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Buchautor Daniel Schreiber
"Wir spüren eine große kollektive Entwurzelung"

Mit seinem Essay "Nüchtern" hat der Autor Daniel Schreiber 2014 einen Bestseller gelandet. In seinem neuen Buch spürt er dem schillernden Begriff "Zuhause" nach und verbindet das mit seiner eigenen Geschichte. Als Schwuler habe er nicht in die Kreise gepasst, in die er hineingeboren wurde, sagte Schreiber im DLF.

Daniel Schreiber im Corso-Gespräch mit Achim Hahn | 24.02.2017
    Ein blaues Straßenschild auf dem in weißen Buchstaben "Daheim" steht.
    "Mein Eindruck war, dass, wenn Leute 'Heimat' sagen, sie eigentlich 'Zuhause' meinen", sagte Daniel Schreiber im DLF (imago/ Priller & Maug)
    Achim Hahn: Es ist ein sehr persönliches Buch, in dem Daniel Schreiber von seinen sehr schlechten Kindheitserfahrungen in der ehemaligen DDR erzählt, von seinen Erfahrungen in New York, Berlin oder London. Von den Erlebnissen seiner Urgroßmutter. Von seinem schmerzhaften Ringen, um so etwas wie Zufriedenheit zu erreichen, die er letztlich auch mit dem Gefühl des Zuhause-Seins verbindet. Das aber sei gerade in unserer heutigen Zeit der Entwurzelung ein großes Problem. "Zuhause - Die Suche nach dem Ort, an dem wir leben wollen" heißt sein Buch. Und in Berlin, seinem derzeitigen Wohnsitz, begrüße ich nun Daniel Schneider. Schönen guten Tag.
    Daniel Schreiber: Hallo.
    Hahn: Herr Schreiber, früher war Zuhause ein Ort, von dem man kam. Und was ist es heute?
    Schreiber: Ich glaube, heute ist es ein Ort, den wir uns suchen und den wir uns erarbeiten müssen, zu einem gewissen Grad. Das war früher anders, wo man in bestimmte Zirkel, in bestimmte soziale Schichten hineingeboren wurde und denen auch gefühlsmäßig verhaftet blieb, auch sein ganzes Leben lang. Heute ziehen die meisten von uns mehrmals in ihrem Leben um. Viele von uns haben in anderen Ländern gelebt für eine gewisse Zeit. Und selbst die Leute, die an ihrem "Heimat-Ort" sozusagen wohnen bleiben, müssen auch diese Entscheidung treffen, das zu tun und müssen sich auch bestimmte soziale Kontexte, bestimmte Beziehungen suchen. Alles in allem kann man tatsächlich sagen, dass eine große Veränderung stattgefunden hat in unserem kollektiven Gefühl von Zuhause oder was es bedeutet, zu Hause zu sein.
    "Ein Ort, den wir uns erarbeiten müssen"
    Hahn: Dazu kommen wir gleich. Wie war es denn eigentlich für Sie persönlich?
    Schreiber: Für mich persönlich war es eine sehr schwierige Entwicklung. Sie haben eben schon bestimmte Stationen in meinem Leben angesprochen, die es für mich tatsächlich nicht so einfach gemacht haben, mich zu Hause zu fühlen. Dazu zählt, in Mecklenburg-Vorpommern in einem sehr kleinen Dorf aufzuwachsen als Kind, dem man ansieht, dass es einmal schwul werden würde. Und das war tatsächlich keine schöne Erfahrung, die mich sehr lange beeinflusst hat. Und das ist natürlich auch eine Erfahrung, die sehr viele schwule Männer machen oder die sehr viele andere Menschen machen, die anders sind und die nicht in die Kreise passen, in die sie hineingeboren wurden. Und das habe ich als eine Erfahrung von Zuhauselosigkeit wahrgenommen, eine grundsätzliche Erfahrung von Zuhauselosigkeit, die mich mein Leben lang begleitet hat.
    Hahn: Sie haben dann an den unterschiedlichsten Sehnsuchtsorten gelebt. Was hat Sie denn davon abgehalten, sich zuhause zu fühlen? Haben Sie das herauskriegen können beim Schreiben Ihres Buches?
    Autor und Journalist Daniel Schreiber
    Autor und Journalist Daniel Schreiber (Olaf Becker)
    Schreiber: Ich muss dazu sagen, das Buch ist ein literarischer Essay. Das heißt, es erzählt meine persönliche Geschichte und beschreibt eine kollektive Entwicklung mithilfe von vielen philosophischen Ideen, von psychoanalytischen Ideen, von soziologischen Ideen. Ich habe mich für diese Form des Schreibens entschieden, weil ich glaube, dass einfach ein Sachbuch zu schreiben über "Wie sieht Zuhause heute aus?", was dann auch schön geschrieben sein kann, dass Leser das nicht wirklich erfahren können. Und mein Eindruck ist es, wenn man es mit einer persönlichen Geschichte verbindet, dass der Leser automatisch darüber nachdenkt: Wie sieht es bei mir aus? Wie fühle ich mich eigentlich zu Hause? Muss ich eigentlich etwas anderes machen, um mich zu Hause zu fühlen?
    Zuhause ist augenscheinlich so ein banales Thema, worüber viele von uns gar nicht nachdenken, weil wir alle glauben, es müsste selbstverständlich sein, es müsste sich selbstverständlich einstellen. Und gleichzeitig spüren wir aber eine große Entwurzelung. Und diese Entwurzelung ist, glaube ich, das große kollektive Motiv momentan, was überall auftaucht und was uns in verschiedenen Formen begegnet- einige davon schön und einige davon sehr bedrohlich, vor allem, wenn man an die Politik denkt.
    Heimat oder Zuhause?
    Hahn: Da ist ja auch der Begriff des Zuhauses in Verbindung mit dem Begriff Heimat. Aber das ist nicht dasselbe. Worin besteht denn da für Sie der Unterschied?
    Schreiber: Mein Buch sollte eigentlich "Heimat" heißen, als ich angefangen habe zu schreiben. Und im Laufe der Beschäftigung mit dem Thema ist mir klar geworden, dass das nicht geht. Zum einen, weil mein Eindruck war, dass, wenn Leute "Heimat" sagen, sie eigentlich "Zuhause" meinen. Also der Begriff eigentlich gar nicht das beschreibt, was wir damit ausdrücken wollen. Und zum anderen, weil der Begriff eine sehr komplizierte Begriffsgeschichte hat. Das kann man bis ins späte 18. Jahrhundert zurückverfolgen, wo der Heimat-Begriff zum ersten Mal diese romantische Aufladung erfuhr, die er heute noch hat. Und schon damals beschrieb er etwas, was schon lange verloren war. Und etwas, was es so nie wirklich gegeben hat.
    Der Heimat-Begriff damals und die Aufwertung dieses Begriffs war eine Reaktion auf Landflucht, auf Industrialisierung, auf ein politisches Klima, wo in verschiedenen europäischen Kriegen Kleinstaaten immer wieder neue Identitäten aufgesetzt wurden. Und da kam es schon zu dem ersten Kotenpunkt dieser Nostalgie und dieser vermeintlichen Erinnerungen. Dieses Phänomen kann man eigentlich in der ganzen Begriffsgeschichte des Heimat-Konzepts nachverfolgen. Wir kennen alle die politischen Färbungen, die der Begriff eingenommen hat, wenn man an das Dritte Reich denkt, wenn man auch an die Nachkriegszeit in West-Deutschland und die Heimatfilme denkt. Und diese Idee von Heimat als so einem irrealen Sehnsuchtsort hat sich, glaube ich, mitgetragen und wir laufen immer wieder in eine Falle, wenn wir diesen Begriff gebrauchen, um damit unser Bedürfnis nach einem Zuhause auszudrücken.
    Hahn: Ist dann deshalb der Begriff "Zuhause" der einfachere, bessere, persönlichere, individuellere Begriff?
    Schreiber: Ich glaube, ja. Ich muss da oft an den Philosophen Vilém Flusser denken, den ich auch im Buch zitiere und der immer meint, dass Menschen generell glauben, Heimat sei etwas Beständiges und Zuhause sei etwas, das sich ändern würde. Und der den Eindruck hatte, dass das ein sehr großer Irrtum ist, weil es in der Tat so ist, dass wir immer ein Zuhause haben werden. Wir werden immer die Möglichkeit haben, uns ein Zuhause zu bauen - egal, in welchem Staat wir leben, in welchen Grenzen wir leben. Und die Heimat und die damit verbundenen nationalen Identitäten, die damit verbundenen Grenzen, die verändern sich sehr viel schneller, als wir glauben wollen. Staaten brechen viel einfacher zusammen, als wir glauben wollen. Unsere Freiheiten, bestimmte Rechte, die wir haben, werden viel einfacher zurückgenommen, als wir glauben wollen. Und Ansätze davon erleben wir ja momentan auch politisch.
    "Zuhauseloses Zuhause" in Großstädten
    Hahn: Jetzt sind Sie mir vorhin in meiner Frage ein bisschen ausgewichen, als ich Sie gefragt habe bezüglich der Sehnsuchtsorte, an denen Sie gelebt haben, die ja für alle Menschen irgendwie eine sehr positive Erfahrung sind. Und da sind Sie eigentlich nie zu Hause angekommen. Sie haben sich nicht zu Hause gefühlt. Was haben Sie da erfahren, dass Sie sich nicht zu Hause fühlen konnten? Sind das persönliche Erfahrungen oder tatsächlich kollektive Erfahrungen, wie Sie ja meinen?
    Schreiber: Mit den Sehnsuchtsorten meinen Sie …
    Hahn: Zum Beispiel New York, London.
    Schreiber: Ich habe in New York studiert und habe dort meinen ehemaligen Partner kennengelernt und habe dann den größten Teil meiner 20er dort verbracht. Und ich beschreibe auch im Buch tatsächlich, dass ich mich da eigentlich zum ersten Mal wirklich zu Hause gefühlt habe, weil ich eine bestimmte Zukunft vor Augen hatte mit meinem Partner, weil ich mich sehr frei gefühlt habe - auch als schwuler Mann in diesem selbstverständlichen Schwulen-Leben in New York, das es schon sehr viele Jahrzehnte gegeben hat. Und im Buch beschreibe ich diese Art von Zuhause als eine Art "zuhauseloses Zuhause", was vielleicht paradox klingt, aber was viele Menschen erleben, glaube ich, gerade die in große Städte ziehen, gerade die Leute, die bestimmte Lebensabschnitte eingehen, in denen sie etwas für sich herausfinden müssen, in den sie bestimmte Erfahrungen verarbeiten müssen. In denen sie bestimmte Freiräume für sich erschaffen müssen, wo es möglich ist, diese Erfahrungen zu verarbeiten.
    Deswegen - es trifft es nicht ganz, dass ich mich dort nicht zu Hause gefühlt habe. Und auch in London, wo ich viel Zeit verbringe, gibt es auch immer wieder diese Gefühle von Zuhause und dieses Gefühl von "eigentlich möchte ich hier wohnen". Das war ein Grund, warum ich dieses Buch geschrieben habe für mich persönlich, weil ich herausfinden wollte: Was ist es eigentlich und was steckt dahinter? Und fühle ich nicht eigentlich eine grundsätzliche Zuhauselosigkeit? Oder ein existentielles Heimweh sozusagen?
    Persönliche Erlebnisse oder kollektive Erfahrung?
    Hahn: Ich habe beim Lesen den Eindruck gehabt, es sind sehr, sehr persönliche Erlebnisse und Gedanken, die vielleicht nicht unbedingt übertragbar sind. Und trotzdem sagen Sie, das ist wohl auch eine kollektive Erfahrung. Worin besteht die denn?
    Schreiber: Die kollektive Erfahrung, die das Buch angeht, ist eine kollektive Erfahrung von Entwurzelung. Und diese Entwurzelung - ich glaube, damit kann jeder schon intuitiv etwas anfangen, weil jeder diese Erfahrung macht. Viele meiner Freunde leben provisorische Leben. Leben Leben, von denen sie denken, sie fangen irgendwann mal wirklich an. Und was man so macht, im jetzigen Leben, ist nur ein Vorspiel für die eigentliche Zeit, die später beginnt. Entwurzelung ist eine Erfahrung, die nicht nur Flüchtlinge machen, sondern die wir alle zu einem gewissen Grad machen, wenn wir nicht mehr an den Orten leben, in denen wir geboren wurden. Entwurzelung ist eine Erfahrung, die eine sehr viel größere Reichweite heute erfährt als noch vor 15 Jahren. Es gibt eine Uno-Studie, die festgestellt hat, dass heute 40 Prozent mehr Leute in anderen Ländern leben als denen, in denen sie geboren wurden, als noch vor 15 Jahren.
    Sie haben Recht, dass ich sehr persönliche Erfahrungen beschreibe, die vielleicht nicht jeder macht. Aber ich glaube, dass das sehr wichtig ist, diesen ehrlichen Blick schreibend anzugehen, damit Leute sich identifizieren können damit. Und damit sie sich selbst fragen: Wie ist es bei mir?
    Hahn: Daniel Schreiber, vielen Dank für dieses Corso-Gespräch. Der Essay heißt "Zuhause - Die Suche nach dem Ort, an dem wir leben wollen" und ist im Hanser-Verlag erschienen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Daniel Schreiber: "Zuhause - Die Suche nach dem Ort, an dem wir leben wollen". Verlag Hanser Berlin 2017. Gebunden, 143 Seiten, 18€