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Buch der Woche

Der Tango ist wieder zurückgekehrt ins Stadtbild von Buenos Aires. In den neunziger Jahren noch musste man abseits der touristischen Schaufensterdarbietungen von San Telmo danach suchen. Inzwischen haben die Portenos, wie sich die Bewohner der riesigen Stadt mit dem kaum wahrnehmbaren Hafen nennen, ihr weltberühmtes musikalisches Wahrzeichen wieder zur eigenen Zerstreuung entdeckt. Ohne weiteres kann man an den dort herbstlichen Abenden im Mai auf Tanzwettbewerbe in verschiedenen Stadtvierteln treffen. Zum Beispiel in der Glorieta an den Barrancas de Belgrano, jener abschüssigen Parkanlage, wo einst die Wasser des Rio de la Plata anschlugen. Längst ist der Fluss vom Häusermeer aus dem Blickfeld gedrängt worden. Überragt von zwanzigstöckigen Wohnhäusern schieben sich über den rauen Steinboden des Gartenpavillons die Paare, fast wie in einer Zeitkapsel aus früheren Tagen. Unterschiede von Schönheit oder Alter gelten wenig. Hauptsache die Schritte finden im rechten Rhythmus zueinander. Ungeniert lehnt da manche Chica ihre Pfirsichwange für ein, zwei Tänze an die zerklüftete Physiognomie eines knorrigen alten Tangotigers, um Stil und Gefühl vergangener Epochen in sich aufzunehmen.

Von Eberhard Falcke | 13.08.2006
    Auch mancher argentinische Schriftsteller hat sich in den letzten Jahren darauf besonnen, dass im Tango allerhand Potential an Stoffen, Themen, Geschichten und - nicht zuletzt - internationaler Publikumswirksamkeit steckt. Allerdings zeugen die Sortimente der Buchhandlungen an der Avenida Corrientes, der Straße der Theaterbühnen und Bücher, überhaupt von einem immensen Interesse für die eigene Geschichte, die nationalen Mythen sowie die immer wieder neu aufgelegten Krisen in Politik und Wirtschaft. Die Namen und Denkmäler der militärischen oder politischen Staatsmänner sind ohnehin im öffentlichen Raum allgegenwärtig. Carlos Gardels Porträt mit Hut jedoch steht als populäres Heiligenbild über allen. 2003 wurden Gardels Originalaufnahmen durch die UNESCO zum Weltdokumentenerbe erhoben.

    Ausgerechnet mit der Stimme des berühmtesten, des archetypischen Tangosängers aber will sich Horacio Vázquez-Rial in seinem Roman mit dem Titel "Der Mann, der sich Carlos Gardel nannte" nicht im mindesten befassen.

    Als Künstler interessiert er mich nicht. Ich denke gar nicht daran, diese ganzen Nachforschungen auf mich zu nehmen, um dann ein Buch über den Sänger Gardel zu schreiben. Das ist längst geschehen. Es gibt hervorragende Bücher; alle seine Auftritte, alle seine Filme, alle seine Platten, alle seine Kompositionen sind vollständig katalogisiert ... In meinem Buch singt Gardel nicht. Wozu auch? Ich will nicht in Redundanzen verfallen.

    So jedenfalls spricht Romeu, der im Roman als Erzähler fungiert. Er berichtet darüber, was er über den "Zorzal criollo", den "kreolischen Singvogel" vom Rio de la Plata an sensationellen und entlarvenden Erkenntnissen herausgefunden hat. Und dabei geht es ihm eben um vermeintlich Wichtigeres als um dessen Lieder: Nämlich um Leben und Tod, Verbrechen und Ruhm, Schein und Sein. Schließlich steckt hinter den schönen Hüllen der Stars bekanntlich oft genug etwas ganz anderes als uns das öffentliche Maskenspiel weismachen will. Gardel war so ein Fall und das nicht unbedingt zum Leidwesen seiner Verehrer. Schließlich waren die Rätsel, Geheimnisse und Widersprüche seiner Biographie ein Garant für ein bewegtes Nachleben, in dem es an Stoff für Kontroversen, Forschungen, Entdeckungen und heiß umstrittene Thesen nicht fehlte. Und wie Vázquez-Rial beweist, lassen sich daraus auch noch sieben Jahrzehnte nach Gardels Tod literarische Funken schlagen.

    Tatsächlich beginnt der Roman buchstäblich mit einer Explosion, das heißt mit jenem Zusammenstoß zweier Flugzeuge, bei dem der Sänger zusammen mit neun anderen Insassen, darunter einige seiner Musiker, auf schreckliche Weise umgekommen ist. Das geschah am 24.Juni 1935 in der kolumbianischen Stadt Medellín.

    Paulino Losada sah es vom Gebäude des Flugplatzes Las Playas aus. Er hörte die Zündung der Motoren. Er sah die F-31 über die Starbahn kommen, hundert Meter, zweihundert, zweihundertfünfzig...
    Er hörte den Knall einer Feuerwaffe, ohne dass er in diesem Moment gewußt hätte, was er hörte, noch, was dieser Ton dort zu bedeuten hatte.
    Er sah die F-31 die Rollbahn verlassen und noch etwa hundert Meter zurücklegen.
    Er sah auch, wie sie den Kurs korrigierte oder ihn vollständig verlor, noch einmal durchzustarten versuchte, sich einige Meter erhob und, ohne den Boden zu berühren, auf die Manizales zuschoß, in sie hineinraste, sich bei ihrem halb seitlichen Aufprall am Bug der deutschen Maschine eine Tragfläche brach, weiter und weiter preschte, bis ein mächtiger, guillotinesker, invasorischer Flügel von vorn in die Kabine der kolumbianischen F-31 eindrang und sie vollständig durchfuhr.
    Und danach sah er das Feuer alles einhüllen, alles vermischen, alles einen und trennen und an einem beliebigen Punkt einer Geschichte eine neue beginnen, die tief in die Vergangenheit zurückreichte und noch lange andauern würde.


    Für den spanischen Journalisten Paulino Losada wird sich die Geschichte wenigstens bis ins Jahr 1996 fortsetzen. Da bekam der mittlerweile Vierundachtzigjährige häufig Besuch von Romeu, der ihn über seine Erinnerungen und Schlussfolgerungen hinsichtlich des Flugzeugunglücks befragte und die Gespräche auf Tonband aufnahm. Was nichts anderes heißt, als dass es sich bei diesem Roman um die Geschichte einer Recherche über die umstrittenen Aspekte von Gardels Biographie handelt. Romeus Gespräche mit Zeitzeugen und Gewährsleuten bilden den roten Handlungsfaden des Romans, dazwischen eingeschaltet sind erzählerische Vergegenwärtigungen verschiedener Stationen aus dem Leben von Gardel.

    Der Augenzeuge Paulino Losada ist eine Romanfigur, ebenso wie der investigative Gardel-Forscher Romeu. Zugleich gibt es für beide reale historische Vorbilder, ganz abgesehen davon, dass Romeu nicht zuletzt auch als narrative Maske seines gleichaltrigen Autors Vázquez-Rial dient.

    Aber wer ist das eigentlich, dieser Horacio Vázquez-Rial? Geboren wurde er 1947 in Buenos Aires, er lebt aber schon seit Jahrzehnten in Barcelona. Dort studierte er Geschichte und Geographie, dort schreibt er für spanische Tageszeitungen. Seine Sachbücher und Romane beschäftigen sich vorwiegend mit argentinischen Themen. Er verfaßte eine Perón-Biographie und auch der Roman, mit dem er im vergangenen Jahr erstmals auf dem deutschen Buchmarkt erschien, ist unter dem hitzigen Titel "Tango, der dein Herz verbrennt" der Vergangenheit seines Landes gewidmet. Wobei sich schon Gelegenheit bot, den Troubadour dieser Stadt, ihrer Glücksmomente und Verhängnisse, auftreten zu lassen, wenn auch keineswegs als Lichtgestalt.

    "Arrabal amargo" - "Vorstadt, bittere,/Du lastest auf meinem Leben/ wie ein Urteil,/wie ein Fluch."

    Gardel wuchs in sehr bescheidenen Verhältnissen in der Vorstadt auf und dort blieb er auch, als er - schon berühmt - ein einfaches Haus in der Calle Jean Jaurés kaufte, ganz in der Nähe des "Mercado de Abasto", des großen Lebensmittelmarktes. Als "el Morocho del Abasto" erwarb er sich dort in einem Gesangsduell mit seinem späteren Partner José Razzano ersten Ruhm. Gardels Probleme jedoch wurzelten nicht in seiner einfachen sondern in seiner ungewissen Herkunft.

    Auch die Umstände seines frühen Todes geben Anlass zu zweifeln, dass es sich bei dem Flugzeugzusammenstoß um einen schlichten Unfall handelte. Dass bei dem Unglück auch niedrige menschliche Beweggründe mitgespielt haben könnten, dafür liegen schon seit langem zahlreiche Hinweise vor. Bereits in den vierziger Jahren machte ein argentinischer Experte darauf aufmerksam, dass zwischen den Gesellschaften und den Piloten der an dem Zusammenstoß beteiligten beiden Flugzeuge eine feindselige Konkurrenz herrschte. Im einen Fall handelte es sich um eine kleine kolumbianische Fluggesellschaft, im andern um ein deutsch-kolumbianisches Unternehmen. Es war von deutscher Seite vor allem deshalb gegründet worden, um unter Umgehung des Versailler Vertrags die Grundlagen für eine künftige deutsche Luftwaffe zu schaffen. Vor diesem Hintergrund entwickelt Vázquez-Rial seine Romanversion des Unglücks. Derzufolge habe ein deutscher Scharfschütze den Piloten der kolumbianischen Passagiermaschine erschossen, woraufhin diese dann führerlos in das andere Flugzeug geknallt sei. Zweifellos eine kühne These, die aber der Legende immerhin eine weitere Pointe hinzufügt: Damit wäre nun auch Gardel noch unter die Opfer des Nazi-Regimes einzureihen .

    Gewiß ist jedenfalls, dass es Schwierigkeiten bei der Identifikation der Leichen gab. Darüber sinnierend gelangen der verantwortliche Arzt und der spanische Journalist Losada im Roman zu der Schlussfolgerung:

    Die Toten sind eine Erfindung ... Auch die Lebenden sind eine Erfindung.

    Das ist das Leitmotiv des Romans. Vázquez-Rial hält sich an den Grundsatz "Nichts ist so, wie es scheint" und beschreibt haargenau, wie ihm scheint, dass es war. Gardels Geburt zum Beispiel in der Nähe des uruguayischen Städtchens Tacuarembó. Da dringt der Roman tief ein in die Welt eines uruguayischen Provinzcaudillos am Ende des 19. Jahrhunderts, in den engen von Diktatur, Gewalt und Willkür zusammengehaltenen Machtbezirk des Carlos Escayola, der sich fälschlich den militärischen Grad eines Coronel anmaßte und der, neben vielen anderen Gemeinheiten, die Schwester seiner Ehefrau schwängerte. Woraus, so besagt die uruguayische Herkunftsversion, ein Sohn entsprang, der dann, um alles zu vertuschen, schnell der aus Toulouse zugewanderten Französin Berta Gardés untergeschoben wurde. Vielen Argentiniern, darunter auch die Leitung der Gardel-Museums in Buenos Aires, gilt immer noch sie als die wahre Mutter des berühmten Landsmannes, den sie sich nicht als gebürtigen Uruguayer vorstellen wollen. Das aber waren nicht die einzigen Gründe, warum Gardel unter Identitätsschwierigkeiten zu leiden hatte.

    'Gardel machte sich zu Gardel. Er machte sich einen Namen und musste ihn mit seinem Körper behaupten, oftmals gegen seinen Körper. Heute ist er eine Stimme und ein Erscheinungsbild, ein Beau im Smoking oder als Edelgaucho herausgeputzt, ebenso kinematographisch wie inexistent.'
    ‘Und fett. Er war sehr fett...'
    ‘Extrem fett. Als er anfing und auch noch als er 1916 sein Kinodebüt gab... Die Angaben über Gardels genaues Gewicht differieren unwesentlich, jedenfalls war es hoch: hundertvierzehn bis hundertachtzehn Kilo. Und er war einen Meter siebenundsechzig oder achtundsechzig groß, was auf ein Übergewicht von fünfzig Kilo schließen läßt. Bei einem Kerl von dreiunddreißig Jahren! Gardel boxte in einem Club, mit allem, was dazugehört. Er machte Gymnastik und lief jeden Tag drei Kilometer.'
    ‘Ganz schön hart!'
    ‘Schiere Willenskraft. Man muss sich einer Sache schon sehr sicher sein, um so etwas zu machen. Und um so viel für Kleidung auszugeben wie er, schließlich waren seine Mittel äußerst beschränkt, für Anzüge, die eine Schulterbreite vortäuschten, die er nicht besaß, und für Spezialschuhe mit Absätzen und Einlagen.'


    Ganz zu schweigen von den fehlenden Backenzähnen auf Grund kindlicher Mangelernährung und gar nicht zu reden von den zahlreichen moralischen Schönheitsfehlern, die ein schwieriges Leben fast unvermeidlich mit sich bringt. Der junge Sänger musste sich durchschlagen und zunächst war es nicht die Musik, die ihn ernährte. Diebstähle, Zuhälterei, Schlägereien gehörten zur Alltagsbewältigung solange die Bühnenscheinwerfer das Zwielicht der Gassen und Kaschemmen noch nicht abgelöst hatten. Und vor allem, so gibt Vázquez-Rial in seinem Roman zu bedenken, sei es gewiss Gardels Tod gewesen, der dessen Ruhm und Mythos in jene Umlaufbahn hinaufgetragen habe, in der er seitdem unangefochten um den Globus kreist. Denn vor dem Unglück habe Gardels Stern bereits zum Sinkflug angesetzt, die Säle seien nicht mehr voll geworden, man habe ihn gelegentlich schon ausgepfiffen und finanziell sei es auch abwärts gegangen. Wegen verlorener Pferdewetten zum Beispiel. Gardel wusste, was das hieß, wenn er von einer Pferdewette sang, die um eine Kopflänge verloren ging, und vom Leben und Lieben, die einer Wette gleichen. Komponiert hat er diesen Tango in seinem Todesjahr 1935, der Text stammt von Alfredo LePera, der ebenfalls in dem Flugzeug umkam.

    Vázquez-Rial demontiert - oder sollen wir sagen: dekonstruiert? - seinen Titelhelden gründlich. Doch der Gefahr, ihn dabei zu vernichten, entgeht er. Die flackernde Identität von Gardel, die längst zu einem Teil seines Mythos geworden ist, wird dadurch wie noch nie zuvor analysiert und auf den Punkt gebracht. Denn wie sein berühmtester Sänger war eben auch der Tango ein Mischwesen: Sowohl ein Sproß der regionalen kreolischen Herrschaftskultur als auch ein Zögling des ärmlichen europäischen Einwanderermilieus.

    Im Stadtbild von Buenos Aires ist Carlos Gardel allerdings längst, wie jeder populäre Mythos, zu Pappmaché geworden, zur Reklame und, wie übrigens auch Borges, zur Gipsfigur. Manchmal sieht man seine Gestalt, etwa im Park vor dem Recoleta-Friedhof, wo Besucher in das Gitter des Grabmals von Evita Peron Blumen flechten. Ein etwas kurz geratener Mann in Hut und Anzug hofft neben seinem Kassettenrecorder auf eine kleine Spende. Aus den Lautsprechern klingen krächzend "Mi noche triste", "Si soy así", "Mi Buenos Aires querido" und andere klassische Gassenhauer.

    Zum Gardel-Kult gehört die Behauptung, dass Carlito seit seinem Tod jeden Tag noch besser singe. Desgleichen ging es mit dem Tango weiter, mal besser, mal weniger. Auch die fulminante Piazzolla-Revolution ist inzwischen Geschichte. Danach hat die Postmoderne den Weg zu weiteren stilistischen Freiheiten eröffnet, und von Patricia Barone wird sie in "Tiem-Posmodernos" sogar besungen. Um die entscheidenden großen und kleinen Fragen des Lebens geht es dabei nach wie vor.

    Horacio Vázquez-Rial: Der Mann, der sich Carlos Gardel nannte
    Roman. Aus dem argentinischen Spanisch von Petra Zickmann und Stine Lehmann. Piper Verlag, München 2006. 374 Seiten, Euro 22,90.