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Buch über Abschiede

"Krieg und Welt" als Überschrift, die Spionagetätigkeit des eigenen Vaters als Ausgangspunkt. Der neue Roman von Peter Waterhouse ist dennoch kein Agententhriller, und er dreht sich auch nicht um den britischen Geheimdienst. Wenn schon ein Motiv oder ein Leitgedanke genannt werden soll, dann geht es um eine gewisse Art von "Themenlosigkeit" in diesem Buch.

Von Cornelia Jentzsch | 04.12.2006
    "Das, was in der Literaturkritik scheinbar so relativ selbstverständlich gesagt wird, das Buch handelt von einer Familie oder Liebe oder Trennung, Tod und Krankheit, et cetera oder gar Politik und Gesellschaft, also das bezweifle ich schon bei anderen Büchern. Aber auch bei diesem würde mich interessieren, was ist denn thematisch so stark in dem Buch? Oder gibt es tatsächlich die Möglichkeit, erzählend vorzugehen, ohne Themen zu berühren?"

    Allein der an Tolstois Roman "Krieg und Frieden" angelehnte Titel besteht aus einem Ausweichmanöver.

    "Vielleicht ist an dem russischen Titel oder an dem Titel von Tolstoi aufgefallen, mir aufgefallen - obgleich das Wort Frieden im Titel enthalten ist - , dass die Sache, oder der Zustand in diesem Roman ja gar nicht vorkommt. Also, ich wüsste nicht, wo dort Frieden ist, es ist durchgängig ein Kriegsroman, so dass man über das Wort Frieden eben ins Grübeln kommt und ob das überhaupt Frieden sei."

    Bewusst stellt Peter Waterhouse nicht nur seinen eigenen Romantitel, sondern überhaupt jegliche Übertitelung und damit eine von vornherein festgelegte Vorgabe in Frage.

    Gelernt hat Peter Waterhouse die Effektivität des Infragestellens - das bedeutet, das Wesentliche gerade im Ausweichenden, Abwesenden oder Ungesagten zu entdecken - eigentlich schon als Kind. Ein Umweg blieb ihm oft als Einziges übrig, wollte er seinem Vater begegnen.

    Woraus besteht ein Vater, der für Tage, Wochen und Monate plötzlich sang- und klanglos verschwindet. Weder Frau noch Kind erzählt der Vater, dass er wieder einen Auftrag vom britischen Geheimdienst erhalten hat. Er verschweigt hartnäckig, wohin er geht, wo er ist und was er während seiner Abwesenheit tut. Zwangsläufig lernt das Kind: Wenn es als Sohn in die tatsächliche Nähe seines Vaters kommen will, muss es bei dessen Rückkehr in die unbenannten, offen gelassenen Zwischenräume schlüpfen und die beiläufig ausgestreuten Zeichen nur deuten. Es lernt mit unsichtbaren Spuren umzugehen, die der Vater-Spion, zur strengen Geheimhaltung verpflichtet, absichtslos in der eigenen Familie zurücklässt. Die väterlichen Indizien bestehen ausschließlich aus Ungesagtem, Verwischtem, Beiläufigem, Unwesentlichem, Nebensächlichem. Mit diesem als Kind erlernten Alphabet, inzwischen verfeinert und vervollkommnet, begann der erwachsene Sohn schließlich dieses Buch zu schreiben, das eine nochmalige Annäherung an seinen Vater, ein letzter Verständigungsversuch mit ihm und gleichzeitig ein beginnendes Abschiednehmen werden sollte. Da selbst im hohen Alter der Vater sich noch immer einem klärenden Gespräch verweigerte, musste der Sohn sprechen, auf die ihm einzig verbliebene, mögliche Art und Weise.

    "Das Ich in diesen Zuständen der Themenlosigkeit, verliert ja seinen Beobachterstatus, seine Beobachterhaltung, der Sohn beobachtet ja nicht mehr den Vater, er will ja auch nicht mehr Indizien entdecken für seine dienstlichen Aktionen weiß Gott wo, er ist ja kein Aufklärer, kein Forscher, vor allem kein Beobachter. Der Beobachter scheint ja derjenige zu sein, der für den Geheimdienst gearbeitet hat, der hat beobachtet, vor allem vermeintlich den Gegner beobachtet. Die Alternative zum Beobachten, zur Beobachterei des Kalten Kriegs, gegenseitiges Beobachten von DDR und BRD, das war ja ein großes vermeintliches gegenseitiges Beobachten. Der Erzähler des Buches findet die Alternative im Aufgeben des Beobachtens, das beobachtende Subjekt wird unwichtig."

    "Krieg und Welt" ist ein Antibuch, es revoltiert gegen die bedingungslose Behauptung von Werten, Kriterien und Wichtigkeiten. Aber schon das Wort Anti ist falsch, denn die Methode ist kein Gegen, kein Frontal, sondern ein vorsichtiges wie präzises Weglassen von Zentralperspektiven, Domänen und genormten Kategorien. Das Buch verweigert sich jeder handelnden oder verbalen Machtposition - wie sie für Waterhouse in solchen Begriffen wie eben "Thema", "Interview" oder "Geschichtsschreibung" liegt. Es verweigert sich mit allen daraus folgenden Konsequenzen.

    "Der Erzähler, Sohn und Erzähler, denkt nach über dieses Wort Interview und auch über die Tatsache, dass es in Anführungsstriche gesetzt wird. Interviewsituation als Befragung. Er erkennt seinen Forschungsdrang und seine Fragerei als ein Interview, oder etwas verschärfter schärfer formuliert, denn darum geht es bei diesen Interviews damals, er erkennt, dass es eine Art Verhör ist, gerade zu eine verbale Folter, in einen Menschen eindringen zu wollen. Ihn zu nötigen, zu antworten. Das heißt, auf ein Thema hin zu antworten.

    Die Frage, was hast Du an der nordburmesischen, südchinesischen Grenze beruflich zu tun gehabt, dass da eine Form versteckter Gewalt im Fragen enthalten ist. Das wird, glaube ich, dem Erzähler und Fragenden in diesem Verhältnis Vater und Sohn klar. Und er hört mit dem Fragen auch auf, und auch mit dem Thematisieren. Das ist eines der verfolgendsten Wörter, die uns umgeben. Das Kernwort sämtlicher Nachrichten und sämtlicher öffentlichen Redeformen : Ich thematisiere etwas. Sämtliche Erzählungen dieses Buches rebellieren gegen diese Form von Gewalt, die Thematisierungsgewalt. Dieses Behaupten einer Wichtigkeit, das Fokussieren, das Ausschalten alles anderen, aller störenden Einflüsse, die Auflösung des Chaotischen zugunsten von einer Thematisierung. Da wendet sich das Buch einem anderen Vorgang zu, das eher etwas ist wie Entthematisieren."

    Der Roman "Krieg und Welt" verweigert sich nicht nur einem Thema, sondern auch hartnäckig seiner vorgegebenen literarischen Gattung, er changiert eher zwischen Erzählung, Essay, philosophischer Betrachtung, Poetologie, Biogradie, Sprachanalyse - und ist doch keines von allem. Sicher lässt sich nur sagen, dass der Roman eine bedingungslose Suche nach der dialektischen Wechselbeziehung zwischen Anwesendem und Abwesendem ist. Wie lassen sich Werte im menschlichen Leben überhaupt definieren, doch auch das Wort definieren geht fehl.

    Peter Waterhouse untersucht eher, wie sich etwas Wertvolles und Wesentliches im ständigen Prozess herstellt und wieder verflüchtigt. Er erforscht Substanz, Form und Bedeutung von Abwesendem und macht so das Anwesende überhaupt erst sichtbar. Er lehrt, auch das sich Verflüchtigende als etwas Dauerhaftes und Geschätztes zu begreifen, als ein Geschenk mithin, denn in der englischen Übersetzung heißt Geschenk "present", und darin steckt das Wort Präsens, also Gegenwart und Anwesenheit.

    Wie sehr sich das wie eine Waage tarierende Ab- und Anwesende in die gesamte Geschichte seiner Familie eingeschrieben hat, erzählt Peter Waterhouse bereits mit dieser kleinen Episode aus dem Leben seiner Mutter:

    "Ein Dampfer legt ab, und meine Mutter steht im Hafen von Singapur, um eine Bekannte zu verabschieden, und entdeckt oben auf dem weißen Dampfer, der nach Südamerika fahren wird, einen Mann, der im gleichen Augenblick offensichtlich auch sie entdeckt. Und in diesem Moment des Ablegens des Schiffes wirft er, so wie es Hunderte auf dem Schiff oben tun, wirft er ihr eine Papierschlange zu, und zwar genau ihr zu. Und im Moment des Ablegens gibt es dieses Papierschnürchen zwischen den beiden, und es zerreißt auch gleich, weil das Schiff ja ablegt. Und im Moment des Zerreißens empfindet meine Mutter diese Verbindung als endgültig, gegeben und nicht zerrissen. Also im Moment des Zerreißens der Papierschlange hat sie sich verliebt in diesen Mann und ist auch überzeugt davon, dass er sich in sie verliebt hat und dass es auch so bleibt."
    "Krieg und Welt" ist nicht nur ein berührendes Buch von philosophischer Qualität über Abschiede, sondern gewissermaßen auch ein sprachliches Requiem. Der Erzähler verliert nicht nur endgültig seinen Vater während der Arbeit am Roman, da dieser stirbt, sondern er verliert auch gleichzeitig jäh seine Frau viel zu früh durch Krebs. In unzähligen Variationen und Zyklen, zunächst unbemerkt, weil man die Indizien noch nicht deuten kann, doch zunehmend sichtbarer umkreist der Roman diese eine, jetzt für immer abwesende Frau. Ihrem Namen gibt der Autor erst nach langem Zögern den Weg in die Sprache frei.

    Der Grund für dieses Zögern liegt nicht nur im betäubenden Schmerz der Erinnerung: Äußerst behutsam erforscht der Autor das Unfassbare einer Abwesenheit. Zögernd und schrittweise erst begreift er, wodurch eine nicht mehr Anwesende mit unverminderter Intensität bleiben kann. Der Roman lebt von den erhellenden, überraschenden, intelligenten Details, Nebensträngen und Erinnerungsbruchstücken, die eine nicht vorhandene Geschichte, ein nicht vorhandenes Thema umkreisen und dadurch überhaupt erst Vielschichtigkeit und Dimension zulassen. Der gedankliche Zugewinn wird dem Leser allmählich bewusst.

    Am Ende dieses sogartigen Buches zeigt sich das Finale bei aller Umgehung des Erwarteten dennoch so unvermittelt und außergewöhnlich wie der eines spannenden Romans aus dem Geheimdienstmilieu. Aber anders als bei Büchern dieses Genres, die sich mit der Aufdeckung eines Falles selbst erledigen, wird man angeregt, das Buch von Peter Waterhouse erneut von vorn zu beginnen, weil man ahnt, dass man erst beim wiederholten Lesen zusammenhängend begreifen wird, was es mit den vielen unthematischen, abschweifenden und flanierenden Sätzen, Details, Fragmenten und Begebenheiten, denen man unterwegs beim Lesen begegnet ist, auf sich hat, weil man erst jetzt das Abwesende wahrnimmt.