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Buch der Woche
Kracauer als einsamer Gesellschaftskritiker

Siegfried Kracauer war Journalist, Soziologe Filmwissenschaftler, Romancier, Flaneur - ein wahrer Tausendsassa, und wie jeder Tausendsassa, nicht so einfach einzuordnen. Nun liegt zum ersten Mal eine umfassende Biografie Siegfried Kracauers vor, geschrieben von Jörg Später, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg.

Von Tobias Lehmkuhl | 04.12.2016
    Der Presseausweis von Siegfried Kracauer
    Der Presseausweis von Siegfried Kracauer (picture-alliance / dpa / Daniel Reinhardt)
    Da Siegfried Kracauer zwischen 1921 und 1933 Feuilletonredakteur der Frankfurter Zeitung war und in dieser Zeit hunderte von Artikeln für das angesehenste Blatt der Weimarer Republik schrieb, ist es nicht verwunderlich, dass er sich auch zur Gattung der Biographie geäußert hat, und zwar wenig positiv. Er bezeichnete sie als "neubürgerliche Kunstform", die er, wie Jörg Später in seiner Kracauer-Biographie schreibt, als "Zeichen der Flucht" deutete. Das hielt ihn freilich fünf Jahre später nicht davon ab, selbst eine Biographie zu schreiben - wobei er sein Buch über Jacques Offenbach allerdings als "Gesellschaftsbiographie" verstanden wissen wollte, eine Lebensbeschreibung also, die anhand individueller Erfahrungen das Bild einer Epoche zeichnen sollte. Diese Vermittlung von Mikro- und Makrogeschichte hielt er ein paar Jahre später wiederum für unmöglich. Doch damit nicht genug:
    "Mit Blick auf seinen eigenen Lebenslauf jedoch - das ist eine weitere Volte im Verhältnis Kracauers zum Biografischen - stellte er gegen Ende seines Lebens durchaus eine synthetisierende Kontinuität fest, die alle seine intellektuellen Bemühungen zusammenhalte. Er skizzierte eine Philosophie des Vorraums, von der er meinte, dass sie alle seine Schriften über die Jahre hinweg unbewusst angetrieben habe. Das Ich drängte sich also im Rückblick in den Vordergrund. Dazu passt natürlich, dass Kracauer mit seinen Romanen "Ginster" und "Georg" zwei autobiographisch unterlegte Erzählungen geschrieben hatte. Wenn auch eine Biographie eine Illusion sein mag, so ist sie doch nicht illegitim."
    Das gilt nun allemal für eine Biografie Siegfried Kracauers, denn eine solche steht seit seinem Tod im Jahr 1966 aus. Das gilt insbesondere auch für eine Kracauer-Biografie wie die von Jörg Später, selbst im Todesjahr Kracauers geboren, die sich all der Fallstricke des Biographischen bewusst ist.
    Einem ständigen Wandel unterzogen
    Es drängt sich allerdings die Frage auf: Warum erst jetzt, fünfzig Jahre nach seinem Tod? Denn von den immer schon vorhandenen Vorbehalten gegen das Genre haben sich die Biografen selbst noch nie abschrecken lassen. Hielt man ihn bisher womöglich etwa keiner eigenen Lebensbeschreibung für würdig? Wer nun das Buch von Jörg Später gelesen hat, kann eine solche Sichtweise nicht im geringsten nachvollziehen. Schon Kracauers wechselnde Ansichten im Hinblick aufs Biografische zeugen von einem Denken, dass sich stets in Bewegung befand. Auch Kracauers Leben selbst ist von vielen interessanten Wendungen geprägt. Wahrscheinlich ist eher, dass Kracauer immer ein wenig unterm Radar flog, im Schatten seiner drei großen Freunde Theodor Wiesengrund Adorno, Walter Benjamin und Ernst Bloch. Auch die Beziehung zu diesen Meisterdenkern war ständigem Wandel unterworfen. Und die Zugehörigkeit zu diesem Freundschaftsquartett bildet vielleicht sogar das spannendste Kapitel im Leben Siegfried Kracauers.
    "In meinem Buch wird das Porträt einer Gruppe gezeichnet, die um 1930 eine eigene avantgardistische Form des Philosophierens suchte und gemeinsam fand - eine, wie Bloch es nannte, "Philosophie in Revueform", getragen von Denk- und Raumbildern, mit dem öffnenden Blick auf die Dialektik aufgeklärten Denkens und die Gleichzeitigkeit von Kultur und Barbarei, ebenso ästhetisch wie gesellschaftskritisch motiviert. Selbst nach der Erosion und Diffusion der Gruppe blieben ihre ehemaligen Glieder füreinander als Bezugs- oder Reibungspunkte relevant."
    Innere Einsamkeit
    Erst einmal aber, und das ist prägend für seine Kindheit wie für seine Jugend, ist Siegfried Kracauer ohne Freunde. Geboren 1889 in Frankfurt als Sohn assimilierter Juden, glich sein Äußeres einem Fremdkörper. Die große platte Nase, die kugeligen Augen und der dunkle Teint verliehen ihm etwas, wie es damals hieß, Negroides. Kracauer sah immer anders aus als alle anderen. Und die Unsicherheit darüber mag auch ein Grund dafür gewesen sein, dass er stotterte. Dieser Sprachfehler verfolgte ihn viele Jahre. Erst die Emigration in die USA und der Sprachwechsel ins Englische sollten ihn zum Verschwinden bringen. Die innere Einsamkeit war sehr ausgeprägt beim jungen Kracauer und reichte weit über einen bloß pubertären Hang zur Abkapselung hinaus.
    "Eine Menschenseele möchte ich finden, nur eine, mit mir durch das Leben in gemeinsamer Arbeit in engster Freundschaft verknüpft. Alles in mir schreit nach einem Freund, mein ganzes jetziges Leben und Sehnen ist eins: Die Suche nach dem Freund. Wo ich aber anpoche, finde ich verschlossene Türen und widerwillige Gesichter. Es ist furchtbar schwer, allein zu stehen!"
    Jörg Später hat für seine Biografie neben den Tagebüchern die gesamte überlieferte, bisher kaum veröffentlichte Korrespondenz Kracauers gesichtet. Sie bildet über dessen ebenfalls zahlreiche Schriften hinaus ein solides Fundament dieses Buches. Zudem hat Später gerade für die frühen Jahre Kracauers immer wieder auf die autobiografischen Romane "Georg" und "Ginster" zurückgegriffen. Im Bewusstsein dessen, dass es sich um fiktionalisiertes Lebensmaterial handelt, ist es Später gelungen, Passagen davon immer wieder erhellend in die Biografie einzuarbeiten und die Formulierungskunst und den untergründigen Humor Kracauers aufblitzen zu lassen. So ist die Rede davon, dass die Familie den jungen Kracauer zum Architekturstudium drängte, "seiner Spiralen wegen", wie es im "Ginster" heißt. Denn dieser Ginster habe wie sein Schöpfer und alter ego Kracauer als Kind eben gerne und hübsch Spiralen gemalt.
    Entfremdung, Entwurzelung, Vereinsamung
    Dass kindliche Spiralen nicht unbedingt ausreichen, um Talente oder Vorlieben eines Menschen zu erkennen, hätte allen klar sein können. Aber vielleicht war es auch so, dass Kracauer zu dieser Zeit selbst noch nicht recht wusste, was er mit sich und seinem einsamen Leben anfangen sollte. Zugleich war er ein Kind seiner Zeit. Seine Frühschriften, also das was er zur Zeit seines Studiums verfasste, standen im Zeichen einer lebensphilosophisch inspirierten Kapitalismuskritik. Entfremdung, Entwurzelung, Vereinsamung sind einige der Schlagwörter. Seit Beginn der Industrialisierung sind sie immer wieder aufgekommen. Im sich rasant entwickelnden wilhelminischen Deutschland und während der Schlachten des Ersten Weltkriegs aber verschärfte sich noch einmal das Empfinden, der Einzelne spiele im Lärm der Maschinen keine Rolle mehr.
    "So sehr allerdings der junge Kracauer im Nebel stocherte, wenn er die persönlichen Fragen des Wohin und Wozu anschnitt und das Private mit dem Philosophischen vermengte, so deutlich benannte er den dramatischen Bezirk, in dem sich seine späteren Schriften bewegen sollten: die Innen/Außen-Schnittstelle zwischen dem Individuum und der Welt um es herum. Kracauer war sich in dieser depressiven Phase durchaus im Klaren, dass er sich auf dieses Außen einlassen musste, um ein gutes Leben zu führen. In dieser ersten Schaffensphase legte sich Kracauer fest: Er würde zu den Dingen der Welt hingehen, sie anfassen und ansehen, auch wenn er noch darüber klagte, dass der Weg zur Persönlichkeit und zum "ganzen Menschen" durch die gesellschaftlichen Formen von Kapitalismus und Wissenschaft verstellt sei."
    Aneignung der Welt als Flaneur
    Tatsächlich ist es erstaunlich, dass Kracauer, dem die Welt solche Steine in den Weg legte, zu einem Flaneur wurde. Naheliegend wäre gewesen, die Philosophie, die dazu beitrug, ihn zu retten, aufs Podest zu heben und nichts anderes gelten zu lassen als den Geist und die Schrift. Aber Kracauer vergrub sich nicht in der Studierstube, stundenlang wanderte er durch die Straßen von Frankfurt, später dann durch die von Marseille, Paris und Berlin, und beobachtete die Phänomene der gegenständlichen Welt und des Alltags.
    Angeregt wurde er dazu von Georg Simmel, dessen Seminare er neben seinen Architekturstudien besuchte. Hier lernte er "auch noch das einfachste Phänomen als Symbol zu verstehen, als etwas, das auf viele andere Zustände und Ereignisse hindeutete."
    Der Flaneur bewegt sich auf der Straße, in der Öffentlichkeit, und Öffentlichkeit suchte auch Kracauer. Wenn schon im privaten der Freundschaft Defizite herrschten, erschien die Öffentlichkeit, so könnte man vermuten, als möglicher Ausweg aus der Einsamkeit. So gab Kracauer seine Anstellung als Architekt auf und setzte alles daran, Journalist zu werden. Ab 1920 schrieb er für die Frankfurter Zeitung. Schon ein Jahr später wurde er Redakteur und durfte, wie Jörg Später ebenfalls nicht ohne Witz vermerkt, fortan über den Untergang des Abendlands und den Geist der Utopie schreiben.
    Bekanntschaft mit Adorno und Bloch
    Mit Anfang Dreißig schien die Waagschale seines Lebens sich nun dem Guten zuzuwenden. Hinzu kam, dass er gegen Ende des Ersten Weltkriegs - er wurde vom Militär selbst als Kartoffelschäler für ungeeignet befunden - den fünfzehn Jahre jüngeren Theodor Adorno kennen gelernt hatte. Mit diesem hochbegabten Knaben verband ihn sogleich die ersehnte, enge Geistes-Freundschaft. Jeden Samstag kamen die beiden zusammen und lasen in Kants "Kritik der reinen Vernunft".
    "Dann folgten Lektüren von Hegel und Kierkegaard. Wiesengrund besuchte ein Seminar, das den Titel "Kritik des deutschen Idealismus" hätte tragen können, und er wurde ermahnt, dass sich diese Kritik nicht mit dem Lager der Irrationalität gemeinmachen und nicht in die Denunziation der Aufklärung abgleiten dürfe. Dialektik ohne Totalität, ohne Aufhebung, ohne Synthese, das war Kracauers Lesart der Philosophiegeschichte bis dahin."
    Auch mit Leo Löwenthal schloss er Freundschaft, der von diesem bald zu Ernst Bloch vermittelte Kontakt sollte aber kurze Zeit später schon wieder für einige Jahre abbrechen, denn Kracauer konnte nicht anders, als einen scharfen Verriss von Blochs Buch über Thomas Müntzer zu veröffentlichen. Er sah, wie Später schreibt, bei Bloch eine ihm unerträgliche "ekstatische wie esoterische Pseudophilosophie am Werk". Auch mit dem Werk der beiden großen Frankfurter Religionsdenker jener Zeit, Franz Rosenzweig und Martin Buber, und ihrer Neuübersetzung des Alten Testaments, konnte Kracauer nichts anfangen. Für die Religion, für jede Art transzendentaler Sinnsuche war er nicht geschaffen.
    "Wenn nicht die Religion zur Wahrheit führte, so konnte doch vielleicht die Wissenschaft weiterhelfen. Mit der Soziologie entstand gerade eine neue Disziplin, die nach Max Weber den Anspruch erhob, Wirklichkeitswissenschaft zu sein, also zumindest gültige Aussagen über das profane Zusammenleben der Menschen zu treffen. Die deutsche Soziologie war in ihrem Anfang eine philosophisch argumentierende und keine empirisch verfahrende Wissenschaft. Sie galt manchen als Philosophie-Ersatz für den philosophisch ungläubig Gewordenen."
    Eine Philosophie von außerhalb bestehender philosophischer Systeme - das eingangs zitierte Wort Blochs von der Revue deutete schon darauf hin - war Anfang der zwanziger Jahre der geistige Jagdgrund von Denkern wie Kracauer, Adorno, Bloch und auch Walter Benjamin, der als letzter zu der Gruppe stieß, die keine Gruppe war. Wahrscheinlich sogar sind niemals alle vier gleichzeitig zusammengetroffen, der Austausch aber war eng und der Aufmerksamkeit in Bezug auf das, was die jeweils anderen gerade schrieben und taten, entging nichts. Man verreiste sogar gemeinsam oder traf sich in Italien. Allerdings taten sich in Italien auch erste Verwerfungen zwischen Kracauer und Adorno auf; die Liebe des Älteren zum Jüngeren scheint etwas Erdrückendes an sich gehabt zu haben, so dass sich Adorno, der immer schon ehrgeiziger und zielgerichteter, wohl auch smarter war als Kracauer, zunehmend entzog.
    Dieser hatte jetzt gar keine Zeit mehr, darüber allzu gram zu werden; die Arbeit in der Frankfurter Zeitung nahm ihn schwer in Beschlag. Sein Kollege Joseph Roth vermittelt in einem Brief an Bernhard von Brentano einen Eindruck von Kracauers Redakteursschicksal und zeichnet zudem ein zwiespältiges Porträt des bald Vierzigjährigen:
    "Dr. Kracauer ist ein armes Wasserl. Er kann nur einmal in 10 Jahren machen, was ihm gefällt, er kann nur einmal für 3-7 Tage nach Berlin fahren und er kann niemals - leider, leider infolge seines Sprachfehlers und seines uneuropäischen Gesichts - die Zeitung auswärts vertreten. Er ist ein kluger, ironischer Kopf ohne Phantasie, aber trotz aller Bewußtheit sympathisch naiv. Helfen Sie ihm, so gut es geht, nehmen sie sich seiner an und Sie werden viel von ihm lernen können. ich lerne von ihm immer und bringe die Geduld auf, eine halbe Stunde zu warten, bis er seine Weisheit hervorgestottert hat. Es lohnt immer."
    Man muss sich vor Augen halten, dass es nur dreizehn Jahre waren, die Kracauer für die Frankfurter Zeitung schrieb, aber was er in dieser Zeit alles schrieb, für die Zeitung und darüber hinaus, sprengt eigentlich jeden Rahmen und passt so gar nicht zum Bild des armen, stotternden Wasserls: Als Verantwortlicher für die Filmberichterstattung schrieb er bis zu siebzig Filmkritiken im Jahr. Darüber hinaus rezensierte er Bücher, Zirkusbesuche und Vorträge, berichtete vom Bau neuer Gebäude, von seinen Reisen und Stadtspaziergängen, korrespondierte mit Gott und der Welt schrieb den "Ginster" und schließlich sein heute wohl immer noch bekanntestes Buch "Die Angestellten". Walter Benjamin prägte in einer hymnischen Rezension den Begriff des "Lumpensammlers", für den Kracauer wiederum ein Leben lang dankbar sein sollte.
    "So steht von Rechts wegen dieser Autor am Schluß da: als ein Einzelner. Ein Mißvergnügter, kein Führer. Kein Gründer, ein Spielverderber. Und wollen wir ganz für sich uns in der Einsamkeit seines Gewerbes und Trachtens ihn vorstellen, so sehen wir: Einen Lumpensammler frühe im Morgengrauen, der mit seinem Stock die Redelumpen und Sprachfetzen aufsticht, um sie murrend und störrisch, ein wenig versoffen, in seinen Karren zu werfen, nicht ohne ab und zu einen oder den anderen dieser ausgeblichenen Kattune "Menschentum", "Innerlichkeit", "Vertiefung" spöttisch im Morgenwinde flattern zu lassen. Ein Lumpensammler, frühe - im Morgengrauen des Revolutionstages."
    Die Revolution, auf die sich Walter Benjamin hier bezieht, mag eine geistige gewesen sein. Ganz bestimmt aber meinte er nicht die Revolution, die drei Jahre später folgte, und die eher ein kalter Putsch war. Hitlers Machtübernahme zerstreute die Freunde in die weite Welt, wo drei der vier große Mühe hatten, Fuß zu fassen. Kracauer wurde schon im März 1933 gewarnt und verließ Deutschland fluchtartig in Richtung Paris. Hier lebte auch Benjamin, aber obwohl sie an ähnlichen Gegenständen arbeiteten, sich mit derselben Zeit auseinandersetzten als Spiegel der eigenen - Benjamin an seinem Passagen-Buch, Kracauer an seiner Offenbach-Biographie - trafen sie wohl nur selten zusammen. Adorno dagegen war mit seinem nach Amerika emigrierten Institut für Sozialforschung inzwischen etabliert, seine Unterstützung für die beiden Emigranten überlebenswichtig. Für Kracauer bedeutete die Situation wahrscheinlich eine noch schmerzhaftere Veränderung als für Benjamin - letzter war immer schon freier Publizist gewesen, Kracauer kannte die Notwendigkeit, bei Redaktionen und Verlagen täglich Klinken putzen zu müssen, nicht. Im Exil stellte es sich zudem als besonders schwierig heraus. Auch mit seinem Offenbach-Buch sollte er kein Geld verdienen. Bei seinen Freunden kam es zudem alles andere als gut an. Adorno fand die Anlage der Gesellschaftsbiographie "unverschämt und dämlich", Kracauer habe sich mit diesem Buch "aus der Zahl der irgend ernstzunehmenden gestrichen". Ihm schwebte in einem Brief an Walter Benjamin gar eine "gemeinsame Aktion von Ihnen, Ernst und mir" vor. Benjamin aber wollte lieber nicht direkt mit Kracauer reden, sondern "seine bedingte Entmündigung bis auf weiteres beschließen, ohne ihn fallen zu lassen." Es sind dies die härtesten, schockierendsten Worte in Jörg Späters Biographie, weil sie in ihrer Schärfe und Kompromisslosigkeit eben auch einen Zug des Totalitären tragen, etwas von der Haltung, die die Freunde, so man sie noch so nennen kann, ja gerade ins Exil getrieben hat.
    Ganz allein stand Kracauer zum Glück nicht da. Noch in den zwanziger Jahre hatte er seine spätere Frau Lilli kennengelernt. Ohne sie, so viel scheint sicher, hätte Kracauer die Zeit im Exil kaum überlebt. Der Vorwurf Adornos, Kracauer sei in die Massenkultur eingetaucht ohne als Kritiker wieder aus ihr hervorzutauchen, sei dahingestellt. Kracauers Offenheit für Phänomene der Massenkultur, für den Film vor allem, sollte ihm das Leben retten. Denn über die Filmwissenschaft fand er den Weg nach Amerika. Seine Expertise in Sachen Film machte ihn für amerikanische Institutionen interessant. Zwar hangelte er sich, nachdem er 1941 mit einem der letzten Schiffe von Lissabon nach New York gekommen war, von Stipendium zu Stipendium, zwar fand auch sein Filmbuch "Von Caligari zu Hitler" keine Gnade unter Adornos unbarmherzigen Augen. Nach und nach aber erarbeitete er sich - nun konsequent auf Englisch schreibend, ein beachtlicher Schritt für einen über Fünfzigjährigen - eine durchaus bedeutende Stellung nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als Gutachter. Seit den fünfziger Jahre war er es, der Förderanträge prüfte, statt sie selbst zu stellen. Er war etabliert, er war sogar glücklich, und als er einmal einen kritischen Brief über seinen einstigen Schüler schreibt da ist die Kritik ohne jene Bitternis und Aggression:
    "An Löwenthal schrieb er, dass "Teddie wirklich sehr geistreich und blendend ist", aber er verfahre "nach immer demselben Prinzip; zuerst zertrampelt er alles, dann streicht er es wieder glatt. Ich kenne kein anderes Beispiel von scheinbar eingreifender Kritik, die so wenig Greifkraft hat. Es bleibt am Ende alles beim Alten, und im Grunde fühlt er sich recht wohl dabei."
    Selten ist es so, dass einem der Beschriebene am Ende einer Biografie sympathischer ist als zu Anfang - weil man nun auch seine Schwächen kennt, aber auch, weil Biografen ihres Gegenstands häufig während des Schreibens überdrüssig werden und der Leser das spürt. Bei Jörg Späters Kracauer-Biografie ist das nicht im Geringsten der Fall. Das hat einerseits mit der neugierigen, Verletzungen tragenden aber nie Verletzungen zufügenden Persönlichkeit Kracauers zu tun, andererseits damit, dass Jörg Später auch stilistisch souverän durch die so vielfältigen Lebensbereiche seines Helden navigiert: Ob er über das Frankfurter Judentum, das Berliner Zeitungswesen oder amerikanische Universitäten schreibt - niemals verliert er seine Hauptfigur aus den Augen, und niemals auch den Leser, dem es nach den über sechshundert Seiten Text so vorkommt, als habe er, als Lese-Flaneur, einen überraschend langen, aber höchst anregenden Spaziergang unternommen.
    Jörg Später: Siegfried Kracauer. Suhrkamp Verlag 2016. 740 Seiten, 39,95 Euro.