Die Kunstform des 21. Jahrhunderts, so wird gern gesagt – und gerne nachgeplappert – seien die TV-Serien US-amerikanischer Provenienz. "The Wire", "Six Feet Under" oder "House of Cards" vermöchten es viel besser als die Literatur, ein Bild unserer Gegenwart zu malen, sie in ihrer ganzen Breite, Tiefe und Komplexität zu fassen. Und fesseln diese Serien nicht Millionen? Mag sein. Aber wie zutreffend auch immer solche Behauptungen sein mögen: Sie vergessen die Vorgänger dieser Serien. Und sie vergessen, was diese ihnen verdanken. Ihre Vorgänger: Das sind die großen Romanciers des 19. Jahrhunderts, von Charles Dickens bis Eugène Sue, Erfinder fiktiver Welten, die der wirklichen aufs Haar glichen und sich doch über sie erhoben, dramatischer, greller, spannender.
Sie beherrschten das Spinnen von Intrigenfäden und deren Verknüpfung zu Netzen, in denen sich ihre Personen verfangen; sie beherrschten auch die Portionierung der Handlungen in Episoden, die in eine Zeitungsfolge passen mussten. Und die Technik des "Cliffhangers", die die Leser ungeduldig auf die nächste Lieferung warten liessen, hatten sie zur Meisterschaft gebracht. Denn viele dieser Romane erschienen in Fortsetzungen im neuen Massenmedium, der billigen Presse. Der allergrößte unter diesen Romanciers ist Honoré de Balzac, der Schöpfer der "Comédie humaine", eines Mammutprojekts von 91 Romanen und Erzählungen. Sie bilden die Jahre der napoleonischen Ära, der Restauration und der Julimonarchie in Frankreich mit grösstmöglicher Vollständigkeit ab, von den Spitzen der Gesellschaft bis in die Gosse, quer durch alle Stände, Berufsgruppen und Charaktere. 2500 Personen bevölkern dieses einzigartige Zweit-Universum, 600 von ihnen kehren in mehreren Büchern wieder, einige werden dem Leser so vertraut wie seine Nachbarn.
Balzac wolle im Breiten gelesen sein, hat Hugo von Hofmannsthal in einer schönen Hommage auf Balzac geschrieben. Im Breiten lesen – klar, bei einem Werk, das so viel Platz im Bücherregal braucht. Aber wer hat heute Zeit und Kraft für den ganzen Balzac? Also auswählen. Und dann wohl den vielleicht bedeutendsten, modernsten und äußerst packenden unter diesen Romanen. Und das sind die "Illusions perdues", die "Verlorenen Illusionen". Die sind gerade in einer prächtigen Klassikerausgabe im Hanser Verlag erschienen, neu übersetzt von Melanie Walz, und sie haben ausserdem das Aufkommen der Massenpresse und ihre Auswirkungen auf das geistige Leben, also die Bedingungen ihrer Entstehung und ihres Erfolgs, zum Thema.
"Zu der Zeit, da diese Geschichte beginnt, hatten sich die Stanhope-Druckpresse und die Walzen zum Auftragen der Druckerschwärze in den kleinen Provinzdruckereien noch nicht durchgesetzt. Trotz des besonderen Erzeugnisses, das Angoulême mit dem Pariser Druckereigewerbe verbindet, benutzte man dort noch immer Holzpressen, denen die Sprache die nunmehr gegenstandslose Wendung verdankt, man bringe die Presse zum Ächzen. Das veraltete Druckerhandwerk Angoulêmes verwendete noch immer mit Druckerschwärze eingeriebene Lederballen, mit denen der Drucker die Lettern betupfte. Die bewegliche Fläche mit der Druckform aus Lettern, auf die das Papier gedrückt wird, war eine Steinplatte, völlig zutreffend als Setzstein bezeichnet. Die unersättlichen Schnellpressen unserer Tage haben diese Druckvorgang, dem wir trotz seiner Unzulänglichkeiten die schönen Bücher der Elzevier ... "
Wo sind wir – in einer historischen Abhandlung über Drucktechnik? Nein, es sind die ersten Sätze der "Verlorenen Illusionen", und tatsächlich bilden materielle, nämlich ökonomische und technische Informationen solcher Art für Balzac die Grundlage der Handlung; dass er sie seinem Leser gibt, sie ihm förmlich aufdrängt, ist eine Voraussetzung, dass dieser vollkommen begreift, was geschieht und warum es geschieht. "Das Sein bestimmt das Bewusstsein", dieser Satz von Karl Marx hätte Balzac wohl nicht gefallen, aber seine Werke belegen und illustrieren ihn.
Was für eine Geschichte erzählen die drei Bände der "Verlorenen Illusionen"? Mehr als eine – wie auch anders bei den über 800 Textseiten. Im Vordergrund ist es eine Geschichte von Aufstieg und Fall. Da ist ein junger Mann, Lucien Chardon, der von ganz unten kommt, ein Apothekersohn aus der Provinzstadt Angoulême, und der nach Paris will und nach ganz oben. Das ist in der Restaurationsepoche, in der der Roman spielt, zwischen 1819 und 1822, nicht mehr ganz so einfach wie unter Napoleon, wo jeder Soldat den sprichwörtlichen Marschallstab im Tornister hatte. Geld hat Lucien keins, aber er ist jung, sieht gut, ja überirdisch schön aus, mit blonder Lockenpracht über seinem griechischen Profil, wie Balzac schwärmt, und er ist begabt, ein Dichter.
Und als Dichter will er Paris erobern. Die erste Etappe ist allerdings der Salon von Louise de Bargeton, "premiere dame" von Angoulême. Sie protegiert ihn, lässt ihn vor dem Provinzadel seine Sonette vorlesen und wärmt sich in ihrer provinziellen Lebenslangeweile an seinem poetischen Furor. Beide machen sich ein bisschen vor, ineinander verliebt zu sein, und gehen nach einem kleinen Skandal zusammen nach Paris. Dort spielt der zweite Teil der "Verlorenen Illusionen". Abrupte Ernüchterung, zuerst auf Seiten von Madame de Bargeton. Ein alter Bekannter, der Baron du Châtelet, öffnet ihr die Augen: Sie wolle sich doch nicht wirklich mit einem Provinzbengel kompromittieren?
"Baron du Châtelet hatte zu einer Dame der Gesellschaft die Sprache der Gesellschaft gesprochen. Er hatte sich in allem Glanz pariserischer Eleganz gezeigt und war in einem schmucken Kabriolett vorgefahren, bespannt mit einem stattlichen Pferd. Zufällig stand Madame de Bargeton am Fenster, wo sie über ihre Lage nachsann, und sah den alten Dandy abfahren. Kurz darauf präsentierte sich Lucien ihrem Blick, abrupt erwacht, hastig angekleidet, in seiner Nankinghose aus dem Vorjahr und in seinem armseligen schäbigen Gehrock. Er war schön, aber lächerlich angezogen. Kleiden Sie den Apoll von Belvedere oder einen Antinous wie einen Wasserträger – werden Sie dann das göttliche Werk des griechischen oder römischen Meissels wiedererkennen? Die Augen vergleichen, bevor das Herz Zeit hat, das schnelle und mechanische Urteil zu korrigieren. Der Kontrast zwischen Lucien und Châtelet war zu schroff, um Louise nicht aufzufallen."
Das Aufblühen des Journalismus
Seinerseits vergleicht Lucien bei einem Theaterbesuch die versammelten Eleganzen mit seiner Begleiterin, die ihm nun wie eine ältliche Provinzwachtel vorkommt. Verlorene Illusionen auf beiden Seiten – und auf Seiten des Lesers die Einsicht, dass hier nicht Gefühle, sondern Interessen die Personen lenken. Kleider machen Leute, und die richtigen Kleider kosten Geld. Das bisschen Geld aber, das Lucien aus Angoulême mitgebracht hat – seine Mutter und seine Schwester Eve haben es sich vom Munde abgespart - , dieses Geld zerrinnt in kürzester Zeit. Madame de Bargeton lässt ihn fallen, die beiden Buchmanuskripte, die er mitgebracht hat, einen Band Sonette und einen historischen Roman im Stile Walter Scotts, will niemand drucken. "Genie ist Geduld", hat Luciens Freund David, der Drucker aus Angoulême, gesagt, aber Geduld hat Lucien nicht. Zwar beeindruckt ihn der Kreis ernsthafter Künstler, das sogenannte Cénacle um den Dichter Daniel d'Arthez, die entsagungsvoll und nur dem Geist ergeben, eine Mansardenexistenz führen. Aber dieses Los will er nicht teilen, dafür ist er zu verwöhnt.
Zum Glück gibt es ja eine Abkürzung zu Ruhm und Erfolg: den Journalismus. Der blüht gerade mächtig auf. Die neuen Massenblätter, möglich durch leistungsfähigere Druckerpressen und billiges Papier, durch Kapitalgeber und ein gieriges, skandal- und sensationslüsternes Publikum, spüren ihre neue Macht und missbrauchen sie sofort. Sie "machen" Theaterstars und Schriftsteller, stürzen Minister und erpressen Mächtige durch Dossiers mit belastenden Dokumenten. Wird genug gezahlt, unterbleibt die Blossstellung, wird aus einem Verriss eine Eloge, erlebt die Opernpremiere einen rauschenden Erfolg. Alles ist käuflich, und alles muss gekauft werden.
"Jede Zeitung ist ein Laden, in welchem dem Publikum die Schlagworte verkauft werden, die es haben will. Gäbe es eine Zeitung für Bucklige, würde sie von früh bis spät die Schönheit, die Güte und die Notwendigkeit der Buckligen preisen. Eine Zeitung ist nicht mehr dazu da aufzuklären, sondern den Ansichten zu schmeicheln."
Den Ansichten dessen, der am meisten zahlt. Etienne Lousteau, ein Begleiter von mephistophelischen Dimensionen, führt Lucien in das neue Gewerbe ein. Es gibt liberale und regierungstreue Blätter, aber korrupt sind sie alle. Balzacs enragierte Feder zeichnet das Milieu aus Autoren, Journalisten, Buchhändlern, Theaterleitern, Schauspielerinnen, die von Großbürgern ausgehalten werden und ihrerseits ihre Liebhaber aushalten, Pfandleihern und Wucherern als einen moralischen Sumpf. Einer der Freunde aus dem Cénacle vergleicht ihn gar mit Dantes Inferno:
"Der Journalismus ist eine Hölle, ein Abgrund von Ungewissheiten, Lügen, Verrätereien, den man unbeschmutzten Fusses nur durchqueren und verlassen kann, wenn man wie Dante vom göttlichen Lorbeer Vergils beschützt wird."
Der tiefe Fall
Einen Vergil hat Lucien nicht, stattdessen seinen Mephisto Lousteau. Er begreift schnell, und Talent hat er auch: Seine erste Theaterkritik, in einem lockeren, subjektiven Stil geschrieben, macht gleich Furore – noch Adorno empfand, bewundernd und zugleich unangenehm berührt, den perfiden Charme dieses brillanten Feuilletons. Die Charakterlosigkeit des Metiers entspricht Luciens inneren Haltlosigkeit perfekt. Über den Roman eines führenden Literaten schreibt er, unter zwei Kürzeln, eine Hymne und einen Verriss. Schnell zeigt sich aber, dass er das Gewerbe nicht beherrscht, sondern dieses ihn. Seine Urteile müssen so ausfallen, wie es die wollen, die ihn bezahlen. Damit seine Geliebte, die Schauspielerin Coralie, nicht ausgepfiffen wird und ihr Engagement verliert, muss er den Roman seines Freundes d'Arthez, den er bewundert, niedermachen. Dann wechselt er noch, berauscht von seinen Fähigkeiten und verblendet über seine Möglichkeiten, aus dem liberalen ins regierungstreue Lager – auf die vage Aussicht hin, durch eine königliche Verfügung ein Adelsprädikat zu bekommen. Es ist aber eine Falle, die ihm seine inzwischen zahlreichen Feinde gestellt haben. Er tappt hinein und verliert alles. Ohne einen Francs in der Tasche und um viele Illusionen ärmer kehrt er nach Angoulême zurück.
Dieser Mittelteil des Romans – er allein würde schon genügen, Balzac zu den Allergrössten der Literatur zu zählen – ist selbst eine einzige Desillusionsmaschine. Und die Macht dieser Desillusion ist stark genug, noch den heutigen Leser zu erreichen. Luciens Erfahrungen mit Literaturbetrieb und Journalismus lassen sich in den Sätzen zusammenfassen: Alles ist käuflich, und alles muss gekauft werden. So etwas wie einen unabhängigen literarischen oder geistigen Wert gibt es in dieser Welt nicht. Warum sich also abmühen, große, ewige Werke zu schaffen?, fragt Luciens Führer und Verführer Lousteau. Und antwortet:
"Was uns unser Leben kostet, der Gegenstand, der in Nächten der Fleissarbeit unser Gehirn verwüstet hat, all diese Wettrennen auf dem Gebiet des Denkens, das Denkmal, das wir aus unserem Blut errichtet haben, wird für die Verleger ein gutes oder schlechtes Geschäft. Die Buchhändler verkaufen ihr Buch oder verkaufen es nicht, darin besteht für sie die ganze Sache. Für sie bedeutet ein Buch Kapital, das man riskiert. Je besser das Buch ist, desto weniger Aussichten hat es, sich zu verkaufen. Jeder überlegene Mensch erhebt sich über die Massen, und deshalb steht sein Erfolg in unmittelbarem Zusammenhang mit der Zeit, die es erfordert, das Werk schätzen zu lernen. Kein Buchhändler will warten. Das Buch von heute muss sich morgen verkaufen. In seinem solchen System lehnen die Buchhändler die gewichtigen Bücher ab, die lange brauchen, bis sie sich durchsetzen."
Kommt einem da nicht manches bekannt vor? Hören wir nicht ständig die Klage über die fatale Umschlaggeschwindigkeit im Buchhandel, die schwierigeren Büchern keine Chance mehr lässt, während leichte Ware stapelweise weggeht? Und schmeichelt die Massenpresse unserer Tage nicht auch dem, der sie bezahlt? Heute sind es die zahlenden Abonnenten, Kioskkunden oder User, bei denen die Zeitungen sich einschmeicheln – indem sie deren unterstelltem Interesse folgen, das leicht mit einem schnellen Reiz-Reaktions-Kauf- oder Klickmuster verwechselt wird. Balzacs Seiten über Journalismus und Literaturbetrieb seiner Zeit sind nicht eins zu ein auf heutige Verhältnisse übertragbar; aber um einige Analogien kommt man nicht herum, sie drängen sich förmlich auf.
Balzac kannte das Gefühl, kein Geld zu haben
Balzac wusste, wovon er schrieb, er hatte ähnliches erlebt und erlitten, als Unternehmer wie als Lohnschreiber. Er liebte den Luxus wie der verwöhnte Lucien und hatte auch dessen Adelstick; das "de" in seinem Namen trug Balzac ohne Berechtigung. Vor allem wusste er, was es hieß, kein Geld zu haben. Aus seinen verschiedenen Pleiten ging er mit hohen Schulden hervor, deren Würgegriff wurde er sein Leben lang nicht los. Den Berg an Verbindlichkeiten versuchte er mit der Feder abzutragen, schrieb in unglaublicher Fronarbeit Nacht für Nacht Seite um Seite die Romane, die heute die "Comédie humaine" bilden, Romane, die er längst verkauft und deren Ertrag er längst ausgegeben hatte.
Den Würgegriff lässt er in diesem Roman David Séchard spüren, Luciens besten Freund. David ist in Angoûlême geblieben, führt die Druckerei seines Vaters weiter, eines Geizhalses von monströsen Ausmaßen, und lässt sich die Erfindung, die er gemacht hat – Papier herzustellen mit einem Bruchteil der Kosten – von der Konkurrenz abluchsen. Das bildet die Handlung des dritten Teils. Darin wird Balzac von seiner Begeisterung für die kleinsten Details derart überwältigt, dass er ganze Anwaltsrechnungen abdruckt. Nichts ist unwichtig, alles muss stimmen, wohl wahr! Aber ein Satz wie "90 von 100 Lesern werden die folgenden Details so faszinierend finden wie die aufregendsten Neuigkeiten" ist unfreiwillig komisch, denn die angekündigten Details drehen sich erneut um Anwaltshonorare, Stempelgebühren und Wechselretourrechnungen. Ja, Balzac fehlt manchmal der Sinn für literarische Ökonomie und dramaturgische Balance, er verwechselt die Aufgabe des Romanciers zuweilen mit der eines Enzyklopädisten. Die Übersetzerin Melanie Walz nimmt im Nachwort kein Blatt vor den Mund:
"Seine Sätze mäandern oft, denn aus jedem Gedanken folgt ein Untergedanke, der wiederum seine eigenen Untergedanken nach sich zieht. Die Satzungetüme zu erhalten, ist nicht immer leicht, aber mit etwas syntaktischer Bastelarbeit lässt es sich bewerkstelligen. Als schwierigerer Brocken erweist sich die stilistische Gratwanderung Balzacs zwischen Plattitüden, die er liebt und gerne historischen Figuren in den Mund legt, sprachlichen Nachlässigkeiten, absonderlichen Neologismen, grammatikalischen Verirrungen, schrecklichen Kalauern, unbekümmerten Wortwiederholungen und fast identischen Wiederholungen ganzer Passagen einerseits und einer Fülle von bewundernswert treffenden, geistreichen, witzigen und nicht selten poetischen Formulierungen andererseits."
Wenn das nicht seinerseits ein Satzungetüm ist! Aber es stimmt, Balzac ist kein Stilist wie Flaubert, dem jedes Wort heilig war. Er schrieb schnell, ja hastig; heutige Leser dürfen sich die Freiheit nehmen, ihr eigenes Lesetempo etwas anzuziehen und auch mal einen Absatz zu überspringen. Loslassen wird sie dieser Roman ohnehin nicht, dazu fesseln die Charaktere, die romantisch, manchmal kolportagehaft ausgemalten Szenen, die meisterhaft inszenierten Intrigen zu sehr. Vor allem hat Balzac etwas gesehen und als erster auf den Punkt gebracht: Es sind die "Verhältnisse", um mit Brecht zu sprechen, die das Handeln der Personen bestimmen, und nicht ihr Charakter, so profiliert und konturiert Balzac ihn auch gezeichnet hat, so sehr er selbst an den "großen Mann" glaubte. Da ist das Werk klüger als sein Autor – und das haben Generationen materialistischer und marxistischer Theoretiker bemerkt, von Marx und Engels über Lukács und Adorno bis hin zu Thomas Piketty. "Der gesellschaftliche Prozess ist die eigentliche Handlung", schreibt Georg Lukács über die Verlorenen Illusionen", und der eigentliche Held ist das Geld. "Raubmorde auf der Strasse: karitative Akte gegen manche Finanztransaktionen", stellt Balzac fest, 100 Jahre vor Brechts berühmten Satz über die Banken.
Eine weitere, gut verborgene Lesart – anders war das zu Balzacs Zeiten nicht möglich - ist übrigens sexueller Art. Balzac versieht seinen Lucien in fast penetranter Weise mit femininen Anklängen, spielt subtil auf die Impotenz mehrerer Personen an, darunter den König, und der spanische Ordensmann, der Lucien rettet und adoptiert, als der sich gerade umbringen will, ist homosexuell. Dieser Schluss ist dann der perfekte Cliffhanger für den nächsten Roman, "Glanz und Elend der Kurtisanen".
Und was taugt nun die neue Übersetzung? Sie liest sich flüssig und mühelos; manch ungelenke Formulierung des Autors findet bei Melanie Walz eine elegantere deutsche Entsprechung. Prüft man den deutschen Text allerdings genauer und vergleicht ihn etwa mit Otto Flakes Fassung von 1924, so wirkt diese – Flake war selbst Schriftsteller – dann doch oft im Ton "balzacischer". Die Neuübersetzung ist auch nicht frei von Fehlern und Missgriffen. Ärgerlicherweise beginnen diese schon im ersten Satz. Die Widmung an Victor Hugo hebt im Original mit der pompösen Anrede an: "Vous, qui" etc. In der deutschen Ausgabe steht "Sie, die sie" – statt "der sie", Victor Hugo ist schließlich ein Mann. Später wird das Fegefeuer zur Hölle, ein Lächeln zum Lachen, ein Schwur verblasst zur Beteuerung, ein schlichtes "zu Fuß" erscheint altfränkisch als "auf Schusters Rappen". Ein letztes Beispiel: Luciens Schwester Eve ist bei Balzac "une grande brune, aux cheveux noirs". Bei Melanie Walz ist sie "groß und brünett mit schwarzen Haaren". Wie sind nun die Haare, brünett oder schwarz? Der Widerspruch kommt nicht vom Autor. Der meint mit "brune", dass Eve einem eher dunklen Typus angehört. Muss man also den klassischen Satz bemühen, Balzac sei so stark, dass er auch schlechte Übersetzungen übersteht? Nein, denn dies ist keine schlechte Übersetzung. Aber ein bisschen besser könnte sie schon sein.
Honoré de Balzac: "Verlorene Illusionen"
Herausgegeben und aus dem Französischen übersetzt von Melanie Walz.
Hanser, München 2014. 960 Seiten, 39.90 Euro
Herausgegeben und aus dem Französischen übersetzt von Melanie Walz.
Hanser, München 2014. 960 Seiten, 39.90 Euro