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Buch über Engelbert Humperdinck
"Märchenerzähler und Visionär"

Ein "One-Hit-Wonder" könnte man ihn nennen: den Komponisten Engelbert Humperdinck. Seine Oper "Hänsel und Gretel" machte ihn weltweit berühmt, überstrahlt jedoch bis heute seine anderen Werke. Anlässlich Humperdincks 100. Todesjahres beleuchtet ein neues Buch dessen vielfältiges Leben und Schaffen – auch jenseits der Märchenoper.

Von Christoph Vratz | 05.04.2021
Der Komponist (u.a. "Hänsel und Gretel") in einer zeitgenössischen Aufnahme. Engelbert Humperdinck wurde am 1. September 1854 in Siegburg geboren und ist am 27. September 1921 in Neustrelitz gestorben.
Engelbert Humperdinck wurde am 1. September 1854 in Siegburg geboren. (picture alliance / dpa)
Zum Weihnachtsfest 1888 schreibt Engelbert Humperdinck ein kleines Liederspiel über das Märchen von Schneewittchen. Aufbruch und Neubeginn? Irgendwie schon… Denn anderthalb Jahre später wagt sich Humperdinck, ebenfalls in kleinem Rahmen, an "Hänsel und Gretel".
"Das halbstündige Liederspiel in drei Auftritten enthält bereits Humperdincks Tanzlied 'Brüderchen, komm, tanz mit mir' sowie den Morgenweckruf 'Tirelireli'. Das Werk ist für den 34. Geburtstag des Schwagers Hermann Wette gedacht. Es erklingt erstmals in der Kölner Wohnung der Wettes in der Gereonsmühlengasse Nr. 20 am 16. Mai 1890." (Zitat aus dem Buch)

"Welch blühende Erfindung"

Aus dieser Keimzelle erwächst in mehreren Etappen ein Welterfolg. Aus dem Liederspiel wird ein Singspiel, aus dem Singspiel eine Oper. Die Uraufführung soll in München, dann in Karlsruhe erfolgen. Doch in beiden Ensembles häufen sich winterbedingt die Grippefälle. Aber auch in Weimar gibt es einen glühenden Anhänger der neuen Musik, der schließlich im Oktober 1893 die erste Aufführung von "Hänsel und Gretel" dirigieren wird, Richard Strauss:
"Welch herzerfrischender Humor, welch köstlich naive Melodik, welche Kunst und Feinheit in der Behandlung des Orchesters, welche Vollendung in der Gestalt des Ganzen, welch blühende Erfindung, welch prachtvolle Polyphonie."
Szene aus der Oper "Hänsel und Gretel" an der Staatsoper in Wien: Michaela Schuster (R) als "Knusperhexe", Daniela Sindram (M) als "Hänsel" und Ileana Tonca als "Gretel".
Ausstellung zu Engelbert Humperdinck Ein Lebkuchenhaus im Wald, eine böse Hexe, die Kinder frisst: Die Oper "Hänsel und Gretel" machte Humperdinck über Nacht zum Millionär. Eine Ausstellung in Siegburg über seine Karriere und sein Leben zeigt, wie die Firma und Familie Humperdinck funktionierten.
Schon wenig später beginnt der Siegeszug der neuen Oper durch ganz Europa. Auch der deutsche Kaiser, Wilhelm II., gratuliert dem Komponisten persönlich. Entsprechend nimmt Humperdincks größter Erfolg auch einen zentralen Platz in Matthias Corvins neuem Buch ein: "Märchenerzähler und Visionär. Der Komponist Engelbert Humperdinck" – so lautet der Titel, und darin angedeutet ist bereits die doppelte Ausrichtung des Biographen. Einerseits bilden Märchen eine feste Säule in Humperdincks musikalischer Welt, andererseits ist er mehr als der betuliche Verwalter alter Traditionen an der Schwelle zum 20. Jahrhundert.

Aufenthalt in der Parsifal-Kanzlei

Wesentliche Anregungen erhält der 1854 im rheinischen Siegburg nahe Bonn geborene Humperdinck durch Richard Wagner. Während eines Italien-Stipendiums rafft er seinen Mut zusammen und macht sich auf zur Villa Doria D'Angri in Neapel. Dort sitzt Wagner gerade über der Partitur seiner neuen Oper "Parsifal". Wagner ist offenbar beeindruckt von der Keckheit des jungen Mannes und lädt ihn prompt nach Bayreuth ein: nicht als Besucher, sondern als sein Assistent! Humperdinck soll die geplante Uraufführung des "Parsifal" betreuen:
"Im Wirtshaus […] in der Kanzleistraße bezieht Humperdinck eine geräumige Wohnung im zweiten Stock. In zwei Zimmern wohnt er, der restliche Bereich wird zum Arbeitsraum umfunktioniert, der so genannten 'Parsifal-Kanzlei'. […] Außerdem gibt er zwei Töchtern der Wagner-Familie Klavierunterricht." (Zitat aus dem Buch)

Tagebuch vom Grünen Hügel

Humperdinck saugt das Geschehen auf dem Grünen Hügel tief in sich auf. Wagner betraut ihn sogar mit der Abschrift der "Parsifal"-Partitur, deren Fassung später als Vorlage für den Druck dienen soll.
"Humperdincks Bayreuther Assistenz bei der 'Parsifal'-Uraufführung ist in Kalendernotizen und Briefen minutiös dokumentiert. Termine der Einzelproben, Einwände Wagners, Gespräche mit den Beteiligten und Restaurantbesuche sind darin festgehalten. Humperdinck ahnt wohl, dass diese Aufzeichnungen später von unschätzbarem Nutzen sein werden." (Zitat aus dem Buch)
Apfel in einer Hand.
"Es klang einmal" Maurice Ravel, Alexander von Zemlinsky, Engelbert Humperdinck: Sie alle setzten Märchen in Musik um. Diese Reihe erzählt von den Lebenslagen der Komponisten, von den Geschichten hinter den Geschichten.

Seine Begeisterung für Wagner zeigt sich auch in der Folgezeit auf verschiedenerlei Weisen. So bearbeitet Humperdinck Ausschnitte aus dem "Parsifal" für Orchester, für Kammermusik-Ensemble und für Klavier vierhändig. Auch stilistisch schlagen sich die Wagner-Erfahrungen in seinen Werken nieder. Doch Engelbert Humperdinck ist weder Epigone noch radikaler Erneuerer:
"Humperdinck erlebt seine suchenden Wanderjahre und findet zwischen den romantischen und naturalistischen Strömungen seiner Zeit schnell seinen eigenen Weg. […] Bei Humperdinck findet durchaus Innovation statt, doch stets auf einer leiseren Ebene. Zugleich ist er ein Komponist, der inmitten einer sich wandelnden Welt dennoch dem 19. Jahrhundert verbunden bleibt. Auf der Basis dieser Tradition entwickelt er seine eigenen Ideen." (Zitat aus dem Buch)

Melodram als Innovation

Der Kölner Autor und Musikwissenschaftler Matthias Corvin zeichnet das Bild eines menschlich sehr zugewandten, äußerst toleranten Mannes, nie polemisch polternd, und das eines Komponisten, der nie wider die eigene Ästhetik komponiert. Dennoch findet er sehr wohl Wege, wo er innovativ auftritt. Etwa beim Melodram, der engen Verbindung von Rezitation und Musik. So auch in seiner Oper "Königskinder".
"Das Melodram soll in 'Königskinder' die reinen Sprechpassagen ergänzen. Humperdinck schwebt allerdings 'ein Melodram großen Stils', und zwar 'in einer Form, wie sie bis jetzt noch nicht dagewesen ist'." (Zitat aus dem Buch)
Humperdinck möchte, in Anlehnung an und gleichzeitiger Distanz zu Wagner, eine Einheitlichkeit von Text und Musik. Daher folgt rund ein Fünftel der Oper seinen Ideen von fließenden Übergängen und einer Verschmelzung des gesprochenen und des gesungenen Wortes.

Ergebnis einer genauen Recherche

"Im Gegensatz zu anderen Melodramen […] fixiert Humperdinck seinen Sprechgesang mit einer speziellen, ganz eigenen Notenschrift. Darin sind 'Zeitdauer und Höhenlage der zu rezitierenden Worte genau vorgeschrieben'. Der Rhythmus ist aus dieser Kreuznotenschrift klar ablesbar. Bei der festgesetzten Tonhöhe handelt es sich jedoch um eine 'relative' und 'nicht die absolute', erklärt Humperdinck." (Zitat aus dem Buch)
Auf knapp 300 Seiten erweist sich Matthias Corvins Buch als das Ergebnis einer genauen Recherche. Dass der Band auch ein größeres Publikum erreichen kann, verdankt sich einem hohen Maß an sprachlicher Anschaulichkeit, die jederzeit frei bleibt von Fluchten in den musikwissenschaftlichen Elfenbeinturm. Ein umfangreicher Anhang – unter anderem mit Werkverzeichnis und Diskographie – rundet den positiven Gesamteindruck ab.
Matthias Corvin: "Märchenerzähler und Visionär. Der Komponist Engelbert Humperdinck", Schott Verlag, 292 Seiten, 22,99 Euro