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Buch von András Schiff
Abseits autobiografischer Eitelkeit

Er ist einer der bedeutendsten Pianisten der Gegenwart, aber bezieht auch neben der Bühne klar Position: der gebürtige Ungar András Schiff. Mit seinem neuen Buch "Musik kommt aus der Stille" bietet der Musiker reichlich Substantielles - über Komponisten, Werke, das Leben als Musikinterpret und vor allem über sich selbst.

Von Christoph Vratz | 08.05.2017
    Der Pianist András Schiff
    Der Pianist András Schiff (imago stock&people)
    "Die neuesten Nachrichten sind recht alarmierend", das schreibt der Pianist András Schiff am 1. Januar 2011 in einem Leserbrief an die "Washington Post" über sein Herkunftsland Ungarn.
    "Das Toleranzniveau der Bevölkerung liegt extrem tief. Rassismus […], Antisemitismus, Fremdenhass […] und reaktionärer Nationalismus – beängstigende Symptome. Sie wecken Erinnerungen, welche wir gehofft hatten, sie längst vergessen zu haben. Viele Menschen leben in Angst."
    Dieser Brief hatte damals für "stürmische Reaktionen" gesorgt, doch die weiteren Entwicklungen haben gezeigt, das Schiff mit seinen Beurteilungen nicht völlig falsch gelegen hat, sodass er auch in den nachfolgenden Jahren bei verschiedenen Gelegenheiten seine Position öffentlich gemacht hat. Diese Texte hat Schiff nun in einem durchgehenden Artikel zusammengestellt und mit einem kleinen Nachtrag aktualisiert. Dieser Text mit dem Titel "Ungarn – ungern" bildet den Auftakt zum zweiten Teil des neuen Buches "Musik kommt aus der Stille". Der erste Teil enthält auf rund 100 Seiten Gespräche zwischen Schiff und Martin Meyer, dem ehemaligen Feuilleton-Chef der "Neuen Zürcher Zeitung". Bereits vor zehn Jahren haben sie gemeinsam einen Gesprächsband über die 32 Klaviersonaten Beethovens veröffentlicht, der bis heute nichts von seiner Gültigkeit verloren hat.
    Über Geheimnisse und Magie
    Jetzt unterhalten sie sich über Musik und Interpretation im Allgemeinen, über die Geheimnisse von Klavieren und die Magie der Kammermusik, über den Musikbetrieb und die Qualität von Unterricht. So erklärt András Schiff beispielsweise, inwieweit ihn historische Flügel auch für das Spiel auf modernen Instrumenten beeinflusst haben.
    "Nehmen wir die berühmten Bass-Triller im Kopfsatz der späten B-Dur-Sonate von Schubert. Das Ziel ist, dass wir weniger Musik als gefährliche Geräusche vor dem Sturm vernehmen sollen. Allerdings: wie aus der Ferne. Auf meinem historischen Brodmann-Flügel von 1820 klingt das sehr transparent und äußerst leise, und daraus lernte ich, wie ich denselben Effekt auch auf einem modernen Flügel erzeugen kann."
    Franz Schubert, Klaviersonate B-Dur D 960, András Schiff (Fortepiano)
    Es sind konkrete Passagen wie diese, die unsere Ohren als Leser bzw. Hörer öffnen und sozusagen schärfen für Details. Das Beispiel zeigt, dass dieses Buch nie an der Oberfläche bleibt, selbst wenn Meyer und Schiff über einzelne Komponisten sprechen. So stellt Schiff etwa Robert Schumann als einen grundlegenden Erneuerer der Musik da, der die traditionellen Formen und Gattungen entscheidend weiterentwickelt hat. Noch deutlicher ist sein Plädoyer für die oft unterschätzten späten Werke Schumanns:
    "Das Spätwerk ist herrlich und muss verteidigt werden gegen das Verdikt, dass es minderwertig sei. Leider haben auch Clara Schumann und Brahms diesem Vorurteil Vorschub geleistet und Werke für die Aufführungen gesperrt oder gar Manuskripte verbrannt. Schlimm! So bleibt an Schumann leider auch das Etikett des Verrückten hängen."
    Eine Reihe von erhellenden Beobachtungen zu Komponisten und einzelnen Werken
    Schiff mahnt, dass man die Werke Schumanns nicht zu vorsichtig spielen dürfe und durchaus das Risiko suchen solle, selbst wenn man nicht alle Töne genau trifft. In diesem Zusammenhang erinnert er an Klavierabende mit Annie Fischer und Sviatoslav Richter:
    "Da stimmte gar nichts; dennoch war die ganze Gestik großartig, besser als nur die richtigen Noten."
    Robert Schumann, Fantasie C-Dur op. 17, András Schiff (Klavier)
    Ob Hinweise zur Artikulation, zum angemessenen Tempo oder zum Pedalgebrauch – dieses Buch bietet eine Reihe von erhellenden Beobachtungen zu Komponisten und einzelnen Werken. Besonders eindringlich aber ist der Gesprächsteil über die eigene Vita. Dort erzählt Schiff so ausführlich wie nie zuvor über seine Kindheit und Jugend, über seinen Halbbruder, der in Auschwitz ermordet wurde, über die eigene, schwierige Geburt, über den frühen Tod des Vaters, über seine jüdische Herkunft und das Leben im Kommunismus des Nachkriegs-Ungarn. Sehr konkret spricht Schiff über die Eigenschaften seiner Eltern und – ins Allgemeinere gewendet – über sein Verhältnis zur Religion.
    "Nach dem Holocaust schworen wir der Religiosität ab, schließlich hatte sie uns in der Katastrophe nicht geholfen […] Wo war Gott in Auschwitz? […] Das war die große Frage, und sie bleibt natürlich bis heute für uns alle eine eminente Herausforderung. Damit werden wir nie fertig."
    Teilweise schockierenden Ehrlichkeit
    Schiff erzählt mit einer teilweise schockierenden Ehrlichkeit: etwa wie er bei Prüfungen gegen den Widerstand seiner Lehrer zu kämpfen hatte oder wie er später in Amerika aus Geldmangel im Schlafsack und von McDonald‘s-Futter gelebt hat. Die Essays im zweiten Teil des Buches basieren auf Booklet-Texten von CD-Produktionen, Programmheft- oder Zeitschriften-Publikationen. Inhaltlich sind sie weit gefächert, sie behandeln ein spätes Beethoven-Quartett ebenso wie Schuberts Es-Dur-Klaviertrio, es gibt Ausführungen zu Béla Bartók am Klavier und Erinnerungen an Rudolf Serkin sowie kritische Gedanken über Musikwettbewerbe:
    "Akrobatik und Makellosigkeit zählen in der Kunst kaum zu den bewundernswerteren Tugenden, als Eigenwert rühren sie unsere Seele nicht. Wesentlich schwerer sind indes andere, subjektive Elemente der Interpretationskunst zu beurteilen. Dazu gehören die Intonation, die Klangqualität, der Rhythmus. Und da schon scheiden sich die Geister […] Die Auffassung eines Werkes, die Wahl der Tempi, der Tonfolge und Charakter eines Stückes – bei diesen Begriffen klaffen die Meinungen dermaßen auseinander, dass man von allgemeinen Werten und Kriterien gar nicht mehr reden kann."
    Unter dem Strich zählt dieses Buch zu jenen Veröffentlichungen, die nicht der autobiografischen Eitelkeit dienen, sondern dem Leser reichlich Substantielles vermitteln - über Komponisten und ihre Werke, über das Leben als Musikinterpret von heute und, an erster Stelle, über den Menschen András Schiff.
    András Schiff: "Musik kommt aus der Stille. Gespräche mit Martin Meyer. Essays"
    Henschel Verlag / Bärenreiter Verlag, 253 Seiten, 24,95 Euro.