Sonntag, 07. April 2024

Archiv

Buch der Woche
Eine leichte, bessere Welt ist nicht im Angebot

Mit "Script Avenue" ist dem Schweizer Schriftsteller Claude Cueni ein üppiges, überbordendes, gleichzeitig aber auch trauriges und hartes Buch gelungen, dessen Figuren einen nach der Lektüre nicht so schnell verlassen. Es lässt sich als unterhaltsamer Bildungsroman begreifen, in der Substanz aber fährt es mit nachgerade antikischer Wucht auf den Leser nieder.

Von Florian Felix Weyh | 12.04.2015
    Der Schriftsteller Claude Cueni am 16.10.2008 auf der Frankfurter Buchmesse in Frankfurt am Main.
    Der Schriftsteller Claude Cueni 2008 auf der Buchmesse in Frankfurt am Main. (dpa / picture alliance / Uwe Zucchi)
    Von Florian Felix Weyh
    Nehmen wir an, man trifft irgendwann im Leben die große Liebe, die ganz große Liebe. Dann verspricht man sich im Rausch der Verschmelzung womöglich ein gemeinsames Leben bis in den Tod hinein. Nicht so steif und förmlich wie beim kirchlichen Eheschluss, sondern euphorisch-überbordend, mit einem fast suizidalen Unterton: Wir gehen niemals auseinander! Bis zu deinem letzten Atemzug werde ich dich pflegen! Wir sind eins, ein Leben!
    "Wenn ich das Essen servierte, starrte sie minutenlang auf ihren Teller. Einmal nahm sie Gabel und Messer und erhob sich. Ich hatte Angst, sie würde sich, Tim oder mir etwas antun, ihr Blick war so finster. 'Du hast Gabel und Messer vertauscht', raunte sie mit weit aufgerissenen Augen. Ihre Stimme war so tief, als hätte ein böser Geist von ihr Besitz ergriffen. Dann packte sie die Schüssel mit dem Curryreis und schmiss sie ins Waschbecken: 'Ich dulde keinen Schlendrian!', schrie sie. 'Ich verrecke, und du kannst nicht einmal den Tisch decken!'
    'Es ist nicht seine Schuld, dass du Krebs hast', sagte Tim plötzlich. Sein linkes Bein zitterte unkontrolliert.
    'Und ob er schuld ist!', schrie sie. 'Ich wollte nie schwanger werden, aber er ... er wollte immer Kinder.' (...) Sie beharrte darauf, den Krebs bekommen zu haben, weil sie während der Schwangerschaft zu viele Hormone nehmen musste. Und wer war schuld an der Schwangerschaft?
    'Im Grunde genommen hast du mich vergewaltigt', sagte sie eines Nachts und trat mit den Füßen nach mir. 'Ich wollte nie Kinder. Ihr seid schuld, dass ich Krebs habe. Ihr beide solltet Krebs haben, nicht ich.'
    Ich rief am nächsten Tag ihren Onkologen an und bat um Hilfe. Er meinte, das sei ein normales Verhalten, eine Aggressionsdepression. Aber in der Gesellschaft sei dies ein Tabuthema. Und weiter? Das war alles."
    Alles – ist man verführt, die Lakonie ins Sarkastische zu steigern – alles, was von der ganz großen Liebe übrig bleibt, am Ende, wenn das letzte Gesicht eines Menschen sein bösartigstes wird, sich zur gallespuckenden Fratze verzerrt.
    "Tim erzählte mir in der Nacht, dass es tatsächlich Leute gebe, die kurz vor ihrem Tod noch Bäume fällen, weil sie den Überlebenden den Schatten missgönnen. Wenn sie sterben, sollen auch die Bäume mit ihnen sterben. Andrea fällte nicht nur Bäume, sie fällte auch Menschen. Sie verlor innerhalb von zwei Jahren ihren gesamten Freundeskreis."
    Am Anfang einer Liebe steht ein Erlösungsversprechen
    Nicht aber jenen Mann, der sich ihr knapp zwei Jahrzehnte zuvor mit Leib und Seele versprochen hatte. Ein Versprechen oder ein fataler Versprecher? So einem Jawort wohnt potenziell ein faustischer Pakt inne, weil man ja nicht wissen kann, ob der Mensch, den man jung liebt, im Alter oder an Krankheit zerbricht. Doch das Ende gegen den Beginn auszuspielen, wäre unanständig. Denn am Anfang einer Liebe steht ein Erlösungsversprechen, und je zauberhafter sich die Erlöserin ins Leben des zu Erlösenden einführt, desto größer wird ihre Macht über dessen Seele.
    "Sie trat näher an den Schreibtisch und sagte plötzlich: 'Hier riecht es so komisch.'
    'Wirklich?'
    'Ja, hast du eine Katze oder einen Hund?'
    'Nein, wieso?'
    'Da hat jemand auf den Teppich uriniert.'
    'Oh, Urin?'
    'Ich arbeite im Spital, ich weiß, wie Urin riecht.'
    'Oh, vielleicht hat ein Schaf auf den Teppich gepinkelt.'
    'Ein Schaf? Nein, das ist menschlicher Urin. Ich kann das unterscheiden', beharrte sie resolut. 'Ich kann dir sogar sagen, dass der Betreffende zu wenig Wasser trinkt.'
    Eine wortkarge Urin-Schamanin, dachte ich, auch das noch. 'Nun gut', gestand ich schließlich, 'ich habe unter den Tisch gepinkelt.'
    'Oh', machte sie nur.
    'Ich wollte es wirklich nicht, aber ich musste. Es war nicht möglich, mit dem Schreiben aufzuhören. Da standen so viele Leute in der Script Avenue herum und wollten Dialoge. Ich konnte die Tinte nicht mehr halten, und auch nicht das Wasser.'
    'Dann hast du einfach unter den Tisch gepinkelt?' Sie schien fassungslos.
    'Ja, aber wenn ich eine Freundin hätte, würde ich das nicht mehr tun. Ich würde auch ein bisschen aufräumen. Und du würdest keine Socken sehen. Oder fast keine.'"
    Autobiografische Lebensabschlussbetrachtungen
    Es gibt Stellen in der belletristischen Literatur, da fragt man sich unwillkürlich: Wer kann sich das ausdenken? Muss darin, im Gegenteil, nicht ein Quäntchen Wahrheit stecken, womöglich ein gewichtiges Quantum? Der Klappentext verhehlt nicht, dass dieser Roman in weiten Teilen das Leben seines Autors verarbeitet - ein Leben, in das man sich gewiss nicht hineintauschen lassen wollte, dazu gleich mehr. Literatur als Eskapismus in eine leichte, bessere Welt hat Claude Cueni mit seiner "Script Avenue" nicht im Angebot. Dennoch muss das Stichwort fallen, denn Cueni leidet unter einem Stigma: Er hat viel geschrieben, Theaterstücke, Drehbücher, Computerspiel-Scripte, historische Romane. Dummerweise hielt er sich damit kaum an die Distinktionsregel des Feuilletons, die da lautet: Halte Abstand zum Gewöhnlichen! Mit nichts davon gewinnt man den Nobelpreis, dafür aber Leser, Zuschauer, Publikum und last not least auskömmliche Tantiemen. Für anderes ließ ihm seine Biografie keine Option. Doch je weiter sich die Biografie auf eine Situation kompletter Optionslosigkeit hin zuspitzte, desto größer wurde die innere Freiheit. Deswegen ist "Script Avenue" im Kern auch kein Fantasiegebilde, Confessiones legt Claude Cueni da vor, autobiografische Lebensabschlussbetrachtungen, die überraschenderweise im Tonfall und Bau eines Schelmenromans daherkommen. Der Schelm scheint freilich Charles Bukowski gelesen zu haben, wenn er über seine Pubertät als dirty young boy räsoniert:
    "Sah ich eine halb nackte Frau in einer Zeitung, bekam ich eine Erektion. Schaute ich während einer Lateinprüfung gedankenversunken auf eine Mitschülerin, passierte das Gleiche. Es ging all meinen Schulkameraden ähnlich. Wir hatten ständig einen Steifen. Wir zeigten uns gegenseitig im Geografie-Unterricht unsere geschwollenen Penisse und versuchten, das Ding mit dem Schweizer Atlas hinunterzudrücken. Es war alles neu und faszinierend, und das Klassenzimmer stank nach Garum, der Fischsauce der alten Römer. Die Mädchen hielten das kaum aus. Schließlich sandten sie uns eine Friedensdelegation, die uns schonend beibrachte, dass man sich nach beginnender Geschlechtsreifung täglich duschen sollte. Schwerpunkt Penis. Sie mögen jetzt diese Schilderung als übertrieben detailliert oder etwas eklig empfinden, kann ich verstehen, geht mir heute genauso. Aber wenn Sie das nächste Mal einem grau melierten Herrn mit guten Manieren begegnen, denken Sie daran: Bei ihm war es nicht anders. Ich hatte Sie ja gewarnt, es soll ein ehrliches Buch werden."
    "Wahr, aber nicht glaubwürdig."
    "Dieses Buch, Leser, gibt redlich Rechenschaft", beginnt der Urtext der Moderne, jene "Essais", mit denen Montaigne 1580 das literarische Ich erfand. Seither erliegen wir regelmäßig der Verführung durch schriftliche Bekenntnisse, die vom Leben des Verfassers wahrhaft oder zumindest glaubhaft gedeckt werden. Wie bei einer Währung ist Deckung ein unhintergehbares Prinzip von Literatur. Was nicht durch Geist, ästhetische Kunstfertigkeit oder Wahrheit gedeckt wird, bleibt leeres Wortgeklingel. In der Realität zirkuliert allerdings so viel ungedeckte Talmi-Literatur, wie parallel seit John Law das Papiergeld die Welt regiert, Papiergeld, dessen Deckung sich leicht von Regierungen und Zentralbanken herbeischwindeln lässt. Beides ist eine unmittelbare Folge der Buchdruckerkunst, nämlich die Behauptung eines Wertversprechens, das nicht durch den Gegenstand selbst, sondern durch etwas Dahinterliegendes eingelöst wird. Der international erfolgreichste Roman Claude Cuenis "Das große Spiel" hat jenen Papiergelderfinder John Law zum Helden, und also weiß der Autor, dass Deckung essenziell ist. Sein über sechshundert Seiten starkes Opus magnum deckt er mit eigenem Leid ...
    "Meine Geschichte ist wahr, aber nicht glaubwürdig."
    ... freilich eingepackt in sehr viel quicklebendigen Witz. Von der Anlage her lässt sich "Script Avenue" als unterhaltsamer Bildungsroman begreifen, worin der Aufstieg eines unterprivilegierten Kindes zum Schriftsteller erzählt wird. Doch in der Substanz fährt er mit nachgerade antikischer Wucht auf den Leser nieder. Denn die Götter - an ein christliches Exemplar mag der Erzähler nicht glauben -, die Götter haben es nicht gut mit ihm gemeint. Schon in der Kindheit waltete statt mütterlicher Milde ein radikalkatholischer Furor:
    "Meine Mutter mutierte zu einem militanten Talib des Katholizismus und dekorierte die Wohnung mit einem großen Jesusbild, das angeblich das Gesicht des wahren Jesus zeigte. Jetzt mussten wir uns jedes Mal demütig bekreuzigen, wenn wir an diesem Jesusbild vorbeigingen. Der Geßlerhut der Katholiken. Manchmal standen säuerlich riechende Kapuziner in der Wohnung herum und benässten die Wände. Meistens richtete es meine Mutter so ein, dass mein Vater zu Hause war und auf dem Sofa lag und döste. Dann bekam auch er ein paar Spritzer gesegnetes Weihwasser ab. "
    Samuel, das alter ego des Autors, kommt aus dem französischsprachigen Jura. Den deutschen Lesern muss man erklären, dass dieser Schweizer Kanton erst seit 1979 existiert und in einem konfliktreichen Verhältnis zur Restschweiz steht. Jurassier sind gewissermaßen die helvetischen Basken, und ihr Autonomiekampf wurde von nicht wenigen Deutschschweizern als Terrorismus empfunden. Der Jurassier Samuel alias Claude Cueni pflichtet dem bei:
    "Auch wenn es meine grün-roten Freunde nicht wahrhaben wollen: Jurassier kann man nicht integrieren. Sie wollen nicht. Sie hassen unsere Sprache und unsere Sitten. Sie wollen mit uns nichts zu tun haben. Punkt. Und wenn Sie keinen Jurassier integrieren können, wie wollen Sie erst Menschen aus Kulturkreisen integrieren, in denen noch Blutrache, Steinigungen, Massenvergewaltigungen und die Scharia praktiziert werden? Und in schwarzen Tüten rumlaufen hat mein Agent gestrichen."
    "Weiterlesen auf eigene Gefahr"
    Confessiones - immer wieder bricht sich der Erzählfluss an einem störrischen Kommentarbrocken, und solche Brocken lassen sich nicht entfernen - nicht, wenn man Montaignes Motto ernst nimmt:
    "Manchmal stehe ich am Morgen auf und nehme mir vor, den ganzen Tag über ehrlich zu sein. Heute ist so ein Tag. Erwarten Sie also keine Political Correctness, weiterlesen auf eigene Gefahr."
    ... die zunächst klein erscheint. Kaum geboren - wir schreiben Mitte des 20. Jahrhunderts - landet Samuel in einer Holzkiste neben dem Plumpsklo einer schmutzigen Kleinfabrik, die seinem Onkel gehört; die Mutter will ihr Kind nicht haben, und die Tante muss tagsüber in der Fabrik mitarbeiten.
    "Das klingt hart, aber die Kiste war mit einer grauen Militärdecke ausgepolstert und angenehm weich. Ich war auch nie allein. (...) Wenn einer aufs Klo musste, kam er unweigerlich an mir vorbei und strich mir mit ölverschmierten Fingern übers Gesicht. Hatte er sich erleichtert, passierte er erneut meine Kiste und strich mir einige Kolibakterien über die andere Wange. Diese Leute hatten noch nie etwas von Robert Koch oder Louis Pasteur gelesen. Auf jeden Fall war dies der Grundstein für eine solide Immunabwehr."
    Achtung, aufgehorcht: Der letzte Satz ist ein sogenannter McGuffin. Drehbuchautor Cueni kennt diesen von Hitchcock eingeführten Trick, mit einer unscheinbaren Information drohendes Unheil anzukündigen. Signale dieser Art durchziehen das ganze Buch:
    "Integration geht nur über die Straße. Ich meine über die Sprache. Das war wieder die Viertelnachsieben-Pille."
    .... denn der Erzähler ist schwer krank, während er mit seinem Opus magnum ringt: ALL, akute lymphatische Leukämie. Deren Heilungsaussichten beziehen sich in seinem Fall aufs nackte Überleben, nicht auf die Wiederherstellung des gewohnten Zustands:
    "Es ist eine anspruchsvolle Behandlung, und Sie werden Ihr Leben lang kämpfen müssen. Sie werden nie mehr gesund sein", ... sagt ihm der Arzt und meint damit: Die "solide Immunabwehr" wird wegen der Knochenmarkstransplantation lebenslang außer Gefecht gesetzt bleiben. Nicht mal das lässt sich von der Plumpsklo-Kindheit als Gewinn verbuchen. Einer Kindheit mit päderastischen Priestern, einem weiteren Onkel, der als Fremdenlegionär in Algerien Kriegsverbrechen beging und gleichermaßen die Hintern seiner Neffen bevorzugt - von denen sich einer deswegen dann auch umbringt. Beim Erzähler, der inzwischen doch wieder bei den leiblichen Eltern gelandet ist, wird eine leichte Form des Tourette-Syndroms diagnostiziert, und die damit verbundene Ruhelosigkeit kanalisiert sich im Schreiben. "Script Avenue" nennt er seine Fantasiemeile, in die er sich flüchtet, wenn ihm rundherum alles zu viel wird.
    Eine Flucht- und Aufstiegsgeschichte
    "Vielleicht trägt jeder Mensch so eine verborgene Script Avenue in sich. Für mich war es die einzige Möglichkeit, die verhasste Realität zu verlassen. (...) Ich erschuf eine ganze Western-Stadt und knipste die Sonne an. Immer mehr Menschen zogen ein und wurden meine Freunde. Reale Menschen, fiktive Menschen, Menschen aus vergangenen Epochen, Menschen aus der Zukunft. Wenn ich morgens aufwachte, vermisste ich sie alle und wollte am liebsten wieder die Augen schließen und die Mainstreet aufsuchen."
    Ab hier könnte es eine gelungene Flucht- und Aufstiegsgeschichte werden: Wie einer mittels Sprache und Talent seinem tristen Herkunftsmilieu entkommt. Doch die Flucht führt nicht ins Paradies. Gewiss, Samuel betritt - über Freundinnen - sogar die Häuser Schweizer Millionäre, er verdient Geld als Werbetexter, Drehbuchschreiber, Computerspielerfinder, aber die Götter lieben ihn so sehr, dass sie ihn die eigentlichen Prüfungen noch bevorstehen lassen. Mit Samuels großer Liebe Andrea - auch sie aus begütertem Hause - zeugt er einen Sohn, Tim. Bei der Geburt geht etwas schief:
    "Sie gaben ihm Sauerstoff - einen Teil davon direkt ins Gehirn. Tim erlitt einen Infarkt und überlebte steif wie die Kinderleichen von Pompeji, die vor 2000 Jahren in Vulkanasche konserviert worden waren. Es war kaum möglich, seine Arme zu bewegen. Andrea erlitt einen Schock. (...) Ich war entschlossen, es gemeinsam mit Andrea und Tim durchzustehen. Mag sein, dass ich bisher den Eindruck eines bemitleidenswerten Neurotikers hinterlassen habe, aber in Sachen Treue hatte ich stets das Selbstverständnis eines römischen Legionärs: bis in den Tod."
    "Tim würde eines Tages wie ein Wasserfall sprudeln"
    Durchstehen heißt: Den Lebensplan ändern, denn die Spezialbehandlung der spastischen Lähmung des Kindes verschlingt viel Geld. Geld, das man erst herbeischaffen muss:
    "Ich wurde eine Drehbuchhackmaschine, die täglich Figuren aus der Script Avenue herausfischte, für den Plot zurechtschnetzelte und durch die Maschinenwalze drehte. Ich erzählte Tim stundenlang von der Script Avenue und rezitierte Dialoge. Manchmal lächelte er. Als ich eines Tages mit meinem Manuskript eine Fliege erschlug, erschrak Tim und zog die Augenbrauen hoch. Als eine weitere Fliege auf seinem Arm landete, sagte er 'Bam'. Er hatte gesprochen! Wir verloren vor Freude schier den Verstand. Und nach einigen Wochen sagte er 'Bams'. Ich hatte zwei Fliegen auf einen Streich erschlagen. Dass er für sich den Plural erfunden hatte, bestärkte mich in der Überzeugung, dass Tim eines Tages wie ein Wasserfall sprudeln würde."
    ... was er in der Tat tut. Dafür geht parallel Samuels Ehe schief. Vielmehr: Die Partnerin verändert sich nachhaltig. Erst schlägt ihr das kranke Kind aufs Gemüt, dann bekommt sie Krebs. Die Brust wird ihr amputiert, und ihr Charakter verhärtet sich noch mehr. Jahre später, der Sohn gedeiht dank väterlichen Engagements, kehrt der Krebs zurück. Nein, es ist ein neuer, tödlicher Darmkrebs diesmal, und endgültig verwandelt sich die große Liebe des Erzählers in ein bösartiges Geschöpf. Er pflegt Andrea dennoch aufopferungsvoll, obwohl ihre Sterbeverdrängungsprojekte immer bizarrer und immer teurer werden:
    "Eines Nachts weckte sie mich unsanft auf und sagte, sie wolle den neuen SLK von Mercedes. Sie wolle noch ein hübsches Auto fahren, solange sie lebe. (...) Wir kauften diesen SLK und stellten ihn in die Garage. Dort blieb er dann auch, weil Andreas Fahrtüchtigkeit infolge der zahlreichen Medikamente zu stark beeinträchtigt war."
    Etliche Verlogenheiten demontiert
    Nach ihrem Tode schleppt er auf einer Geschäftsreise nach Asien ihre Urne mit sich herum. Andrea hat sein Leben so sehr dominiert, dass er sich nicht mal im Tode von ihr lösen kann. Als er es endlich schafft, ja darüber hinaus im Kontext der asiatischen Kultur eine ganz neue, weniger verbissene Liebeserfahrung macht, ereilt in die eigene, niederschmetternde Diagnose.
    "'Sie werden nie mehr gesund sein."
    Zu viel, zu viel, zu viel! trommelt der literaturkritische Impuls im Hinterkopf des professionellen Lesers, aber es ist nicht zu viel - außer natürlich im Leben des Autors, da reichte schon einer dieser Schicksalsschläge. "Script Avenue" ist ein üppiges, überbordendes, vitales, unterhaltsames, witziges, trauriges, tröstliches und hartes Buch mit Figuren, die einen auch nach der Lektüre nicht so schnell verlassen. Der Strang mit dem langsamen Sterben Andreas demontiert schonungslos etliche Verlogenheiten, die bei diesem Thema sonst üblich sind: Nein, Todesnähe macht nicht zwingend milde; nein, Schmerzfreiheit ist trotz Palliativmedizin nicht garantiert. Mit diesem schwerwiegenden, doch leicht erzählten autobiografischen Roman stellt Claude Cueni zwei vergleichbaren Schweizer Büchern der Vergangenheit ein drittes zur Seite: Fritz Zorns Krebstod-Pamphlet "Mars" aus den 80ern und Peter Nolls "Diktate über Sterben und Tod", zehn Jahre später. Zorn, Noll und Cueni erzählen ganz unterschiedlich, wie es ist, wenn die eigenen Lebenspläne vom Schicksal durchkreuzt werden und sich die Sterblichkeit des Menschen - wie immer: urplötzlich! - offenbart. Beim einen wird nackte Aggression frei, beim anderen entwickeln sich Spuren von Weisheit. Wie Peter Noll in seinem Longseller auch, scheut sich Claude Cueni nicht, Lebensmaximen aufzustellen. Möglicherweise hat er damit sogar recht.
    "Rückblickend denke ich, dass man nie Menschen heiraten sollte, die nicht verlieren können, denn das Leben endet immer mit einer skandalösen Niederlage, dem Tod. Wer nicht verlieren kann, neigt zur Rechthaberei. Sie sollten diese Zeilen mehrmals lesen, sie gehören zum Mehrwert, den Ihnen dieses Buch bieten wird. Es könnte Ihr Leben retten."
    Claude Cueni: "Script Avenue"
    Wörterseh Verlag, 638 Seiten, 39,90 Euro