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Buch über Russlands Geschichte
Putin will die Vergangenheit zurück

Mit seinem Buch "Hundert Jahre Revolution. Russland und das 20. Jahrhundert" will der britische Historiker Orlando Figes die bis heute anzutreffende autoritäre Staatstradition in Russland erklären. Das Buch ist lesenswert - auch wenn Figes zu Beginn mit einer Aussage zur Ukraine-Krise verwirrt.

Von Sabine Adler | 23.03.2015
    Russische Truppen vor einem Plakat des russischen Präsidenten Wladimir Putin
    Russische Truppen vor einem Putin-Plakat (dpa / picture alliance / Grigoriy Sisoev)
    Der Buch-Titel ist so einprägsam wie problematisch. Hundert Jahre Revolution - das klingt wie die permanente Revolution von Trotzki, einem der Anführer der Oktoberrevolution, der diese zusammen mit Lenin über Russland hinaus nach Europa in die Welt tragen wollte. Tatsächlich aber exportierte die Sowjetunion nicht die Revolution, sondern drückte den osteuropäischen Ländern den Sozialismus nach dem Zweiten Weltkrieg einfach auf, niemand wurde gefragt. Auch in Russland selbst gab es keineswegs unablässig Revolutionen, sondern nach Chruschtschows Absetzung vor allem Stagnation. Bei Orlando Figes beginnen "Hundert Jahre Revolution" 1891: mit einer Hungersnot im "Russland der Ikonen und der Küchenschaben", wie es Leo Trotzki formulierte. Figes spannt den Bogen bis 1991. Er erfasst ausführlich den Aufstieg der Sowjetmacht und ungleich knapper ihren Zerfall. Er räumt mit etlichen Mythen auf wie dem von der Großen Oktoberrevolution. Deren Ausmaß sei in der Sowjetgeschichte maßlos übertrieben dargestellt worden.
    "Die Große Sozialistische Oktoberrevolution - die Bezeichnung, unter der sie in der UdSSR bekannt wurde - war in Wirklichkeit so überschaubar, im Grunde nur ein Putsch, dass sie unbemerkt von der großen Mehrheit der Einwohner Petrograds verlief."
    Stalin-Terror mit Nationalsozialismus vergleichbar?
    Figes widmet den größten Teil des Buches dem beispiellosen Terror gegen das russische Volk, der seinen Anfang nahm mit der Macht der Bolschewiki. Eine Geschichte, die zum Teil zwar bekannt ist, von vielen Russen aber ungern gehört wird. Die Perestroika ermöglichte zwischenzeitlich die Öffnung einiger, bei Weitem nicht aller Archive und dies nicht dauerhaft. Was dort zutage gefördert wurde, möchte der überwiegende Teil der Bevölkerung zwischen Wladiwostok und Kaliningrad lieber nicht wissen: Dass der Aufbau des Kommunismus mit dem Terror gegen die eigenen Genossen begann, in einer Partei, die bedingungslosen Gehorsam und militärische Disziplin verlangte. Dass der Terror die Zarenfamilie auslöschte wie auch die "Bourgeoisie". Zwei Millionen Russen flohen 1920 nach Berlin und Paris. Der Terror dezimierte die verarmte Bauernschaft, die aus den Dörfern in die Städte floh und das Industrieproletariat stellte, mit dem das ländliche Russland modernisiert werden sollte. Dem sogenannten Großen Terror von August 1937 bis zum November 1938 ging eine erste "Säuberung" 1933 voraus. Die Anführer der Oktoberrevolution von 1917 wurden getötet, 102 von 139 Mitgliedern des Zentralkomitees der Partei. In etwas mehr als einem Jahr wurden anderthalb Millionen Menschen verhaftet, 1,3 Millionen verurteilt, fast 700.000 erschossen, täglich 1.500 Personen. Der Londoner Geschichtsprofessor Figes kommt zu dem Schluss, dass Kollektivierung und Industrialisierung einen so hohen Preis gefordert haben, ...
    "...dass wir über den moralischen Charakter des stalinistischen Regimes auf eine Weise nachdenken müssen, die bis dahin den Historikern des Nationalsozialismus vorbehalten war."
    Eine eigentümlich zurückhaltende Formulierung, die zugespitzt wohl sagen möchte, dass der Stalin-Terror der Sowjetunion mit seinen Millionen Opfern an die Nazi-Diktatur heranreicht. Die Vorsicht lässt ahnen, dass der Autor immer noch mit Vorbehalten gegen eine solche Betrachtung der jüngeren russischen Geschichte rechnet. Er geht auf den Widerspruch ein, dass die Sowjetunion einerseits nach langem Zögern dem Völkerbund und der Einheitsfront beitrat als Gegner des Nationalsozialismus, andererseits aber den Hitler-Stalin-Pakt abschloss. Was damit entschuldigt wurde, dass die Sowjetunion Zeit brauchte, um ihre Armee für einen Krieg gegen Deutschland zu rüsten. Für den Überfall auf Polen, die Okkupation der baltischen Länder und den sowjetisch-finnischen Krieg ist die Rote Armee aber bereits stark genug gewesen.
    Immenses Wissen angehäuft
    Hielt die Revolution kurz inne, wandte man sich der "Produktion von Seelen" zu, der Stalin nach eigenem Bekunden mehr Bedeutung zumaß als der Produktion von Panzern. Für ihn waren "Schriftsteller die Ingenieure der menschlichen Seele". Schuf jedoch jemand ein Werk, das dem Tyrannen nicht zusagte, fiel der Künstler in Ungnade, wie hier Dmitri Schostakowitsch und dessen Oper "Lady Macbeth". Unter Stalin erlebte die russische Folklore eine eigentümliche Renaissance, waren doch das russische Dorf vernichtet, die - vor allem ukrainischen - Bauern vom Golodomor, der Hungersnot, dahingerafft. "Hundert Jahre Revolution" will die bis heute anzutreffende autoritäre Staatstradition in Russland erklären. Präsident Putin fordere die sowjetische Vergangenheit zurück. Er leugne nicht die Geschichte, wolle aber die Aufmerksamkeit auf Kapitel lenken, auf die Russland seit 1917 stolz sein könne. Dass Stalins Terror 10 bis 30 Millionen Menschen das Leben gekostet hat, ist den Russen bekannt, trotzdem akzeptieren sie noch heute den bolschewistischen Gedanken, dass massive staatliche Gewalt zu rechtfertigen sei, wenn man die Ziele der Revolution erreichen wolle. 42 Prozent wünschen sich einen Führer wie Stalin. Eine unerklärliche Verwirrung stiftet Figes zu Beginn:
    "Ungeachtet seiner jüngsten Intervention in der Ukraine ist Russland nicht länger die aggressive Bedrohung, die es einst für den Westen darstellte, wenngleich es auf seine Nachbarstaaten aus der ehemaligen Sowjetunion anders wirken mag. Es zettelt keine ausländischen Kriege mehr an."
    Ein erstaunlicher Satz in einem Russland-Buch, das in englischer Sprache 2014 entstand, als die Krim längst annektiert und der Krieg in der Ostukraine im Gang war. Auch, weil Figes den Gedanken nicht ausführt, hätte er besser auf ihn verzichtet. Sein Buch ist dennoch lesenswert, nicht zuletzt weil es die bis heute akzeptierte Gewalt durchgängig thematisiert. Die Schuldigen wurden in Russland bislang weder benannt noch bestraft. Orlando Figes hat ein immenses Wissen angehäuft, das er gekonnt vermarktet. Früher als alle anderen hat er den hundertsten Jahrestag der Oktoberrevolution 2017 im Blick, auf dieses Datum zielt das Buch. Das geht in Ordnung, denn er tut es mit Gewinn für alle.
    Orlando Figes: Hundert Jahre Revolution. Russland und das 20. Jahrhundert. Hanser Verlag Berlin, Übersetzung: Bernd Rullkötter, 383 Seiten, 26 Euro.