdecken, die man, auch wenn man sie nicht absichtlich sucht, nicht übersehen kann."
    Die Leser erfahren nicht, ob Micki das Handy seiner Frau observiert. Ebenso unaufgeklärt bleibt der immer mal wieder im Roman stehende Verdacht, auch Micki hätte es sich außerehelich gut gehen lassen. Diese Unsicherheiten bereichern den Roman wie auch die allmähliche Verschiebung seines Fokus. Gelten die Obsessionen von Iris zu Beginn noch beinahe ganz und gar ihrer Jugendliebe Eitan, verlagern sie sich immer mehr zu ihrer manisch ausgelebten Sorge um ihre Tochter Alma, die in Tel Aviv in die Fänge eines sonderbaren Gurus geraten zu sein scheint, der sie zu manipulieren versteht.
    "Wieder geht sie hinaus auf die Straße, die feuchte Luft schlägt ihr ins Gesicht wie ein alter Putzlappen, und die Abgase kratzen ihr in den Hals, sie geht zum Parkplatz, aufgeregt, weil sie ihn bald sehen wird, die Hitze macht ihr nichts aus, auch nicht die bedrohlichen Nachrichten, die sie im Autoradio erwarten, auch nicht die überteuerte Parkgebühr, und während sie das Auto zu dem Hotel navigiert, in dem ausgerechnet heute eine Konferenz zum Thema neuralgische Schmerzen stattfindet, begreift sie plötzlich, dass sie genau das Gleiche empfindet, wie ihre Tochter es jetzt empfindet. Dieser Mann, der Besitzer einer Bar im Süden der Stadt, hat sie aus der Eintönigkeit ihres Alltags befreit und ihr eine Alternative geboten, einen akrobatischen Sprung über die Realität ihres Lebens, nicht auf einem Fernsehbildschirm oder einen Computer, sondern eine Achterbahn aus Nächten und Tagen, und davon ist sie abhängig, sie ist wie hypnotisiert von der aufregenden und schrecklichen Vielfalt, die sie plötzlich in sich entdeckt hat, von ihrem anderen Gesicht, das sie nicht im Spiegel gefunden hat."
    Die Schrecken einer Einberufung in Israel
    Für Iris bedeutet das, dass ihr Dasein als Liebhaberin mit ihrer Rolle als Mutter kollidiert, auch weil sie sich außerstande fühlt, zwei Obsessionen und Seelenzustände auf einmal auszuleben. Dabei gehört die psychologische Feinnervigkeit, die Shalev beim Beschreiben der inneren Widerstände und Grenzüberschreitungen ihrer Hauptfigur beweist, zu den Stärken dieses Romans. Shalev begegnet dem Thema Mutterschaft mit demselben Pathos und derselben Herrlichkeit wie der großen Liebe. Es geht ihr um Leben und Tod, darunter macht sie es nicht. Dass Iris untreu werden musste, um sich selbst treu zu bleiben, darauf besteht der Text ebenso wie darauf, dass Selbstaufgabe womöglich zu den vornehmlichen Pflichten wahren Familienlebens zählt. Eltern sorgen für ihre Kinder und die wiederum später für ihre Eltern. Erst pflegen die einen die anderen, dann die anderen die einen. In der Familie des Romans ist die Reihenfolge indes auf den Kopf gestellt, da Iris zehn Jahre bevor der Roman einsetzt, einem terroristischen Attentat zum Opfer gefallen ist und zu einer Zeit pflegebedürftig wurde, als ihre Kinder selbst noch ihrer Pflege bedurft hätten. Auch die Autorin selbst wurde 2004 Opfer eines solchen Terroranschlags, der sie schwer verletzte. Doch wiewohl der Roman erwähnt, dass es sich bei dem Attentäter um einen palästinensischen Polizisten handelte, bleibt die politische Lage des Landes im Hintergrund und wird, wenn überhaupt, nur im Hinblick auf ihren Einfluss auf das Familienleben betrachtet.
    Die für Frauen wie Männer herrschende Wehrpflicht in Israel, eine Erfahrung, die Eltern wie Kinder teilen, zieht sich als Thema durch den gesamten Roman. Die Schrecken, die mit einer Einberufung einhergehen, werden durchaus thematisiert, der Dienst an der Waffe auch in Frage gestellt. Iris hat ihren Vater früh verloren und lebt nun mit der Angst um ihre wehrpflichtigen Kinder Alma und Omer. Einmal steht sie im Flur ihrer Schule und blickt auf eine Steintafel, in die die Namen ehemaliger Schüler eingemeißelt sind, die in den israelischen Kriegen gefallen sind:
    "Seit Omer größer wird, verfolgt sie die Vorstellung, seinen Namen auf einer Gedenktafel zu sehen. Omer Eilam, tauchen die schönen, gut geformten Buchstaben vor ihr auf, senken die Köpfe in unterdrücktem Schmerz, und sie wendet den Blick zu einem neuen Plakat, Eliezer Ben-Jehuda, dem Erneuerer der hebräischen Sprache. Sie hängen einander gegenüber, wie Ursache und Wirkung, und sie steht dazwischen, sterben wir wegen der hebräischen Sprache? (…) Was für verbotene Gedanken, ermahnt sie sich, man könnte annehmen, dass wir eine Wahl haben, es ist nicht die Sprache, es ist die Tatsache unserer Existenz, schließlich haben wir gründlich gelernt, dass wir keinen anderen Platz haben, um zu existieren, auch wenn ab und zu eine solche Illusion aufblitzt. Doch mehr und mehr kommt es ihr vor, dass gerade die Existenz hier, in diesem hebräischen Land, eine Illusion ist, die bald platzen wird, vielleicht nicht in ihrer Generation, vielleicht auch nicht in Almas und Omers Generation, und wieder sieht sie seinen Namen auf der Gedenktafel eingemeißelt,(...) und wieder wandert ihr Blick weiter, hör auf, er hat noch nicht einmal einen Musterungsbescheid bekommen, vielleicht verzichtet man auf ihn, sie ist Kriegsweise, Opfer eines Attentats, vielleicht werden sie ihn von ihrer Liste streichen."
    Das Politische im Privaten offenbart
    Deutlicher wird sie, was die politische Lage und das Existenzrecht Israels betrifft, in diesem Roman nicht mehr, was durchaus symptomatisch ist für ihre Romane, die das Politische lieber im Privaten offenbaren. Die friedliche Koexistenz in Israel bleibt dabei eine Utopie, privat wie politisch. Shalev kreuzt in "Schmerz" einen Liebesroman mit einem Familienroman und naturgemäß verlaufen die Fronten zwischen dem Familien- und dem Liebesleben der Protagonistin. Dabei gehört es zu den Vorzügen dieser Autorin, dass sie den Alltag schildert, wie er ist und nicht, wie er sein sollte. Unerschrocken lotet sie auch den Hass in der Liebe aus, wobei ihr gerade im ehelichen Gezänk solcherart authentische Dialoge gelingen, wie sie auch in diesem Moment die Atmosphäre an so manchem Küchentisch vergiften mögen. Ihren Realismus lässt die Autorin dabei immer wieder in den Wahnsinn ihrer Protagonistin kippen, so dass man sich beim Lesen nicht sicher sein kann, was der Wirklichkeit und was dem Hirngespinst entspricht. Gerade in dieser Mischung, die alle ihre obsessiven Charaktere begleitet, entwickelt der Roman seine soghafte Wirkung. Iris bewegt sich dabei am Rand der Peinlichkeit und darüber hinaus, auch das ein Wesenszug, den sie mit den anderen großen Frauengestalten Shalevs teilt.
    Diesmal verliert Iris die Kontrolle über ihr Leben, ihre Gefühle und ihren Alltag. Sie verliert sich in ihrer Wiederbegegnung mit Eitan und doch lässt Shalev nicht zu, dass sie nur in rosaroten Gefühlen badet. Zwar beginnt sie erst süßlich und passgenau, aber bloß um dieser Liebe im richtigen Moment die Schlinge um den Hals zu legen. Für die unüberwindbar scheinende Fremdheit zwischen neu formierten Paaren findet Shalev im Gegensatz von Fleischessern und Vegetariern ein geniales Sinnbild, das den Roman zu einer seiner brillantesten Szenen verführt. Iris ist mit Eitan zum Essen verabredet, aber als das Mahl gebracht wird, weicht sie, die seit 20 Jahren vegetarisch lebt, vor den dargebotenen Fleischgerichten zurück:
    Eine einprägsame verstörende Liebesszene
    "Ich habe nicht gedacht, dass du noch so primitiv bist, bemerkt sie schließlich, sie kann sich nicht zurückhalten, diese Tiere haben gelebt, wie du und ich! Wie kannst du sie essen?, und er schlägt zurück, dann geh doch zurück zu deinem Mann, wenn dich das so stört, faucht er, während sich seine Kiefer ununterbrochen bewegen, und als er einen Schluck Arrak nimmt, sieht seine Mundhöhle schwarz und hohl aus. Ich habe ihn noch nicht verlassen, sagt sie, und sein Gesicht kommt näher, natürlich hast du ihn verlassen, sagt er entschieden, sonst wärst du nicht hier. Seine Augen, die sogar in der Dämmerung leuchten, bohren sich in ihre, du kommst zu mir zurück, sagt er lächelnd, schiebt sich ein Stück Fleisch zwischen die Lippen und kaut trotzig, dann hebt er ihr Kinn und leckt ihr die Lippen, bis ihr Mund sich öffnet und sich mit dem längst vergessenen, ekelhaften Geschmack von gebratenem Blut füllt, und erschrocken spürt sie den Geschmack des Fleischstücks, das in ihren Mund geschoben wird, sie versucht vergeblich, sich vom Druck seiner Lippen zu befreien, sie schafft es auch nicht, das Fleischstück zurückzuschieben, ihr Magen dreht sich um und ihre Lungen werden leer, bis ihre Widerstandskraft nachlässt und sie schluckt, mit dem Gefühl einer brennenden Niederlage, und erst dann lässt er sie los."
    Der Irrsinn dieser Szene liegt auch in ihrer sexuellen Aufgeladenheit. Das Begehren stürzt hier in den Ekel und gebiert dabei eine große verstörende Liebesszene, die zu den einprägsamen Begebenheiten der Literatur zählt: Humbert Humbert, wie er in aller Eindringlichkeit versucht, ein Staubkorn aus Lolitas linkem Auge zu lecken, Joey aus Jonathan Franzens Roman "Freiheit" und wie er in den Würsten der Toilettenschüssel nach seinem Ehering fahndet oder auch Oskar Matzerath und Maria und ihr mit Spucke aufgelöstes Brausepulver im Bauchnabel. Unerhörte Ereignisse der Literatur, die einem, einmal gelesen, nicht mehr aus dem Kopf gehen. Damit soll jetzt aber keineswegs behauptet werden, dass Shalev ein Jahrhundertroman wie "Lolita" oder "Die Blechtrommel" gelungen wäre. Nein, das nicht. Aber doch ein betörend erzählter Liebesroman, der sich konsequent in ihr bisheriges Werk fügt.
    Zeruya Shalev: "Schmerz", übersetzt von Mirjam Pressler, Roman, Berlin Verlag, 380 Seiten, 24 Euro