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Buch der Woche
Ein Denkmal für Ernst Toller

Der Schriftsteller Ernst Toller gehört zu jenen, deren Namen man vielleicht noch kennt, mit denen man aber kein konkretes Werk mehr verbindet. Dabei galt der linksgerichtete Intellektuelle in der Zwischenkriegszeit als das "Wunderkind des Deutschen Theaters". Eine kritische Ausgabe aus dem Wallstein Verlag hat sein Werk wieder zugänglich gemacht.

Von Eberhard Falcke | 26.04.2015
    Der deutsche Schriftsteller Ernst Toller (1893-1928) bei einem Vortrag in New York, aufgenommen am 7.4.1938.
    Der deutsche Schriftsteller Ernst Toller (1893-1939) bei einem Vortrag in New York (dpa / picture alliance / UPI)
    Ernst Toller ist wiederauferstanden. Jedenfalls dann, wenn Worte das Leben sind, und nichts anderes bedeuten sie schließlich für die Literatur. Ganz abgesehen davon, dass er selber gelegentlich zu biblischen Anspielungen neigte und manche seiner Erfahrungen bildhaft zu Ereignissen aus dem Leben Jesu in Beziehung setzte. Hundert Jahre ist es her, dass Toller 1914 mit zwanzig Jahren in die bewegte, grausame Geschichte des 20. Jahrhunderts eintrat, nicht einfach als Zeitgenosse unter vielen, sondern als Akteur und mehr noch als Aktivist des Wortes, der an so vielen Schaltstellen tätig war, wie selten einer: Sei es im alltäglichen Kampf um Gerechtigkeit oder an der revolutionären Front; sowohl in Gedichtbänden als auch auf avantgardistischen Theaterbühnen; in Bürgersalons ebenso gut wie an Rednerpulten, auf Zeitungsblättern oder im noch jungen Hörfunk. Und sechsundsiebzig Jahre ist es her, dass er zermürbt vom üblen Lauf der Geschichte 1939 im amerikanischen Exil seinem Leben ein Ende setzte. Lion Feuchtwanger schrieb damals:
    "Mein Freund Ernst Toller hatte zu viel Herz für die anderen, um an sein eigenes Werk zu denken. Wenn einer, dann war er eine Kerze, die, an beiden Enden angezündet, verbrannte."
    Tatsächlich, wenn Ernst Toller an ein Werk gedacht haben sollte, dann war es ihm wohl kaum allein um das gegangen, was Platz zwischen Buchdeckeln findet. Trotzdem sind es nun Buchseiten, die ihn heute vor unseren Augen wieder lebendig werden lassen, und zwar so lebendig, so vollständig und facettenreich wie es ihn in gedruckter Gestalt noch niemals gab. Und das will etwas heißen, denn die Schauplätze auf denen Toller Spuren hinterließ und von denen er gezeichnet wurde, waren wahrhaft zahlreich und von verschiedenster Art. Begeistert wie viele andere hatte er sich trotz schmächtiger Erscheinung bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs als Freiwilliger gemeldet. Und plötzlich lag er, der gerade noch in Grenoble studiert hatte, den Franzosen im Schützengraben gegenüber.
    "Hurra! schreie ich."
    "Ich starre durchs Scherenfernrohr. Eine rote Fieberwelle überspült mein Hirn, mein Herz trommelt, die Hände zucken. In der Luft hohles Gurgeln, drüben steigt eine braune Staubsäule auf.Die Franzosen stieben auseinander, nicht alle, etliche liegen am Boden, Tote, Verletzte.
    -Volltreffer! ruft der Leutnant.
    -Hurra! schreit der Telephonist.
    -Hurra! schreie ich."
    Die große Erneuerung, die sich gerade fortschrittliche Geister vom Ausbruch des Krieges erhofft hatten, stellte sich dann erst an dessen Ende ein, durch Volkszorn und revolutionäre Empörung über die Kriegsherren, die ihre Völker verheizten. Ernst Tollers Weg als politischer Akteur begann, als er nach dem Vorbild des Sozialisten Kurt Eisner, in München an der Organisation von Streiks der Rüstungs- und Munitionsarbeiter mitwirkte. Nach Ausrufung der Münchner Räterepublik am 7. April 1919 wurde Toller zunächst Vorsitzender des Revolutionären Zentralrats und danach Abschnittskommandeur der Roten Truppen bei Dachau. Doch obwohl diese sozialistische Revolution nur eine Episode von zwei Wochen blieb, wurden zumindest auf dem Papier schon umwälzende Veränderungen vorbereitet. Für nicht wenige der Aufrufe und Verordnungen zeichnete Toller persönlich verantwortlich, wie zum Beispiel für dieses Flugblatt, das im Zeichen eines neuen Kulturverständnisses einen "Feierabend des Aktionsausschusses der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte" im Deutschen Theater ankündigte.
    "Arbeiter! Soldaten! Bauern!
    Jahrhunderte standet Ihr mit sehnsüchtigen Augen vor den Fenstern erleuchteter Festsäle, in denen Gepflegte und Wohlgekleidete die Kunst wie ein Privileg ihres Geldsackes für sich in Anspruch nahmen. Und für die meisten von ihnen war die Kunst nichts als eine Modesache, die man kauft wie ein paar seidene Strümpfe. Kunst aber ist gestalteter Wille zum Mensch-Sein! Ihr seid Menschen!"
    Als sich das Blatt unter dem Ansturm von Regierungstruppen und Freicorps gewendet hatte, wurde der Revolutionär zum Hochverräter degradiert und auf seinen Kopf eine Prämie von 10.000 Mark ausgesetzt. Es dauerte nicht lange und Toller wurde in seinem Versteck hinter der Tapetentür eines schwabinger Malerateliers entdeckt.
    "Gewißheit, sie finden dich. Gleich ist es aus. Ich höre, wie die Männer wieder ins Zimmer kommen. Ich stoße die Tür auf, sehe Kriminalkommissare, Soldaten, sage ohne Erregung: 'Sie suchen Toller, ich bin’s!' Soldaten fallen auf die Knie, richten die Gewehre auf mich, entsichern, Finger am Abzug."
    Die Genauigkeit und derzeit größtmögliche Vollständigkeit der neuen Werkausgabe, die im Auftrag der Ernst-Toller-Gesellschaft entstand, sind bewundernswert und schlichtweg erstaunlich. Schon beim Durchblättern sieht man ihr an, wie viel sorgfältige Editionsarbeit für die schriftliche Wiederauferstehung dieses nach wie vor beeindruckenden und menschlich gewinnenden politischen Schriftstellers aufgewendet wurde. Die Mitglieder des 15-köpfigen Herausgeberkollegiums geben in Erläuterungen zur Textgeschichte, in Variantenverzeichnissen, Stellenkommentaren, Nachworten und Literaturhinweisen umfassende Informationen und Analysen zu jedem einzelnen Text.
    Für die akademische Auseinandersetzung mit Toller wird damit eine zuverlässige und materialreiche Grundlage geboten, aber auch die interessierte Leserschaft muss vor dieser Fülle nicht erschrecken. Denn solch imponierende Gründlichkeit entspricht nicht nur den wissenschaftlichen Gepflogenheiten, sie hat im Falle Tollers auch einen besonderen Sinn. Schließlich umfassen seine Schriften zwei Dimensionen, die aufs engste verschränkt sind: Spiegelt sich doch in den Dramen, Versen und Erzählungen seine Zeiterfahrung nicht weniger als in den oft dezidiert politischen Reden, Aufsätzen und autobiografischen Texten. Das heißt, die Werke und Zeitzeugnisse stehen in enger Korrespondenz. Daher ist es eine völlig konsequente Entscheidung in aparter Erweiterung des Werkbegriffs sogar die Protokolle der Verhöre, denen Toller von der Obrigkeit unterzogen wurde, in diese Ausgabe aufzunehmen. Sie folgen gleich auf den Abdruck seiner Interviews als Dokumentation jener Äußerungen, die er nicht als Gefragter, sondern als Beschuldigter abgab. Nach der Niederschlagung der Münchner Räterepublik wurde er zur Vorbereitung des Standgerichtsprozesses mehrmals über die Einzelheiten seiner Beteiligung verhört.
    Er lernte Thomas Mann, Rainer Maria Rilke, Frank Wedekind kennen
    "Auf Vorhalt, weshalb er trotz der Erkenntnis der Unhaltbarkeit und der furchtbaren Folgen des kommunistischen Räteregiments bis zuletzt im Dienste dieses Regiments sich betätigt habe, erklärt der Angeschuldigte: Ich habe mich lediglich aus dem Grunde unter der kommunistischen Räteregierung weiterbetätigt, um Schlimmeres zu verhindern und weil es für mich nicht darauf ankam, die jeweilige Regierung zu stützen, sondern im Interesse des werktätigen Volkes zu arbeiten."
    Diese neue Werkausgabe zeigt Toller gleichsam an allen Wirkungsstätten seines Lebens und das mit der größten Schärfentiefe. Geboren wurde Ernst Toller im Jahr 1893 in Samotschin in der damaligen preußischen Provinz Posen als Sohn einer deutsch-jüdischen Kaufmannsfamilie. In Grenoble begann er kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges ein Studium der Rechte und der Literatur; nach seiner Beurlaubung vom Kriegsdienst wegen Krankheit schrieb er sich in München wieder für die gleiche Fächerverbindung ein. Er lernte die Literatenszene kennen, Thomas Mann, Rainer Maria Rilke, Frank Wedekind, er schrieb Gedichte und träumte von Dichterruhm. Bald jedoch wurde er erneut von den Erinnerungen an die Kriegserlebnisse überfallen und es wuchs die Empörung darüber, dass die Regierenden immer mehr Menschen in den Tod schickten. Bestärkt durch die Bekanntschaft mit dem großen Soziologen Max Weber kam Toller mit anderen Studenten zu der Überzeugung, dass ein Aufbruch der Jugend notwendig sei. Man gründete den pazifistischen, gegen soziale Ungerechtigkeit gerichteten "Kulturpolitischen Bund der Jugend in Deutschland". Schon dadurch gerieten Toller und seine Mitstreiter mit nationalen und den sogenannten vaterländischen Kräften aneinander und als er sich an der Organisation von Streiks beteiligte, machte er erste Erfahrungen mit der Justiz, die sich in der Folge so unselig vermehrten, dass er 1927 damit ein ganzes Buch füllen konnte. Darin zeigte er anhand vieler Beispiele Missstände auf, etwa die Tendenz zur Klassenjustiz, und warnte vor kommenden Entwicklungen. Im Vorwort schrieb er:
    "In jedem Land, in dem privilegierte Schichten ihr Besitzvorrecht - ihr Besitzunrecht - verteidigen, geschah Gleiches, wird morgen Gleiches geschehen. Europa hat die Zeit seiner geistigen Verfinsterung nicht überwunden. Die Demokratie begann, wie in allen Bereichen, auch im Bereiche des Rechts, ihre eigenen Fundamente zu unterhöhlen und zu zerstören. Die Demokraten mögen nicht jammern, wenn morgen der Faschismus auch sie zum Wilde zählt, das man jagen und hetzen, quälen und morden darf."
    Nach der standgerichtlichen Verurteilung wegen seiner Beteiligung an der Münchner Räterevolution wurde Toller zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Dabei hatte er noch Glück. Berühmte Persönlichkeiten wie Thomas Mann, Max Weber oder Raimond Rolland waren mit Leumundsgutachten für ihn eingetreten. Andere Revolutionäre wie das KPD-Mitglied Eugen Leviné oder Rudolf Egelhofer, der Oberkommandierende der bayerischen Roten Armee, wurden im Zuge der Rachejustiz zum Tode verurteilt und umgehend erschossen.
    In der Festungshaft wurde Toller zu einem prominenten Gefangenen und gleichzeitig begründete er seinen Ruhm als Schriftsteller, von dem er als Student geträumt hatte. Das ist vielleicht das augenfälligste Charakteristikum seiner Biografie: Verfolgung und Erfolg überschnitten sich in seinem Fall so unmittelbar, wie es bei einem politischen Schriftsteller nur sein kann. Ausgerechnet das Gefängnis wurde der Ort, an dem die Mehrzahl seiner bekanntesten Werke entstand, darunter die mit großer Resonanz aufgeführten Dramen "Die Wandlung", "Masse - Mensch", "Die Maschinenstürmer", "Der deutsche Hinkemann" und außerdem der Gedichtband "Das Schwalbenbuch". Mit Rücksicht auf die Vollendung seines Dramas "Hinkemann" verwarf Toller sogar den Plan eines Mitgefangenen, einen Ausgang zum Zahnarzt zur Flucht zu nutzen.
    "Ich kann nicht schlafen, soll ich fliehen, soll ich schreiben, soll ich fliehen, soll ich schreiben? Ich melde mich nicht zum Zahnarzt, mein Freund fährt allein, er flieht, die Flucht gelingt. Am gleichen Tag verbietet das Justizministerium die Reisen zum Zahnarzt."
    "Der deutsche Hinkemann" war, so die Herausgeber der Werke, Tollers erfolgreichstes Bühnenstück. Manche betrachteten es als sein letztes expressionistisches Stück, andere sahen darin sein erstes neusachliches Drama. Es wurde in dreizehn Ländern aufgeführt. Der Protagonist ist ein Anti-Held, ein vom Krieg und dem Zeitgeschehen Verletzter, nicht zuletzt beschädigt in seiner Männlichkeit. Für die nationale Rechte war das Grund genug, bei der Dresdner Aufführung einen der vielen von ihr angezettelten Theaterskandale zu inszenieren. Dazu die Herausgeber in ihrem Nachwort:
    "Vor allem national und nationalsozialistisch gesinnte Oberschüler und Korpsstudenten hatten sich in einer konzertierten und mit Flugblättern beworbenen Aktion rund 800 Premierenkarten gesichert, um die Aufführung zu stören. In der Mitte des ersten Akts musste das Stück unterbrochen werden; im zweiten Akt sangen die Störer das Deutschlandlied, der zweite und dritte Rang antwortete mit der Internationalen."
    Natürlich war Toller umstritten
    Ernst Toller war zweifellos eine Kämpfernatur aber bestimmt kein rigoroser, selbstgerechter Klassenkämpfer. Menschliches Gerechtigkeitsempfinden ging ihm über jede Parteidogmatik. Da ihm schon seit Kindheit eine körperliche und psychische Anfälligkeit eignete, bekam er es häufig mit Ärzten zu tun. Nach seiner ersten Festnahme wegen der organisatorischen Beteiligung an den Anti-Kriegs-Streiks veranlasste seine besorgte Mutter eine nervenärztliche Begutachtung durch den prominenten Psychiater Emil Kraepelin, der ihm Erregbarkeit, Begeisterungsfähigkeit, Kritiklosigkeit und Eigensinn attestierte, was als schuldmindernd ausgelegt wurde. Da dieser Kraepelin aber stramme deutschnationale Positionen vertrat, fiel Tollers Beurteilung im umgekehrten Fall weniger entlastend aus.
    "Ich lerne, daß es zwei Arten Kranke gibt, die harmlosen liegen in vergitterten Stuben und heißen Irre, die gefährlichen weisen nach, daß Hunger ein Volk erzieht und gründen Bünde zur Niederwerfung Englands, sie dürfen die harmlosen einsperren."
    Es verbietet sich, Tollers Urteilsvermögen im Licht psychiatrischer Gutachten zu beurteilen. Dennoch springen seine Abweichungen von der dickfelligen Normalnullexistenz auch in seinen Schriften und Lebenszeugnissen ins Auge, dort aber als besondere Qualität. Seine humane Empfindlichkeit machte ihn empfänglich für Ungerechtigkeiten und die Nöte anderer, seine Dünnhäutigkeit ließ ihn zum Seismografen in den Konflikten der Zeit werden. So wenig er zu starrem Dogmatismus neigte, so sehr hielt er doch an seinen Grundsätzen fest, auch wenn es ihn teuer zu stehen kam.
    Natürlich war Toller umstritten, sowohl auf der Linken wie im bürgerlichen Lager. Harry Graf Kessler etwa begegnete dem Revolutionär Toller mit ebenso großer Reserve wie dem Dramatiker; Max Weber attestierte seinem ehemaligen Schüler einerseits "absolute Lauterkeit der Absichten", andererseits "Weltfremdheit und Unkenntnis der politischen und wirtschaftlichen Realitäten". Auf der politischen Gegenseite waren bei den ständigen Richtungskämpfen des sozialistischen Lagers Kontroversen und Ehrabschneidereien ohnehin an der Tagesordnung. Diese mit bitterer Inbrunst ausgetragenen Flügelkämpfe ums linke Recht haben karikierte Toller in seiner dramatischen Szene "Deutsche Revolution". Wesentlich komplexer war jedoch die Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit es legitim sei, zur Veränderung der Gesellschaft Gewalt einzusetzen. Mit diesem Problem war Toller während der Räterevolution in München konfrontiert worden, zwei Jahre später widmete er dem Thema sein Stück "Masse - Mensch". Darin dramatisierte er den Widerspruch zwischen dem einzelnen Menschen als moralisch Handelndem und dem Menschen als Teil einer von den zeithistorischen Strömungen bewegten Masse. In einem späteren Aufsatz erklärte er dazu:
    "Als Individuum handelt jeder nach der als recht erkannten moralischen Idee. Als Masse wird er getrieben von sozialen Impulsen und Situationen. Dieser Widerspruch ist heute noch für den politisch Handelnden unlöslich, und gerade seine Unlöslichkeit wollte ich zeigen."
    Wolfgang Frühwald, der Herausgeber der ersten Toller-Werkausgabe von 1978, bezeichnete die in der Festungshaft entstandenen Dramen als "Fortsetzung der Revolution mit literarisch-theatralen Mitteln". Toller selbst nannte die neu entwickelte expressionistische Theaterbühne, auf der auch seine Stücke gespielt wurden,
    "eine Tribüne zeitlichen Geschehens, umwogt vom Streit und Widerstreit der Öffentlichen Meinung".
    Seine Dramen gehörten zu den prägenden Werken für das Theater der Weimarer Republik und manche ihrer Aufführungen wie die von "Hoppla, wir leben!" im Jahr 1927 durch Erwin Piscator wurden exemplarisch für neue Stilformen und Techniken des Inszenierens.
    Symbolfigur als undogmatischer Sozialist
    In den Zwanzigerjahren war Toller eine Symbolfigur als undogmatischer Sozialist mit Revolutionserfahrung, als viel beachteter Dramatiker und Publizist. Als die Nazis 1933 an die Macht kamen, gehörte er zu den ersten, die sie loswerden wollten. Zu den 33 Namen auf der Liste von Personen, denen die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt wurde, gehörte auch der seine. Von da an wurde er außerdem noch zu einer der Symbolfiguren des deutschen Exils. Toller reiste durch die Welt, hielt Reden, gab Interviews, schrieb Aufsätze, nahm an Kongressen teil, mal auf Deutsch, mal auf Englisch oder Französisch. Und tatsächlich, da haben die Herausgeber der neuen Ausgabe recht: Auch diese Texte gehören zu Tollers Werk, auch wenn ihnen kein Platz in der Literaturgeschichte gebührt. Denn sein Bemühen, durch Reden und Schreiben dem breiten Vormarsch von Faschisten, Nationalsozialisten und spanischen Falangisten entgegenzutreten, gehört unbedingt zur Physiognomie und zum Wirken dieses Schriftstellers, der sich auch unter den Engagierten als ein ganz Besonderer hervorhob. Fast überall mischt sich in seinem Stil die Atemlosigkeit der Zeitgenossenschaft mit den hohen Tönen des Idealismus und der Schärfe der Konfrontation. Darum wurden mit gutem Grund auch sämtliche greifbaren literarischen, publizistischen und autobiografischen Schriften in die neue Werkausgabe der Ernst-Toller-Gesellschaft aufgenommen. Sie bietet damit etwa doppelt so viel Text wie die bisher maßgebliche Ausgabe von Wolfgang Frühwald und John M Spalek. Das entspricht dem Wesen Tollers, für den Kunst und das Ergreifen von Positionen fast ein und dasselbe waren. Anlässlich der Aufnahme in den englischen PEN-Club 1933 formulierte der Exilierte mit seinem Appell zugleich ein Selbstbild des eigenen Handelns.
    "Täuschen wir uns nicht! Die Armeen der Feinde des Geistes wachsen von Tag zu Tag, die einen tragen braune Hemden, die anderen schwarze Hemden, und alle zusammen sind sie Feinde einer helleren und gerechteren Zukunft ... Da hilft nur Eines: Stehe zu Deinen Überzeugungen. Sei tapfer. Bekenne Dich in jedem Werk und in jeder Tat. Überwinde die Furcht, die Dich erniedert und demütigt."
    Die Furcht wusste Toller immer zu überwinden. Die Erschütterung über den üblen Lauf der Dinge allerdings machte ihm mehr zu schaffen, zumal sie noch durch Depressionen verschärft wurde. Gerade als seine große Hilfsaktion für die notleidende Bevölkerung im spanischen Bürgerkrieg vor der Verwirklichung stand, wurde Francos Sieg über die Republikaner gemeldet. Am 22. Mai 1939 erhängte sich Ernst Toller im Alter von sechsundvierzig Jahren an einem Strick, den er immer mit sich geführt hatte. Nun sind jedes Werk und jede Tat, auf die es ihm in seinem Kampf so sehr angekommen war, in der Kritischen Ausgabe aus dem Wallstein Verlag aufs beste zugänglich gemacht und aufbewahrt.
    Ernst Toller: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Im Auftrag der Ernst-Toller-Gesellschaft herausgegeben von Dieter Distl, Martin Gerstenbräun, Torsten Hoffmann, James Jordan, Stephen Lamb, Peter Langemeyer, Karl Leydecker, Stefan Neuhaus, Michael Pilz, Kirsten Reimers, Christiane Schönfeld, Gerhard Scholz, Rolf Selbmann, Thorsten Unger und Irene Zanol. Wallstein Verlag, Göttingen 2015. 6 Bände, 4304 Seiten, 289 Euro.