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Buch über Boko Haram
Aus dem Innenleben einer Terrorgruppe

"Bring back our girls" - dieser Slogan verbreitete sich vor gut 500 Tagen weltweit über den Kurznachrichtendienst. Die von Boko Haram damals entführten Internatsschülerinnen sind immer noch nicht gefunden und die Terrorgruppe bedroht Nigeria bis heute. Der Journalist Mike Smith hat ein Buch über Boko Haram geschrieben - ein wichtiges Werk über ein komplexes Phänomen.

Von Marc Engelhardt | 31.08.2015
    Ein Plakat der regierenden Partei APC fordert in Nigeria zum Kampf gegen die Terrorsekte Boko Haram auf
    Plakate für den Kampf gegen die Terrorsekte Boko Haram. (AFP / PIUS UTOMI EKPEI)
    Die Stimme von Abubakar Shekau macht am 5. Mai 2014 eine Terrorgruppe weltbekannt. In seiner fast einstündigen Videopredigt bekennt Shekau sich zur Entführung von 276 Mädchen aus einem nigerianischen Internat und tönt: "Ich habe immer gesagt, dass die westliche Bildung beendet werden muss." Seine Bewegung trägt diese Forderung im Namen: Boko Haram, "Westliche Bildung ist Sünde" wird sie genannt. "Boko Haram" heißt auch das Portrait der Terrorgruppe, das der Agenturjournalist Mike Smith geschrieben hat. Darin schildert er detailliert, wie die Gruppe schon Jahre zuvor ungehindert brutale Massaker mit Tausenden Toten verübte. Wie das passieren konnte, erklärt sich für Smith aus der Geschichte.
    "Man muss nicht nur die Gründung von Boko Haram betrachten, sondern auch die komplizierte Geschichte Nigerias und des Islams in Westafrika sowie die tief verwurzelte Korruption, die den größten Ölproduzenten, die größte Volkswirtschaft und das bevölkerungsreichste Land Afrikas an jeglicher Entwicklung gehindert hat, sodass die Mehrheit der Bevölkerung nach wie vor in bitterer Armut lebt."
    Smith beschreibt die anhaltende Strahlkraft des dschihadistischen Predigers und Volkshelden Usman dan Fodio, der Anfang des 19. Jahrhunderts das mächtige Kalifat von Sokoto gründete. Sein Mythos dient Boko Haram als Propagandavorlage für den eigenen Gottesstaat. Dass dan Fodios Erben ein aufgeklärtes Kalifat führten, in dem auch Frauen herrschten, blendet Boko Haram aus. Nicht die einzige Widersprüchlichkeit der Islamisten, wie Smith zeigt. Mal behauptete Boko Haram-Gründer Mohammed Yusuf, die Welt sei flach, dann wieder, der Regen werde von Allah persönlich aus dem Himmel gegossen. Seine Anhänger, vor allem perspektivlose Jugendliche ohne Schulbildung, feierten ihn dennoch schnell als Volksheld.
    "Der Aufstieg eines Mannes wie Mohammed Yusuf im Nordosten Nigerias mag als vorhersehbar erscheinen. (...) Als Yusuf begann, seine Bewegung aufzubauen, waren Bildung und Wohlstand in dieser Region (...) ins Hintertreffen geraten. Im Studienjahr 2000/2001 stellte der Nordosten den geringsten Anteil der Studienanfänger an nigerianischen Universitäten - es waren nur vier Prozent aller Erstsemester des Landes."
    Inmitten von Arbeitslosigkeit, Not und Korruption findet Yusuf willige Anhänger, die auf eine bessere Zukunft hoffen. Für ihn selbst ist es das Ende einer langen Radikalisierung, die auch durch seinen Ausschluss aus gemäßigteren Moscheen befördert wird. Überhaupt ist die Chronik, die Smith schreibt, eine Chronik in Grautönen. Es reicht oft aus, dass er Ereignisse schlicht dokumentiert: das Massaker von Maiduguri 2009 etwa, wo eine Auseinandersetzung am Rand einer Beerdigung zu einem fünftägigen Bürgerkrieg eskaliert, in dem Boko Haram-Sympathisanten, aber auch Polizisten und Soldaten mehr als 800 Menschen töten. Yusuf wird kurz darauf festgenommen, verhört und erschossen.
    Vieles über Boko Haram ist nicht bekannt
    Ein Jahr verschwindet Boko Haram, dann taucht die Gruppe wieder auf. Unter Führung von Abubakar Shekau mordet und entführt sie, erpresst Lösegeld, zündet Kirchen an und wird immer blutrünstiger. Im Gegenzug gehen Polizei und Militär brutal gegen jeden vor, der verdächtig sein könnte. Nach dem Mord an einem Soldaten in Baga etwa stürmt eine Einsatztruppe die Stadt.
    "Die Soldaten begannen wahllos zu schießen, auf alles, was sich bewegte, sogar auf Haustiere. (...) Anwohner beschuldigten die Soldaten darüber hinaus, aus Rache ganze Wohnviertel in Brand gesetzt zu haben. Dem Polizeibericht zufolge wurden mindestens fünf Bezirke dem Erdboden gleichgemacht. Nach Angaben des Roten Kreuzes wurden 187 Menschen getötet."
    Nigerias Eliten sind korrupt, daran lässt Smith keinen Zweifel. Da wirkt es doch naiv, dass er Vorwürfen, dass eben diese Eliten sich Boko Haram schon früh zu Nutze machten und im Gegenzug alimentierten, nicht nachgeht. Nur auf 2 der 288 Seiten ist von der Finanzierung der Gruppe die Rede, ohne schlüssige Antworten zu liefern. Dabei steht fest, dass der Aufstieg von Boko Haram zu Afrikas gefürchtetster Terrorgruppe teuer war. Ohne Geld von mächtigen Gönnern wäre er kaum möglich gewesen. Es ist schade, dass Smith dieser Frage nicht mehr Beachtung schenkt.
    Überhaupt fällt beim Lesen auf, wie viel über Boko Haram eben nicht bekannt ist. Nicht einmal das Geburtsjahr Abubakar Shekaus kennt man, vom Überfall auf das Internat von Chibok gibt es diverse Versionen - von der Strategie und den Zielen Boko Harams weiß man schon gar nichts Detailliertes, zumal Smith betont, dass es sich bei Boko Haram längst nicht mehr um eine Gruppe, sondern um viele unabhängige Zellen handelt.
    Eindrucksvoll ist das Abschlusskapitel, in dem Smith die Geschichte eines Polizisten erzählt, der seit einem Boko-Haram-Überfall gelähmt ist. An ihm beschreibt der Autor die Verfehlungen des Staates, die den Terroristen den Boden erst bereitet haben, und wagt eine düstere Prognose:
    "Die Debatte über Boko Haram, die internationalen Verbindungen und Dschihad-Ambitionen der Terrorgruppe wird und sollte weitergehen. Sie ist jedoch für jene, die tagtäglich mit der Realität der Gewalt konfrontiert sind, fast irrelevant. Das Problem ist kein Geringeres als der derzeitige Zustand Nigerias und die Art, wie das Land beraubt wird - seines Reichtums und, wichtiger noch, seiner Würde."
    Solche meinungsstarken Aussagen wünscht man sich auch an anderen Stellen des Buches. Trotzdem: Mit "Boko Haram" ist Mike Smith ein wichtiges Buch über ein komplexes Phänomen gelungen, das Nigeria und der Welt noch lange erhalten bleiben wird.
    Mike Smith: "Boko Haram. Der Vormarsch des Terror-Kalifats". Aus dem Englischen von Ursula Pesch, Karlheinz Dürr und Karsten Petersen, 288 Seiten , C.H. Beck Verlag, 14,95 Euro.